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Wal-Kognition: Mit Köpfchen durch die Wellen 

In zahlreichen Studien haben Wale und Delfine ihre erstaunlichen geistigen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Inzwischen gibt es sogar Hinweise darauf, dass sich die Meeressäuger nicht nur in Artgenossen, sondern auch in uns Menschen mental einfühlen können und ihr Verhalten danach ausrichten.
Zwei Delfine schwimmen nebeneinander im blauen Wasser, sie schauen neugierig in die Kamera.
Es ist wohl kein Zufall, dass sich gerade Tiere mit einem ausgefeilten Sozialleben durch besonders viel »Köpfchen« auszeichnen – wie die Großen Tümmler (Tursiops truncatus) auf diesem Bild.

Fabian Ritter steht oft unter genauer Beobachtung. Und anders, als man vermuten könnte, freut er sich darüber immer wieder. Seit fast 30 Jahren erforscht der Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins M.E.E.R. aus Berlin das Verhalten der Wale und Delfine vor der Kanaren-Insel La Gomera, beobachtet die Tiere – und wird von ihnen häufig ebenso interessiert beäugt. Aus eigener Anschauung weiß er, wie aufgeschlossen und neugierig sie sind. »Wenn man einem Delfin ins Auge schaut, der unter einem in der Bugwelle schwimmt, dann hat man den Eindruck: Da geht einiges in ihm vor«, sagt der Biologe. »Offenbar hat er genauso viel bewusstes Interesse an uns wie wir an ihm.« 

Was mag sich dabei im Kopf des Tieres abspielen? Wie gut kann es die Situation einschätzen? Und woher kommt sein Interesse an den zweibeinigen Nachbarn, die mit Booten in seinem Lebensraum unterwegs sind? Für Fabian Ritter sind das faszinierende Fragen, mit denen er sich seit Jahren beschäftigt.

Von Spiegeln und Innovationen

Tatsächlich schneiden Wale und Delfine in Experimenten zur Kognitionsforschung regelmäßig sehr gut ab. Dieser Wissenschaftszweig untersucht eine breite Palette von geistigen Leistungen – vom Lernen und Erinnern über die Fähigkeit, zu planen, Probleme zu lösen und kreativ zu werden, bis hin zur Wahrnehmung des eigenen Ichs. 

Für Letzteres gibt es einen klassischen Test, der bereits mit zahlreichen Tierarten durchgeführt wurde. Dabei malt man den Kandidaten unbemerkt einen Farbklecks auf die Stirn, den sie ohne Hilfsmittel nicht sehen können, und konfrontiert sie dann mit ihrem Spiegelbild. Die Vertreter einiger Arten wie etwa Elefanten oder Schimpansen wischen sich daraufhin die Markierung ab. Sie scheinen also sehr genau zu wissen, dass ihnen aus dem reflektierenden Glas nicht etwa ein fremder Artgenosse entgegenschaut, sondern sie selbst. Menschliche Kleinkinder bestehen diesen Test im Alter von etwa zwei Jahren. 

Themenwoche: Faszination Wale & Delfine

Gruppe neugieriger Schwarzdelfine

Wale und Delfine haben die Menschen seit jeher fasziniert. Einst schrieb man ihnen gar übernatürliche Kräfte zu. Heute weiß man viel mehr über ihre Lebensweise – dank moderner Methoden wie der künstlichen Intelligenz. Mit Ihrer Hilfe versuchen Forschende zu ergründen, was sich Buckelwale und Co zu sagen haben. Und warum tragen Orcas mitunter tote Lachse auf ihrem Kopf herum? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert »Spektrum.de« in einer Themenwoche.

Wal-Kognition: Mit Köpfchen durch die Wellen

Whalewatching: Zu Gast auf dem Meer

Orcas: Trendsetter der Ozeane

Wal-Kommunikation: Pfiffe, Klicks und Gesänge

Sprache der Schwertwale: »Eine Funktion der Dialekte besteht wohl darin, Inzucht zu vermeiden«

Ernährungsweise: Das Geheimnis der Buckelwale

Alle Inhalte zur Themenwoche »Faszination Wale & Delfine« finden Sie auf unserer entsprechenden Themenseite.

Auch Delfine zeigen immer wieder großes Interesse an Spiegeln und scheinen sogar aktiv davor zu posieren. Allerdings besitzen sie keine Gliedmaßen, mit denen sie eine Markierung auf ihrem Körper berühren oder wegwischen könnten. Deshalb hat ein Team um Alina Loth von der University of St Andrews in Großbritannien für sie eine abgewandelte Form des Tests entwickelt: Große Tümmler bekamen um das eine Auge einen gelben Kreis gemalt und um das andere einen transparenten. Daraufhin drehten sie sich vor dem Spiegel so, dass sie den auffälligen Augenring gut inspizieren konnten. Für ähnliche Markierungen bei anderen Artgenossen interessierten sie sich dagegen kaum. Daraus schließen die Forscherinnen und Forscher, dass sich Delfine im Spiegel erkennen – und durchaus einen Unterschied zwischen sich selbst und anderen machen. 

Solche hoch entwickelten geistigen Talente zeigen sie auch in anderen Bereichen. So hat ein Rauzahndelfin namens Malia in einem Ozeanarium auf Hawaii schon in den 1960er Jahren eine erstaunliche Kreativität an den Tag gelegt. Eigentlich wollten die Trainer dem Publikum dort nur demonstrieren, wie man so einem Meeressäuger neue Verhaltensweisen beibringt: Wenn das Tier etwas Erwünschtes tat, signalisierten sie das mit einem kurzen Pfiff und spendierten dann einen Leckerbissen. Das belohnte Verhalten war dabei allerdings immer wieder ein anderes – und daraus zog das Weibchen wohl seine eigenen Schlüsse: Offenbar verlangte man von ihm, immer mal wieder etwas Neues zu präsentieren. 

»Wenn man einem Delfin ins Auge schaut, der unter einem in der Bugwelle schwimmt, dann hat man den Eindruck: Da geht einiges in ihm vor«Fabian Ritter, Meeresbiologe

Zur Verblüffung von Trainern und Publikum bot Malia daraufhin eine selbst erfundene Performance an: Sie schwamm in rasantem Tempo durchs Becken, drehte sich dann auf den Rücken, streckte die Schwanzflosse senkrecht in die Luft und ließ sich ohne weitere Schwimmbewegungen durchs Wasser trudeln. Da sie dafür natürlich eine Belohnung bekam, zeigte sie später noch weitere innovative Schwimmfiguren. Mal rollte sie in schraubenförmigen Bahnen durchs Wasser, mal streckte sie am Grund des Beckens den Bauch nach oben und zeichnete mit der Rückenflosse geschwungene Linien in den Schlamm. 

Andere Delfinarten wie Große Tümmler und Orcas haben inzwischen ihre Kreativität gleichermaßen unter Beweis gestellt. Sie können lernen, dass ein bestimmtes Signal ihres Trainers bedeutet: »Mach etwas, was du vorher noch nicht gemacht hast.« Um Erfolg zu haben, müssen die schwimmenden Versuchsteilnehmer also nicht nur das Konzept von »neu« begreifen. Sie müssen sich zudem daran erinnern, was sie schon gemacht haben und was nicht.

Offenbar haben Wale und Delfine im Laufe ihrer Evolution ein Talent für Innovationen entwickelt. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ein flexibles Verhalten in verschiedenen Situationen von Vorteil ist. Zum Beispiel dann, wenn man vor einem neuen Problem steht, für das man eine Lösung entwickeln muss. Auch solche Aufgabenstellungen sind in der Kognitionsforschung gang und gäbe. Oft wird den tierischen Probanden dabei eine ihnen unbekannte Apparatur präsentiert, aus der sie mit allerlei Tricks Futter herausholen können. Und dabei schneiden Delfine ebenfalls häufig sehr gut ab.

Spontane Zusammenarbeit

Ein Team um Eszter Matrai von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest hat beispielsweise Futterbehälter aus Plastikröhren gebastelt, die sich nur durch gleichzeitiges Ziehen an drei oder vier Seilen öffnen ließen. Um an die Leckerbissen im Inneren heranzukommen, mussten sich also mehrere Tiere zusammentun. Das durchschauten die getesteten Großen Tümmler mühelos: Ohne besonderes Training bildeten sie Arbeitsgruppen, die in acht von zehn Versuchen auch tatsächlich zum Erfolg kamen (siehe Bild »Teamwork«). 

»Solche Experimente zur Kognitionsforschung hat man vor allem in Delfinarien gemacht«, sagt Fabian Ritter. Allerdings sorge die Haltung in Gefangenschaft für ethische Probleme. In der Natur sei es jedoch viel schwieriger, die geistigen Fähigkeiten von Meerestieren zu untersuchen. Etliche Beobachtungen aber zeigen, dass die Bewohner des offenen Ozeans genauso einfallsreich sind wie ihre Artgenossen in menschlicher Obhut. 

Teamwork | Eszter Matrai vom Ocean Park Hong Kong sowie der Eötvös-Loránd-Universität und ihre Kollegen verwendeten eine Vier-Wege-Vorrichtung, in der sich Fisch befand. Der Behälter konnte nur geöffnet werden, wenn vier Große Tümmler gleichzeitig an den Seilen zogen.

Die Großen Tümmler in der Shark Bay in Australien sind zum Beispiel für eine ungewöhnliche Form des Werkzeuggebrauchs bekannt. Bevor sie am Meeresboden nach Fischen stöbern, rupfen sie einen Schwamm ab und stülpen ihn sich über den Schnauze. Das soll wohl verhindern, dass sie sich bei der Suche nach Beute an scharfkantigen Korallen verletzen. Die Gruppe in der Shark Bay ist die einzige weltweit, bei der dieses Verhalten bisher beobachtet wurde. »Das hat sicher ökologische Gründe«, meint Fabian Ritter. Der dortige Lebensraum bietet eben nicht nur das spezielle Problem der störenden Korallen, sondern auch gleich eine Lösung in Form eines weichen Nasenschutzes. »Es liegt aber auch daran, dass die Tiere eben nur dort eine solche Tradition entwickelt haben.« 

Überhaupt scheinen Wale und Delfine von Traditionen einiges zu halten. Vor allem, wenn es ums Fressen geht. So haben Orcas in der Antarktis eine eigene Form der Robbenjagd entwickelt. Wie raffiniert sie dabei vorgehen, hat die neuseeländische Biologin Ingrid Visser schon mehrfach beobachtet.

»Es gibt noch viele andere raffinierte Jagdtechniken, die wir erst allmählich entdecken«Ingrid Visser, Meeresbiologin

Erst einmal suchen sich die schwarz-weißen Jäger ein geeignetes Opfer aus, das auf einer Eisscholle ruht. Als hätten sie sich verabredet, schwimmen sie dann gemeinsam schnell darauf zu. Dadurch erzeugen sie Wellen und versuchen so, die Scholle zu zerbrechen. Je kleiner diese wird, umso eher verliert die Robbe den Halt. Zwischendurch streckt immer wieder einmal ein Orca den Kopf aus dem Wasser und dreht das Eis in eine günstige Position für den nächsten Wellenangriff. Liegt das anvisierte Opfer nach etlichen Versuchen immer noch oben, greifen die Tiere zu Plan B. Sie steigern ihr Schwimmtempo und erzeugen so noch höhere Wellen, die schließlich die eisige Zuflucht überspülen und auch die hartnäckigste Robbe ins Wasser reißen.

»Diese Taktik kann nur funktionieren, wenn die Orca-Gruppe sehr gut aufeinander eingespielt ist«, sagt Ingrid Visser. Ein derartiges Teamwork müssen die Tiere allerdings üben. Deshalb wird nicht jede vom Eis geholte Beute sofort gefressen. Oft lassen die Orcas ihr Opfer zunächst scheinbar entkommen. Sobald es voller Panik wieder auf eine Scholle geklettert ist, beginnen die Wellenattacken von vorn – bis die Trainingseinheit für diesen Tag abgeschlossen und das Robbenschicksal besiegelt ist. »Es gibt noch viele andere raffinierte Jagdtechniken, die wir erst allmählich entdecken«, sagt Visser. Und das gilt nicht nur für Orcas.

Andere Delfinarten setzen zum Beispiel auf selbst gebaute Fallen, um Beute zu machen. So haben die Großen Tümmler in der Florida Bay und in der Bucht von Chetumal im Grenzgebiet zwischen Mexiko und Belize das »Mud Ring Feeding« erfunden (siehe Bild »Ring aus Schlamm«). Dabei treiben die Tiere zunächst mit vereinten Kräften einen Fischschwarm zusammen. Dann schwimmt einer dicht am Boden ringsherum und wirbelt mit kräftigen Schlägen der Schwanzflosse den Schlamm auf. Immer enger zieht er seine spiralförmige Bahn um die angepeilte Beute und schließt sie so in einer Art Netz aus Schlamm ein. Es gibt nur eine Richtung, in der die Opfer daraus entkommen können: nach oben. Wenn schließlich auch noch einer der raffinierten Jäger mitten in den Schwarm hineinschwimmt und zusätzliche Panik verbreitet, nutzen die Fische ihre vermeintlich letzte Chance und springen aus dem Wasser – praktisch direkt ins Maul der ringsum lauernden Delfine.

Auch Buckelwale greifen zu einer ähnlichen Taktik. Allerdings bestehen ihre Netze nicht aus Schlamm, sondern aus Luftblasen. Bei diesem »Bubble Net Feeding« taucht ein Tier zunächst unter einen Krill- oder Fischschwarm. Dann steigt es wieder auf, umkreist die Beute und entlässt dabei einen kontinuierlichen Luftstrom. So entsteht ein Vorhang aus Luftblasen, den die Opfer nicht durchqueren. Dabei ist es immer derselbe Wal, der für seine Gruppe die Konstruktion der Falle übernimmt. Und es ist auch immer derselbe »Trompeter«, der mit unheimlich klingenden Rufen unter den Fischen weitere Verwirrung stiftet. »Es gibt nur wenige Tiere, bei denen sich die Mitglieder einer Jagdgesellschaft auf unterschiedliche Rollen spezialisieren«, sagt Fabian Ritter. »Dazu gehören außer den Meeressäugern zum Beispiel Wölfe, Löwen und Schimpansen.« 

Was denkst du?

Es ist wohl kein Zufall, dass sich gerade Tiere mit einem ausgefeilten Sozialleben auch durch besonders viel »Köpfchen« auszeichnen. Denn das Leben in der Gemeinschaft bringt alle möglichen geistigen Herausforderungen mit sich. Man muss unter anderem gut kommunizieren können und sich in einem Geflecht von sozialen Beziehungen zurechtfinden, das sich jeden Tag verändern kann. »Dazu sollte man wissen, wie die anderen ticken«, erklärt Fabian Ritter. Wer nimmt welche Rolle bei der Jagd ein? Auf wen kann ich mich verlassen? Wer ist ein guter Kumpel, und wer kann mir gefährlich werden? Solche Fragen beantworten zu können, ist für soziale Tierarten lebenswichtig. Möglicherweise haben sie sogar eine »Theory of Mind«: eine Vorstellung davon, was mental in anderen vorgeht. 

Bei Walen und Delfinen hält Fabian Ritter es durchaus für möglich, dass sich dieses Einschätzungsvermögen nicht nur auf die eigenen Artgenossen bezieht. Können sie vielleicht sogar erahnen, wie Menschen ticken? Tatsächlich gibt es dafür einige Indizien. Zum Beispiel wissen Delfine durchaus, ob Menschen ihnen gerade Aufmerksamkeit schenken oder nicht – und ziehen ihre Schlüsse daraus. Das zeigt ein Experiment, das James Davies von der University of Cambridge in Großbritannien und Elias Garcia‑Pelegrin von der National University of Singapure 2023 mit acht Großen Tümmlern gemacht haben.

»Das ›Wir‹ bestimmt ihr ganzes Leben und damit auch ihr Bewusstsein«Fabian Ritter, Meeresbiologe

Ihr Trainer stellte den Tieren jeweils die Aufgabe, einen bestimmten Gegenstand zu holen. Während die Delfine dem nachgingen, schaute er mal halb zur Seite und mal in eine ganz andere Richtung. Dann wieder drehte er ihnen das Gesicht direkt zu, entweder mit offenen oder mit geschlossenen Augen. Was das bedeutete, war den Delfinen offenbar durchaus klar. Jedenfalls ließen sie sich beim Erfüllen ihrer Aufgabe deutlich mehr Zeit, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. 

Einen solchen Draht zu Menschen zu haben, ist nach Einschätzung von Fabian Ritter auch für frei lebende Wale und Delfine wichtig. Schließlich sind sie in ihrem Alltag häufig mit den Zweibeinern konfrontiert. Dann müssen sie möglichst rasch einschätzen, was von den Besuchern zu erwarten ist. Und das können sie offensichtlich ziemlich gut. »Bei menschlichen Schwimmern merken sie sofort: Der ist nicht so elegant und schnell wie wir, also wohl keine Gefahr«, sagt der Meeresbiologe. Manchmal seien die Tiere dann zwar trotzdem scheu und suchten das Weite. »Normalerweise wissen sie aber ganz genau, wer das Element Wasser kontrolliert und ›Herr im Hause‹ ist.«

Ring aus Schlamm | Diese Luftaufnahmen fertigte ein Team um Eric Ramos von der City University of New York an. Sie zeigen Große Tümmler beim Beutefang, wobei es sich um ein Muttertier und ihr Junges handelt. Die Mutter schwimmt im Kreis und wühlt dabei mit ihrer Schwanzflosse den schlammigen Meeresgrund auf. Das Kalb wartet zunächst am Rand (siehe kleines Rechteck) und schwimmt schließlich mit in die Schlammwolke hinein – wo beide Tiere nun den innerhalb des Rings eingeschlossenen Fisch fressen.

Ähnlich gut scheint das Einschätzungsvermögen der Meeressäuger bei Booten zu funktionieren. Wenn sie in ihrem Lebensraum immer wieder auf Walbeobachter treffen, müssen sie sich auf diese Besucher einstellen oder das Gebiet verlassen. Letzteres ist allerdings oft keine Option. Denn Arten wie Pottwale, Orcas oder Grindwale leben in Gruppen, die von älteren, erfahrenen Weibchen angeführt werden. Diese haben im Lauf ihres langen Lebens gelernt, wo die besten Jagdreviere liegen und wie ein Tauchgang geplant werden muss. Und davon hängt häufig das Überleben der ganzen Gruppe ab. Bei einem Umzug würde der Wissensschatz verloren gehen.

Also müssen die Tiere bleiben und mit den Besuchern umgehen: Welches Boot kenne ich, welches nicht? Welches nähert sich üblicherweise langsam und respektvoll, welches nervt und kann vielleicht sogar gefährlich werden? Das alles können Wale und Delfine nach Fabian Ritters Erfahrung durchaus unterscheiden. »Sie müssen uns kennen lernen, um ihren Leidensdruck zu verringern«, sagt der Biologe. Das könnte seiner Einschätzung nach erklären, warum viele Meeressäuger ein so großes Interesse an Menschen zeigen: Sie wollen sehen, mit wem sie es zu tun haben – ob die Zweibeiner in ihrer Nachbarschaft anstrengend oder gefährlich sind, interessant oder sogar unterhaltsam. Oder ob man vielleicht von ihnen profitieren kann. 

Danke für den Fisch! 

Solche Fälle gibt es nämlich auch. In der Gemeinde Laguna in Brasilien hat der gemeinsame Fischfang von Mensch und Delfin seit Generationen Tradition. Wenn dort die Meeräschen vorbeiwandern, stehen die Fischer mit Wurfnetzen am Strand. Allerdings sind die Fische im eher trüben Wasser schlecht zu sehen. Also verlassen sich die Menschen auf die Hilfe ihrer tierischen Partner: Die ortsansässigen Großen Tümmler patrouillieren vor der Küste hin und her und treiben die Fische Richtung Ufer. Dann machen sie plötzlich einen Buckel oder schwimmen eine enge Kehre. Damit geben sie ihren zweibeinigen Nachbarn das Signal, wann und wohin sie die Netze werfen müssen. Diese sind gut beraten, auf solche Tipps zu achten. Dann haben sie nachweislich einen deutlich höheren Fangerfolg als ihre Kollegen ohne solche Unterstützung. Und auch die Delfine profitieren – wahrscheinlich, weil die Netze ihre Beute verwirren. 

Aus menschlicher Sicht ist das eine äußerst ungewöhnliche Zusammenarbeit. Ob die Delfine das genauso sehen, weiß natürlich niemand. Vielleicht betrachten sie den gemeinsamen Fischfang schlicht als eine naheliegende Idee. Schließlich hat die Evolution sie sehr stark auf Kooperation getrimmt.

»Ob es um Nahrung geht, um Sicherheit oder den generellen Erfolg im Leben: Ohne die anderen Gruppenmitglieder sind sie ziemlich aufgeschmissen«, erklärt Fabian Ritter. »Das ›Wir‹ bestimmt ihr ganzes Leben und damit auch ihr Bewusstsein.« Das ist für ihn einer der auffälligsten Unterschiede zu vielen menschlichen Gesellschaften. »Mit ihrem Wissen über ihre natürliche Umgebung und ihrem starken Wir-Gefühl erinnern mich Wale und Delfine oft an menschliche indigene Gemeinschaften«, sagt der Forscher.

  • Quellen

Cantor, M. et al.: Foraging synchrony drives resilience in human–dolphin mutualism. PNAS 2023

Davies, J. R., Garcia-Pelegrin, E.: Bottlenose dolphins are sensitive to human attentional features, including eye functionality. Scientific Reports, 2023

Loth, A. et al.: Through the looking glass: How do marked dolphins use mirrors and what does it mean? Animal Cognition, 2022

Matrai, E. et al.: Testing use of the first multi-partner cognitive enrichment devices by a group of male bottlenose dolphins. Animal Cognition 25, 2022

Literaturtipp:

Fabian Ritter: Wir Wale – Die Welt der Meeressäuger durch ihre Augen: Wie sie leben, lieben, lernen. Penguin 2025

Der Walforscher und Meeresschützer Fabian Ritter wagt mit seinem Buch einen Perspektivwechsel, der uns die Meeressäuger nahebringt wie nie zuvor.

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