Skelett in der Höhlenwand: Waren Neandertaler doch keine Kältespezialisten?

Kälte machte den Neandertalern angeblich wenig aus. Ihre Nasen seien sogar speziell an die Kälte angepasst gewesen, vermuten Fachleute seit geraumer Zeit. Wie ihre Nasenhöhlen genau anatomisch geformt waren, war jedoch lange unbekannt. Nun hat ein italienisches Forscherteam um Costantino Buzi von der Universität Perugia an einem Frühmenschenskelett die bislang einzige überlieferte innere Nasenanatomie eines Neandertalers untersucht und festgestellt: Besondere, an Kälte angepasste Merkmale lassen sich nicht erkennen, berichten die Forscher im Fachmagazin »PNAS«. Vielmehr unterscheide sich das Riechorgan des Neandertalers kaum von der Nasenhöhle moderner Menschen.
Besagtes Skelett befindet sich in der 1993 entdeckten Karsthöhle von Lamalunga in Süditalien. Die Knochen sind ungefähr 130 000 bis 172 000 Jahre alt und stellen vermutlich die am vollständigsten erhaltenen Überreste dieser Menschenform dar. Allerdings dürfte es sich auch um die am schwersten zugänglichen handeln: Der sogenannte Altamura-Mann steckt zwischen Tropfsteinformationen in einer Höhlenwand fest und ist überwuchert von knotigen Mineralablagerungen. Von 2016 bis 2020 untersuchten Buzi und sein Team die Überreste mit allen Mitteln der wissenschaftlichen Kunst, durchleuchteten sie mit einem portablen Röntgengerät und führten eine endoskopische Kamera in den Schädel ein.
Ihre Auswertung der Atemwege ergab, dass die Nasenhöhle des Altamura-Manns der eines modernen Menschen ähneln würde. Der vordere Teil sei zwar länglicher geformt, aber der hintere Abschnitt zeige kaum Unterschiede.
Anthropologen vermuteten bisher, dass eine spezielle Anatomie der oberen Atemwege die Gesichtsform der Neandertaler bedingte, vor allem die hervorspringende Gesichtsmitte. Deren Nasenmuscheln – der Mensch besitzt je Nasenhälfte drei dieser knöchernen Vorsprünge, die von Schleimhaut bedeckt sind – könnten anders geformt gewesen sein: Je größer die Nasenhöhle und die Nasenmuscheln, desto mehr Raum und Hautfläche sind vorhanden, um eingeatmete kühle Luft auf Körpertemperatur zu bringen. Genetische Untersuchungen, die eine lange Nase bei den Neandertalern nahelegen, stützten die Rekonstruktionen.
Ihre Ergebnisse, so merken Buzi und seine Kollegen an, seien nicht uneingeschränkt gültig. Man kenne nun die Nasenhöhle eines einzigen Neandertalers, der archaische und jüngere Körpermerkmale in sich vereint. Unklar ist, ob bei späteren Vertretern der Menschenform die Nase ebenso aufgebaut war. Zudem lebte der Altamura-Mann in einer Zeit, als das Klima zwar deutlich kälter war als heute, doch er streifte in einer Region umher, die damals von gemäßigten klimatischen Bedingungen geprägt war – in einer Art mediterranem Eiszeit-Refugium.
Überhaupt: Ganz ausschließen wollen Buzi und seine Kollegen nicht, dass die Nase der Neandertaler in irgendeiner Form auf Kälte spezialisiert war. So seien die Atemwege des Altamura-Manns relativ schmal gewesen, was auf eine effektive »Rückgewinnung von Wärme und Wasser aus der ausgeatmeten Luft schließen« lässt, heißt es in der »PNAS«-Studie. Wenn die Nase der Neandertaler beim Ausatmen so funktioniert hat, dann spräche das dafür, dass die Frühmenschen in einem Umfeld mit niedrigen Temperaturen lebten. Allerdings reiche ein Merkmal allein nicht aus, um die Atmung sicher zu rekonstruieren. Für unwahrscheinlich halten es die Paläoanthropologen aber, dass die prominente Gesichtsmitte der Neandertaler durch die Form der Atemwege bedingt sei.
Wie der Mann in die Lamalunga-Höhle gelangte, kann nicht mehr genau rekonstruiert werden. Möglicherweise war der etwa 35-Jährige vor mehr als 130 000 Jahren in die Höhle gestürzt, blieb stecken und kam aus eigener Kraft nicht mehr heraus. Er blieb offenbar unentdeckt und verhungerte.
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