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Psychische Störungen: Warum Burnout keine Krankheit ist

Die Weltgesundheitsorganisation hat ihren Katalog der Krankheiten aktualisiert. Burnout gilt weiterhin nicht als Erkrankung, dafür aber Computerspielsucht und Sexsucht. Alle drei Kategorien sind umstritten. Therapeuten sind froh um die neuen Behandlungsmöglichkeiten, die sich aus den Definitionen ergeben.
ausgebrannt?

»Burnout wird erstmals als Krankheit anerkannt«, lauteten die Schlagzeilen deutscher und internationaler Medien Ende Mai 2019. Der Anlass: Die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatten bei einem Treffen in Genf die elfte Überarbeitung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) verabschiedet. Der Katalog mit geballten 55 000 Krankheiten, Symptomen und Verletzungsursachen soll am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Doch schon kurze Zeit später ruderten einige Medien wie »Spiegel Online« wieder zurück. Sie waren einer Falschmeldung, einer unzutreffenden Interpretation der Nachrichtenagentur AFP aufgesessen. Die WHO sah sich angesichts der Medienberichterstattung zu einer Reaktion genötigt: Burnout sei nicht als Krankheit eingestuft worden, betonte die Organisation. Vielmehr handle es sich um einen »Faktor, der die Gesundheit beeinträchtigen kann«.

Nicht nur in der Berichterstattung, auch unter Experten geht es seit Jahren hitzig hin und her im Hinblick auf die Frage, ob Burnout nun eine Erkrankung ist oder nicht. Die Definition in der ICD-11, nach deren Codes auch deutsche Ärzte und Psychiater ihre Diagnosen mit einer Nummer versehen, liest sich im Gegensatz zu den Debatten ganz nüchtern. Der einflussreiche Katalog fasst Burnout als Syndrom, »das aus chronischem Stress am Arbeitsplatz resultiert, der nicht erfolgreich verarbeitet wird«. Durch drei Dimensionen zeichne sich Burnout aus: ein Gefühl von Erschöpfung, zunehmende geistige Distanz oder negative Haltung zum eigenen Job sowie verringertes berufliches Leistungsvermögen. Auch die Vorgängerversion ICD-10 enthält Burnout bereits als so genannte Z-Diagnose. Darunter fallen Faktoren, »die den Gesundheitszustand beeinflussen«. In der ICD-11 wird Burnout weiterhin in derselben Kategorie zu finden sein – nur eben mit der neuen Definition, die das Syndrom genauer fasst und auf den Bereich des Arbeitslebens einengt.

Den Psychiater und Depressionsexperten Tom Bschor wundert es nicht, dass Burnout nicht als eigenständige psychische Erkrankung aufgenommen wurde. »Das entspricht dem Stand der Forschung«, sagt der Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin. Es gebe einfach zu viele offene Fragen, und das Konzept sei zu vage: Bschor kommt bei einer eigenen Zählung auf sage und schreibe 130 Symptome, die bei Burnout auftreten können, aber nicht müssen. »Burnout lässt sich nur schwer objektiv fassen, hier dominiert absolut die subjektive Sicht des Patienten.«

»Aus Erfahrung mit Patienten wissen wir, dass das subjektive Stresserleben ganz wenig mit der objektiven Arbeitsbelastung zu tun hat«Tom Bschor

Bschor hält das Konzept auch nicht für sonderlich hilfreich für die Therapie. Es verenge die Ursache auf eine zu hohe Arbeitsbelastung. »Und die können wir als Therapeuten gar nicht ändern.« Therapeutisch könne man nur an der Stressbelastbarkeit des Patienten arbeiten. Doch mit der Rede von Burnout sei der Blick auf den eigenen Anteil des Patienten versperrt, wenn es lediglich um die (vermeintlich) zu hohe Belastung bei der Arbeit geht. »Aus Erfahrung mit Patienten wissen wir, dass das subjektive Stresserleben ganz wenig mit der objektiven Arbeitsbelastung zu tun hat.«

Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, kann der neuen Definition von Burnout hingegen sehr viel abgewinnen. »Im Grunde war Burnout schon immer eine mögliche Ursache psychischer Erkrankungen.« Man könne nun in der Diagnose etwa ebenfalls »Depression bei Burnout« angeben. Aus Sicht der Bundespsychotherapeutenkammer sei das sinnvoll. »Dadurch lassen sich erstmals auch Belastungen am Arbeitsplatz miterfassen.« Das könne in der Prävention hilfreich sein, denn bei der Beurteilung der Gestaltung von Arbeitsplätzen seien auch psychische Belastungen zu berücksichtigen.

Computerspielsucht als psychische Erkrankung

Während es Burnout nicht als eigenständige Erkrankung in die ICD-11 geschafft hat, kann nun eine andere seelische Problematik in Zukunft das Label »psychische Erkrankung« für sich beanspruchen: die Computerspielsucht, die sich auf digitale Spiele und Videogames bezieht. Das zentrale Kriterium im Katalog der Erkrankungen ist, dass Menschen durch das exzessive Computerspielen die Kontrolle über ihr Leben verlieren: Gamer, die durch das Daddeln ihr analoges Leben komplett vernachlässigen und trotz massiver negativer Konsequenzen ihr Spielverhalten nicht drosseln können. Wenn dies über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten der Fall ist, spricht die ICD-11 von einer Computerspielsucht.

Jan Dieris-Hirche kennt den Einwand, mit dem man einer solchen Einstufung als Krankheit häufig begegnet, nur zu gut: Pathologisiert man auf diesem Weg denn nicht ein eigentlich normales Verhalten? Doch er widerspricht: Es gehe nicht um eine Überpathologisierung von normalem Computerspielverhalten. Der Oberarzt an der LWL-Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum daddelt selbst gerne in seiner Freizeit. »Es geht vielmehr um das exzessive, suchtartige Verhalten mit hohem Leidensdruck für den Betroffenen und dessen Angehörige.« Als Experte für Computerspielsucht behandelt er selbst ständig Menschen, die großen Leidensdruck verspüren.

»Am wichtigsten ist für mich, dass die Computerspielsucht im Zuge der Anerkennung als Suchterkrankung in der Gesellschaft und Politik thematisiert wird«Jan Dieris-Hirche

Digitale Spielsucht ist an sich kein neues Phänomen. Die Spielangebote vor allem im Internet haben allerdings massiv zugenommen, und sie werden zunehmend so gestaltet, dass sie rasch süchtig machen, sagen manche Experten. Betroffene brauchen dann oft therapeutische Hilfe. Als Arzt und Forscher ist Jan Dieris-Hirche die Anerkennung von Computerspielsucht als Krankheit wichtig. Das könne Fördergelder mit sich bringen, die in die dringend nötige weitere Erforschung und Verbesserung der spezifischen Behandlungen fließen. Denn bisher gebe es kaum evaluierte Behandlungsmanuale. »Doch am wichtigsten ist für mich, dass die Computerspielsucht im Zuge der Anerkennung als Suchterkrankung in Gesellschaft und Politik thematisiert wird.« Dies könne beispielsweise auch Präventionsprojekte an Schulen stärken.

Für die Therapeuten von Patienten mit exzessivem Spielverhalten hat der Status als psychische Erkrankung noch weitere Vorteile. »Bislang konnte man Spielsucht nicht als Behandlungsgrund angeben«, sagt Dietrich Munz. Man musste begleitende Störungen wie beispielsweise eine Depression angeben. Die Aufnahme der Computerspielsucht in die Diagnosehandbücher halte die Bundespsychotherapeutenkammer schon seit längerer Zeit für sinnvoll, sagt Munz als ihr Präsident. »Denn nun kann man Spielsucht als Diagnose stellen, die oftmals im Zentrum der Behandlung stehen muss, um dann auch mögliche andere begleitende Störungen wie beispielsweise soziale Probleme angehen zu können.«

Sexsucht von der WHO charakterisiert

Mit sozialen Problemen geht noch eine Sucht einher, die aktuell durch die schier endlosen Verführungen der digitalen Welt eine ganz neue Dimension gewinnt: Sexsucht. Auch sie ist kein neues Phänomen. Doch durch das Internet gibt es immer mehr Angebote, die auf die Betroffenen einen immer stärkeren Sog ausüben. Und das führt dazu, dass Menschen dem inneren Zwang immer exzessiver nachgeben und dann sozial entgleisen.

Nun hat die WHO Sexsucht, genauer »zwanghaftes Sexualverhalten«, als Suchtverhalten beziehungsweise als Störung der Impulskontrolle charakterisiert. Es gebe aus klinischer Erfahrung zwei Gruppen von Betroffenen, auf die eine solche Diagnose zutreffen kann, so Jan Dieris-Hirche: die Sexsüchtigen, die im analogen Leben ihre Sucht ausleben, etwa häufig Prostituierte aufsuchen. Und der immer größer werdende Teil der Cybersexsüchtigen, die nur auf virtuelle Sexinhalte wie Internetpornografie zurückgreifen und mit hohem Leidensdruck dem Onlinepornokonsum verfallen sind. Und die manchmal im anlogen Leben noch nie Sexualität mit echten Partnern erlebt haben. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland eine halbe Million Sex- und Pornosüchtige, die Mehrzahl davon ist männlich.

»Auch mit Sexsucht ist man für das eigene Handeln verantwortlich«Jan Dieris-Hirche

Das Problem ist bislang, dass das Thema Sexsucht gesellschaftlich stark mit Scham behaftet ist. Betroffene kommen kaum in die Kliniken und Praxen, wie Jan Dieris-Hirche aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß. »Durch die neue ICD-11-Diagnose hoffen wir, dass die Schamgrenze sinkt und es für die Betroffenen leichter wird, eine Behandlung in Angriff zu nehmen.« Ob das aber auch wirklich zu einem Umdenken in der Gesellschaft und bei den Patienten führen wird, bleibt abzuwarten.

Doch kann die Diagnose nicht vielleicht auch missbraucht werden? Könnten nicht Sexualstraftäter versuchen, sich mit Sexsucht herauszureden? Das würden sie teilweise schon jetzt probieren, so Dietrich Munz. »Aber auch mit Sexsucht ist man für das eigene Handeln verantwortlich.« Nun könne es allerdings sein, dass ein Sexualstraftäter mit Sexsucht zwar keine Strafminderung bekomme, unter Umständen aber im Maßregelvollzug untergebracht werde, um dort im Sinne der Rückfallprophylaxe behandelt zu werden. »Das kann sehr sinnvoll sein.« Man müsse dabei jedoch diagnostisch immer genau schauen und differenzieren. »So ist etwa Pädophilie als Neigung kein Suchtverhalten.«

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