Amnionmembran: Fruchtblase heilt Auge

Kurz nachdem sein Sohn mit einem Messer bedroht und ausgeraubt wurde, konfrontiert Paul Laskey den Räuber. Doch anstatt die gestohlenen Sachen zurückzugeben, greift der in seine Tasche, zieht eine Flasche hervor und spritzt die Flüssigkeit darin Paul ins Gesicht: Es ist Säure. Sie trifft seinen Mund, seine Nase und mitten in sein linkes Auge. »Ich konnte nichts mehr sehen und nicht atmen. Ich dachte, ich kämpfe um mein Leben«, sagt der 43-Jährige später in einem Interview mit »Sky News«; auch andere Medien berichten über den Fall.
Im Krankenhaus sagen die Ärzte ihm, dass er auf dem linken Auge blind werden könne, seine Augenhornhaut sei stark beschädigt. Doch es gebe eine Behandlungsoption: Sie könnten die Fruchtblase einer Frau, die ihr Kind bereits geboren hat, auf die Verletzung nähen. Das würde nicht nur das Auge vor der Außenwelt schützen, sondern auch dessen natürliche Heilungskräfte anregen.
Ein Vorschlag, der zunächst irritiert und Fragen aufwirft. Denn einige Teile der Nachgeburt werden bisweilen für dubiose Verfahren mit zweifelhaftem Nutzen verwendet. Vor einigen Jahren berichteten etwa die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) über eine Mutter, die sich von einer Firma ihre Plazenta zu Pillen verarbeiten ließ und täglich sechs Stück davon einnahm. Wegen einer Verunreinigung der Plazenta-Pillen steckte sie daraufhin versehentlich ihr Neugeborenes mit einem schweren Infekt an.
Bei Paul Laskey ist die Situation aber anders. Die ihm angebotene Behandlung gilt als seriös und ist medizinisch schon lange etabliert. 2024 vermittelte die Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG) mehr als 2500 Transplantate, die aus Fruchtblasen gewonnen wurden.
»Für uns ist das ein Standardverfahren«, sagt Ramin Khoramnia, Leiter der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. »Bei Schäden an der Hornhaut des Auges ist das Aufnähen der innersten Haut der Fruchtblase oft die sinnvollste Behandlungsmethode. Sie hilft dem Auge bei der Regeneration, unterdrückt Schmerzen und kann mit der Zeit auch das Sehvermögen deutlich verbessern«, erläutert er.
Alleskönner während der Schwangerschaft
Um zu verstehen, warum die Fruchtblase für die Therapie in der Augenheilkunde so wertvoll ist, muss man zuerst ihre ursprüngliche biologische Aufgabe betrachten. Ihre innerste Haut, auch Amnionmembran genannt, spielt während der Schwangerschaft eine unersetzliche Rolle. »Das ist wirklich ein sehr spannendes Material«, sagt Susanne Wolbank, Leiterin der Abteilung für zellbasierte Therapien am Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie in Wien. »Anders als andere Teile der Plazenta, die von der Mutter kommen, entwickelt sich die Amnionmembran aus dem Embryo heraus. Sie ist recht dünn und zart, aber gleichzeitig äußerst widerstandsfähig. Sie muss ja über neun Monate hinweg die Spannung halten, um das Kind und das Fruchtwasser vor der Umgebung zu beschützen.«
»Das Amnion produziert sehr viele Botenstoffe«Susanne Wolbank, Biologin
Sie bietet aber nicht nur physischen Schutz, sondern trägt auch aktiv zur Entwicklung des Kindes bei. »Das Amnion sendet sehr viele Botenstoffe in das Fruchtwasser aus, die dann das Kind erreichen«, sagt Wolbank. Zum Beispiel helfe die Membran auf diese Weise den Lungenbläschen, sich zu öffnen, und sorge somit dafür, dass Neugeborene nach der Geburt genügend Luft bekommen. Außerdem stelle sie Wachstumsfaktoren her sowie antibakterielle Substanzen und solche, die das Immunsystem unterstützen.
Die hohe Produktivität liege vor allem daran, dass sich dort viele Stammzellen finden. »Diese Zellen sind Meister-Kommunikatoren«, sagt Wolbank. »Sie treten mit Hilfe biochemischer Signale mit ihrer Umgebung in Kontakt und sorgen so für Balance im Gewebe.«
Optimal für die Augenheilkunde
Für Paul Laskeys verletztes Auge sind die Eigenschaften der Amnionmembran aus mehreren Gründen nützlich. Eine entscheidende Rolle spielen die von den Stammzellen produzierten Wachstumsfaktoren, die sich an spezielle Zellrezeptoren binden und dadurch eine Kaskade biochemischer Prozesse auslösen. In der Folge vermehren sich gesunde Zellen und wandern zu geschädigtem Gewebe hin. Im Fall von Laskey können die Wachstumsfaktoren also helfen, durch die Säure zerstörte Zellen zu ersetzen. Darüber hinaus bremsen die Botenstoffe die natürlichen Prozesse zum Beseitigen von verletztem Gewebe im Auge. Beschädigte Zellen, die sich wieder erholen können, bleiben dadurch erhalten.
Wachstumsfaktoren sind jedoch noch nicht alles. Die Amnionmembran hat auch eine besondere Art und Weise, mit dem Immunsystem zu kommunizieren. »Normalerweise ist das Immunsystem bei Transplantationen ein riesiges Problem«, sagt Susanne Wolbank. »Es besteht immer die Gefahr, dass das Transplantat vom Empfänger abgestoßen wird. Beim Amnion ist das aber nicht so. Die Stammzellen senden Signale aus, die eine Überreaktion des Immunsystems verhindern. Während der Schwangerschaft sind diese Signale dafür da, die Immunzellen der Mutter davon abzuhalten, das Kind als Fremdkörper zu erkennen und zu bekämpfen. So etwas wäre ja dramatisch. Bei Transplantationen wird die Eigenschaft dann noch einmal nützlich.«
Außerdem kann die innere Haut der Fruchtblase bestehende Entzündungen lindern. Das sei vor allem dann wichtig, wenn diese außer Kontrolle geraten, so Wolbank. »Entzündungen sind eigentlich etwas Fantastisches. Sie sind Teil der Reaktion des Körpers auf akuten Schaden. Wenn sie aber nicht mehr aufhören, richten sie selbst Schaden an. In solchen Fällen kann das Amnion helfen.«
Wegen ihrer vielfältigen Eigenschaften wird die Amnionmembran auch außerhalb der Augenheilkunde medizinisch verwendet. Vor allem bei chronischen Wunden oder Verbrennungen kommt sie zum Einsatz. »Für solche Patienten ist die Membran ein riesiger Vorteil«, sagt Wolbank. »Bei schweren Verbrennungen ist allein der Verbandswechsel für die Betroffenen eine Qual. Man kann es dabei einfach nicht vermeiden, die Wunde immer wieder neu aufzureißen.« Benutze man statt eines Verbands das Amnion, um die Wunde abzudecken, habe man das Problem nicht mehr. Ein Verbandswechsel sei dann überflüssig, weil die Membran sich mit der Zeit von selbst abbaut und dann durch eine neue ersetzt werden kann. Gleichzeitig beruhigen die ausgestoßenen Botenstoffe das Immunsystem, regen die Regeneration des Gewebes an und unterdrücken Schmerzsignale, wie ein kürzlich erschienener Überblicksartikel im Fachjournal »Stem Cell Reviews and Reports« zusammenfasst.
Von diesen erfolgreichen Anwendungen ermutigt, versuchen auch Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen zunehmend, die Amnionmembran therapeutisch einzusetzen: Neurochirurgen haben sie bei Rückenmarksoperationen verwendet, um die Heilung verletzter Nerven zu unterstützen. Frauenärzte testen, ob sie nach einer Operation zur Behandlung von Endometriose die Rückkehr solcher Verwachsungen verhindern kann. Hals-Nasen-Ohren-Ärzte haben versucht, mit ihr schweres Nasenbluten zu behandeln. Bei Meniskusoperationen wird sie von Orthopäden benutzt, um die Erfolgsrate zu verbessern und Arthrose zu verhindern. Und Urologen möchten mit ihrer Hilfe erektile Dysfunktionen bei ihren Patienten verhindern. Ob das Amnion in all diesen Bereichen genauso gut wirkt wie in der Augenheilkunde, ist anhand der aktuellen Studienlage allerdings noch nicht abzuschätzen.
»Mir ist die Entscheidung überhaupt nicht schwergefallen«Maria Kümmel, Amnionmembranspenderin
Ein weiterer Grund für ihre Beliebtheit unter Medizinern ist, dass die Amnionmembran verhältnismäßig günstig und einfach zu erhalten ist. Anders als bei Organspenden gibt es keine langen Wartelisten und auch keinen Mangel an potenziellen Spenderinnen. Um das Infektionsrisiko zu minimieren, gewinnt man zwar nur nach Kaiserschnittgeburten solche Spenden, aber mittlerweile trifft das auf fast jede dritte Geburt zu. Allerdings wird die Fruchtblase bisher auch nach einem Kaiserschnitt normalerweise einfach weggeworfen. Dabei hätte kaum eine Schwangere ein Problem damit, sie stattdessen für etwas Nützliches zu spenden, sagt der Augenarzt Ramin Khoramnia.
»Mir ist die Entscheidung überhaupt nicht schwergefallen«, meint auch Maria Kümmel. Die 37-Jährige hat vor einem halben Jahr im Krankenhausflur gesessen und auf den Beginn ihrer Kaiserschnittgeburt gewartet. Ärzte seien dann auf sie zugekommen und hätten gefragt, ob sie ihre Fruchtblase nach der Geburt weiterverwenden können. »Ich brauche sie ja nicht und jemand anderem kann sie vielleicht helfen. Ich habe sofort Ja gesagt.« So ein »Ja« kann viel bewirken, denn aus einer einzigen Gewebespende lassen sich nach Angaben der DGFG mehr als 100 Transplantate gewinnen. Das bedeutet also potenziell mehr als 100 Menschen wie Paul Laskey, denen diese Fruchtblase das Sehvermögen retten kann.
Fruchtblasen aus dem Gefrierfach
Um nach einem Kaiserschnitt ein einsatzfähiges Transplantat zu gewinnen, braucht man bloß eine stumpfe Schere. »Hat man damit einmal eine Öffnung gemacht, kann man den Rest der Amnionmembran vorsichtig abziehen«, sagt Khoramnia. »Man muss aber aufpassen, dass sie nicht reißt oder sich von selbst zusammenrollt, da sie sehr dünn ist.« Ist das geschafft, wird die Membran auf einen Träger aufgelegt, auf Verunreinigungen getestet und dann eingefroren. Heutzutage werden solche Membranen in der Regel fertig vorbereitet an Kliniken verschickt. Wenn ein Patient wie Paul Laskey operiert werden soll, muss sie nur noch aus dem Gefrierfach geholt und aufgetaut werden.
Für den anschließenden medizinischen Eingriff wird das Spendenmaterial auf die richtige Größe geschnitten und dann befestigt. »Wir verwenden dafür feine Fäden aus Nylon, die ungefähr so dünn sind wie ein Haar«, sagt Ramin Khoramnia. »Mit ihnen nähen wir die Amnionmembran an der Hornhaut fest.«
Für Paul Laskey waren allerdings kompliziertere Verfahren notwendig, weil sein Auge sehr stark beschädigt war. Laut der Pressemitteilung seines Krankenhauses wurden bei ihm drei verschiedene Amniontransplantate verwendet – obwohl normalerweise bereits eines ausreicht. Zusätzlich erhielt er zwei gespendete Augenhornhäute.
Nach diesen Eingriffen hieß es Geduld haben. Über ein halbes Jahr lang musste er in einem abgedunkelten Raum bleiben, weil jeder Lichtstrahl im Auge schmerzte. Eine komplette Regeneration von einem auf den anderen Tag sei aber auch nicht zu erwarten, sagt Khoramnia. Selbst bei Patienten mit leichteren Schäden sei das so: »Nach einer Amniontransplantation liegt zunächst teilweise für mehrere Wochen eine etwas trübe Membran aus der Hornhaut auf. Die Patienten bemerken deswegen nicht direkt eine Verbesserung. Erst wenn wir die Nähte entfernen und sich die Oberfläche komplett wieder regeneriert hat, verbessert sich auch langsam die Sehfähigkeit.«
»Ohne die Spende hätte ich wahrscheinlich mein Auge verloren«Paul Laskey, Patient
Für Paul Laskey haben sich die Strapazen und das Warten gelohnt: Mit seinem angeschlagenen linken Auge kann er zwar immer noch nicht so gut wie vorher sehen, aber zumindest ist es nicht vollständig verloren. Und es tut nicht mehr weh. Heute ist er vor allem der Mutter dankbar, die ihre Fruchtblase gespendet hat, um Menschen wie ihm zu helfen. »Ohne die Spende hätte ich wahrscheinlich mein Auge verloren.«
Trotz ihres enormen Potenzials werden die meisten Fruchtblasen heutzutage aber immer noch weggeworfen. Vor allem, weil ihre Anwendungsmöglichkeiten vielen Ärzten in Deutschland nicht bewusst sind. Der DGFG zufolge setzen vor allem Augenärzte das Amnion ein. In anderen Fachbereichen, zum Beispiel in der Wundheilung, werde das Potenzial der Membran noch nicht ausgeschöpft. So ging dem Jahresbericht der DGFG zufolge weniger als ein Prozent der Transplantate aus dem letzten Jahr an Patienten mit chronischen Wunden. Eine Zahl, die ausbaufähig ist: Im Moment landet die Heilkraft der Amnionmembran noch zu oft im Mülleimer.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.