Logik: Die Mathematik braucht neue Unendlichkeiten

Seit mehr als 100 Jahren hat die Mathematik ihr Fundament gefunden. Jeder mathematische Beweis baut darauf auf: Eine wahre Aussage lässt sich durch logische Folgerungen aus einer Reihe von Grundprinzipien herleiten, sogenannten Axiomen. Sie dienen dem gesamten Fach als Basis.
Die moderne Mathematik fußt auf Axiomen, die unsere Intuition über das grundlegende Verhalten von Mengen formalisieren. Zum Beispiel: Es gibt eine leere Menge. Oder: Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie aus den gleichen Elementen bestehen. Aus diesen Axiomen und den Regeln der Logik lässt sich die gesamte Mathematik entwickeln – von komplizierten Summen und Integralen über statistische Berechnungen bis hin zu hochdimensionalen geometrischen Objekten.
Allerdings wissen wir, dass diese Grundregeln nicht ausreichen, um alle mathematischen Fragen zu beantworten. Denn es liegt in der Natur des Fachs, unvollständig zu sein.
Aber neue Axiome können wichtige Fortschritte ermöglichen und die Grenzen unseres Wissens erweitern. Besonders vielversprechende Kandidaten für solche Axiome sind Prinzipien, die die Existenz von »großen Unendlichkeiten« postulieren.
In meiner Forschung untersuche ich, wie sich die Mathematik verändert, wenn man ihr Grundgerüst um solche Axiome erweitert. Dabei bin ich mit meinen Kollegen auf eine neue Art von großer Unendlichkeit gestoßen. Deren überraschende Eigenschaften könnten unsere grundlegenden Vorstellungen über das Verhalten derartiger Größen ändern.
Die Mathematik ist unvollständig
Jeder mathematische Beweis besteht aus endlich vielen logischen Folgerungen, die den zugrundeliegenden Satz aus Axiomen herleiten. Damit folgen alle Beweise Regeln, auf die sich Mathematiker Anfang des 20. Jahrhunderts geeinigt haben. Ihr ursprüngliches Ziel war es damals, für die verschiedenen Teilgebiete der Mathematik Axiome zu finden, die erstens widerspruchsfrei und zweitens vollständig sind. Das bedeutet:
- Aus diesen Axiomen lassen sich niemals widersprüchliche Aussagen wie 0 = 1 ableiten.
- Jede mathematische Aussage sollte sich durch diese Axiome entweder beweisen oder widerlegen lassen.
Doch dieser Traum platzte im Jahr 1931, als der junge Logiker Kurt Gödel seine beiden Unvollständigkeitssätze bewies. Der erste Satz besagt, dass jedes widerspruchsfreie, »hinreichend starke und rekursiv aufzählbare Axiomensystem« unvollständig ist. Sobald man also eine konkrete Vorschrift hat, die Schritt für Schritt eine Liste von Axiomen erzeugt, mit deren Hilfe sich ausreichend viel Mathematik betreiben lässt und die keine Widersprüche erzeugt, dann gibt es zwangsläufig Aussagen, die sich aus den aufgelisteten Axiomen weder beweisen noch widerlegen lassen. Solche Aussagen werden dann als unabhängig von diesem Axiomensystem bezeichnet. Laut dem zweiten Unvollständigkeitssatz kann ein solches System seine eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen.
Erweitert man ein hinreichend starkes und rekursiv aufzählbares Axiomensystem um eine unabhängige Aussage, ist das Ergebnis ebenfalls vom Unvollständigkeitssatz betroffen. Durch neue Axiome lassen sich also weitere Fragen beantworten; doch die Mathematik kann dadurch nicht vervollständigt werden.
Das einfachste Beispiel für ein Axiomensystem, auf das der Unvollständigkeitssatz zutrifft, sind die Peano-Axiome. Dies sind die Grundregeln, die dem Rechnen mit natürlichen Zahlen zugrunde liegen – und die wir intuitiv schon in der Schule lernen. Gödels Ergebnis zeigt, dass die Peano-Axiome entweder zu Widersprüchen führen oder unvollständig sind.
In unserer Beobachtung scheinen sie konsistent, denn die Menschheit nutzt diese Regeln schon seit Tausenden von Jahren und ist dabei noch nie auf einen Widerspruch gestoßen. Deshalb geht man davon aus, dass es Aussagen über die Arithmetik der natürlichen Zahlen gibt, die durch die Peano-Axiome weder bewiesen noch widerlegt werden können.
Peano-Axiome
Diese Satz an Regeln legt die Grundlagen für das Rechnen mit natürlichen Zahlen. Wir lernen sie indirekt in der Schule kennen.
- 0 ist eine natürliche Zahl.
- Auf jede natürliche Zahl n folgt eine weitere Zahl n + 1.
- 0 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl.
- Natürliche Zahlen mit gleichem Nachfolger sind gleich.
- Jede Menge M der natürlichen Zahlen, die 0 enthält und für jedes ihrer Elemente n auch dessen Nachfolger n + 1 beinhaltet, ist gleich der Menge aller natürlichen Zahlen.
Der Unvollständigkeitssatz lässt sich auch auf das Axiomensystem anwenden, das den Grundpfeiler der modernen Mathematik bildet: die Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom, kurz als ZFC bezeichnet, wobei C für das Auswahlaxiom steht (Englisch: axiom of choice). Da die unentscheidbaren Aussagen aus Gödels ursprünglicher Arbeit in der mathematischen Praxis irrelevant sind, gingen Mathematikerinnen und Mathematiker zunächst davon aus, dass die Unvollständigkeit von ZFC außerhalb der Grundlagenforschung keine Rolle spielt.
Doch nur wenige Jahre später zeigten Gödel und Paul Cohen mit ihren bahnbrechenden Arbeiten zum sogenannten Cantorschen Kontinuumsproblem, dass auch zentrale mathematische Fragestellungen unentscheidbar sein können – unter anderem die Frage, wie groß die Menge der reellen Zahlen ist.
Unentscheidbare Probleme in der Mathematik
Eines der berühmtesten Beispiele für eine unentscheidbare Frage ist das Kontinuumsproblem: Gibt es eine Menge, die größer als die natürlichen Zahlen ist, aber kleiner als die reellen Zahlen? Diese Frage hat die Entwicklung der Mengenlehre entscheidend geprägt und bleibt auch weiterhin eng mit wichtigen Forschungsaktivitäten verbunden. Die Ergebnisse von Cohen und Gödel zeigen, dass die ZFC-Axiome – falls sie widerspruchsfrei sind – das Kontinuumsproblem nicht entscheiden können.
Die zu diesem Beweis entwickelten Techniken lassen sich nutzen, um viele weitere Beispiele für mathematische Fragestellungen zu finden, die nicht durch ZFC beantwortet werden: unter anderem das in der Gruppentheorie wichtige Whitehead-Problem oder die Existenz von äußeren Automorphismen der Calkin-Algebra in der Funktionalanalysis.
Angesichts dieser Entwicklungen begannen Fachleute, nach neuen intrinsisch gerechtfertigten Axiomen zu suchen. Sie hofften, dass sie mit einem erweiterten Werkzeugkasten wichtige Fragen, welche die ZFC-Axiome allein nicht entscheiden, beantworten können.
Diese Suche nach neuen Grundregeln wird als Gödels Programm bezeichnet. Es spielt in der modernen Mengenlehre eine entscheidende Rolle und motiviert zahlreiche Forschungsrichtungen, die sowohl die Konsistenz neuer Axiome als auch deren Folgen in allen Bereichen der Mathematik untersuchen. Besonders bedeutsam sind dabei »große Kardinalszahlen«: Sie tauchen auf, wenn man sich in das Gebiet höherer Unendlichkeiten hineinwagt.
Unendlich ist nicht immer gleich unendlich
Eine der wichtigsten Einsichten in der Entwicklung der Mengenlehre hatte Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts, als er die Größen von Mengen untersuchte. Er entwickelte eine Methode, um auch Mengen mit unendlich vielen Elementen miteinander zu vergleichen. Dafür verwendete er Eins-zu-eins-Korrespondenzen: Wenn man jedem Element der ersten Menge genau ein Element der zweiten zuordnen kann und umgekehrt, dann sind beide Mengen »gleichmächtig«.
Im Unendlichen treten dabei teilweise Ergebnisse auf, die zunächst kontraintuitiv wirken. Zum Beispiel kann eine Menge gleichmächtig zu einer echten Teilmenge von ihr selbst sein: So sind beispielsweise die natürlichen Zahlen gleichmächtig zur Teilmenge der geraden Zahlen. Bei endlichen Mengen kann das hingegen niemals der Fall sein.
Als »Mächtigkeit« einer Menge definierte Cantor die Klasse aller Mengen, die zu ihr gleichmächtig sind. Wie gewöhnliche Zahlen lassen sich auch Mächtigkeiten ordnen; es gibt größere und kleinere:
- Eine Mächtigkeit ist größer oder gleich einer zweiten Mächtigkeit, wenn jedes Element der ersten Klasse eine Teilmenge besitzt, die gleichmächtig zu jedem Element der zweiten Klasse ist.
- Eine Mächtigkeit ist echt größer als eine andere Mächtigkeit, wenn die erste Mächtigkeit größer oder gleich der zweiten ist und diese nicht größer oder gleich der ersten ist.
Auf diese Weise lassen sich Mächtigkeiten vergleichen. Zwei Mächtigkeiten sind entweder gleich, oder die erste ist echt größer als die zweite, oder die zweite ist echt größer als die erste. Insbesondere kann man also die kleinste unendliche Mächtigkeit – die der natürlichen Zahlen – mit jener der reellen Zahlen vergleichen. Da die reellen Zahlen die natürlichen Zahlen enthalten, ist die Mächtigkeit der reellen Zahlen größer oder gleich der der natürlichen Zahlen. Als Geburtsstunde der modernen Mengenlehre gilt Cantors Diagonalargument, mit dem er bewies, dass die Mächtigkeit der reellen Zahlen echt größer ist als die der natürlichen Zahlen.
Die Unendlichkeit der reellen Zahlen ist größer als die der natürlichen
Mit seinem »Diagonalargument« bewies Georg Cantor, dass es mehr reelle als natürliche Zahlen gibt. Er nutzte dafür einen Widerspruchsbeweis: Er begann mit der Annahme, es gäbe genauso viele reelle Zahlen wie natürliche, und leitete daraus eine widersprüchliche Aussage ab. Nach den Gesetzen der Logik folgt daraus, dass die Grundannahme (»Es gibt gleich viele reelle und natürliche Zahlen«) falsch sein muss.
Für das Diagonalargument muss man nicht einmal die gesamten reellen Zahlen betrachten, sondern es genügt, sich auf reelle Werte zwischen null und eins zu beschränken. Wenn es genauso viele reelle Zahlen zwischen null und eins gibt wie natürliche Zahlen, dann lässt sich das reelle Intervall [0, 1] in einer unendlich langen Liste untereinanderschreiben, etwa:
0,32476834567854765…
0,84737834527845745…
0,78347864586745768…
0,78347863763547879…
…
Wie die Liste sortiert ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie vollständig ist: Sie muss jede reelle Zahl zwischen null und eins enthalten.
Cantor konstruierte aber eine weitere Zahl zwischen null und eins, die nicht in der Liste auftaucht. Und zwar auf folgende Weise: Die erste Nachkommastelle der neuen Zahl entspricht der ersten Dezimalstelle der ersten Zahl in der Liste plus eins, also im obigen Beispiel vier (eine Neun wird hierbei in eine Null umgewandelt). Die zweite Dezimalstelle erhält man, indem man die zweite Dezimalstelle der zweiten Zahl plus eins rechnet, also fünf. Für die dritte erhöht man die dritte Nachkommastelle der dritten Zahl um eins und so weiter. Auf diese Weise ergibt sich die irrationale Zahl 0,4545… mit unendlich vielen Nachkommastellen, die nicht in der Liste auftaucht, da sie stets in mindestens einer Ziffer von jeder der aufgelisteten Zahlen abweicht.
Damit kann die Liste nicht vollständig sein – was der ursprünglichen Annahme widerspricht. Cantor konnte somit folgern, dass es mehr reelle als natürliche Zahlen gibt.
Allgemeiner konnte Cantor mithilfe der »Potenzmenge« (der Menge aller Teilmengen einer Menge) zeigen, dass es zu jeder Mächtigkeit eine echt größere Mächtigkeit gibt. Cantor bewies, dass die Mächtigkeit der Potenzmenge echt größer ist als die Mächtigkeit der ursprünglichen Menge. Durch wiederholtes Bilden von Potenzmengen lassen sich also immer größere Mächtigkeiten finden: Zu jeder Unendlichkeit gibt es demnach eine noch größere Unendlichkeit.
Möchte man die Größe einer endlichen Menge angeben, greifen wir dafür auf natürliche Zahlen zurück. Dieses Konzept hat Cantor auf unendliche Mengen ausgeweitet, indem er Kardinalzahlen einführte.
Hierbei ordnet man jeder Mächtigkeit einen eindeutigen Stellvertreter aus seiner Klasse zu – also eine repräsentative Menge der entsprechenden Mächtigkeit. Diese Repräsentanten bezeichnet man als Kardinalzahlen. Für endliche Mengen entspricht die zugehörige Kardinalzahl der Anzahl ihrer Elemente. Für Mengen mit unendlich vielen Elementen verallgemeinern Kardinalzahlen somit den Begriff der »Anzahl« ins Unendliche.
Manche Unendlichkeiten sprengen die Grenzen der Mathematik
Wie sich herausstellt, gibt es verschiedene Arten von Kardinalzahlen mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften. Ein Beispiel sind die Limeskardinalzahlen. Diese lassen sich als Grenzzahlen anderer Unendlichkeiten auffassen: Unterhalb einer Limeskardinalzahl gibt es unendlich viele unendliche Kardinalzahlen ohne einen größten Vertreter, ähnlich wie bei der Grenze eines offenen Intervalls.
Man kann aber auch unendliche Kardinalzahlen definieren, deren Existenz sich nicht durch die ZFC-Axiome beweisen lässt. Grund dafür ist, dass aus ihren Eigenschaften die Widerspruchsfreiheit der ZFC-Axiome folgen würde. Solche Größen, die die Grenzen des ZFC-Systems sprengen, werden als »große Kardinalzahlen« bezeichnet.
Die einfachsten Beispiele dafür sind »schwach unerreichbare Kardinalzahlen«: Sie verstärken das Konzept von Limeskardinalzahlen, indem man von ihnen fordert, dass sie »regulär« sind. Wenn man eine Menge regulärer Mächtigkeit in Teilmengen zerlegt, dann ist entweder mindestens eine Teilmenge gleichmächtig zur ursprünglichen Menge oder die Menge der Teilmengen ist gleichmächtig zur ursprünglichen Menge.
Gödel hat gezeigt, dass aus einer regulären Limeszahl (also einer schwach unerreichbaren Kardinalzahl) folgt, dass ZFC widerspruchsfrei ist. Damit lässt sich die Existenz dieser Zahlen nur dann aus den ZFC-Axiomen herleiten, wenn diese inkonsistent sind. Das bedeutet: Wenn wir annehmen, dass die ZFC-Axiome widerspruchsfrei sind, dann können wir dieses Axiomensystem vergrößern, indem wir es um schwach unerreichbare Kardinalzahlen erweitern.
In den vergangenen 100 Jahren haben Fachleute viele Beispiele für »stärkere« große Kardinalzahlen gefunden, mit denen sich die ZFC-Axiome zu immer aussagekräftigeren Systemen erweitern lassen.
Der Nutzen großer Unendlichkeiten
In Gödels Programm spielen große Kardinalzahlen aus zwei Gründen eine zentrale Rolle: Erstens sind sie aussichtsreiche Kandidaten für neue Axiome, weil sie wichtige Fragen (die unabhängig von ZFC sind) beantworten. Zweitens gibt es starke Argumente für die »Natürlichkeit« großer Kardinalzahlen – also der Tatsache, dass sie unsere mathematische Realität widerspiegeln.
Große-Kardinalzahl-Axiome liefern unter anderem intuitivere Antworten in Bezug auf reelle Zahlen. Die ZFC-Axiome allein lassen hingegen seltsame Ergebnisse zu. Sie schließen etwa nicht aus, dass man auf dem Zahlenstrahl konkret Mengen konstruieren kann, die nicht messbar sind – denen sich also keine Länge zuordnen lässt. Fügt man jedoch große Kardinalzahlen zum ZFC-Gefüge hinzu, entpuppen sich plötzlich alle konkret konstruierbaren Teilmengen der reellen Zahlen als messbar. Dadurch stimmen die Konsequenzen großer Kardinalzahlen besser mit unserer Intuition überein.
Als Hinweise für die Natürlichkeit von Große-Kardinalzahl-Axiomen sehen Expertinnen und Experten, dass viele dieser Axiome äquivalent zu Verstärkungen grundlegender mathematischer Prinzipien sind. Das sind beweisbare Resultate, die man zu stärkeren Behauptungen erweitert. So erhält man Prinzipien, die zwar möglicherweise nicht mehr mit den Mitteln von ZFC beweisbar sind, die aber plausibel wirken. In wichtigen Fällen ließ sich beweisen, dass die Existenz großer Kardinalzahlen äquivalent zur Gültigkeit solcher Prinzipien ist. Viele Fachleute sehen das als starkes Indiz für die Natürlichkeit großer Kardinalzahlen.
Ebenso kann man große Kardinalzahlen mit weiteren Kandidaten für neue Axiome vergleichen – etwa mit anderen großen Kardinalzahlen. Erstaunlicherweise lassen sich bisher alle großen Kardinalzahlen gemäß ihrer Konsistenzstärke linear ordnen. Das bedeutet, dass für alle Paare solcher Axiome entweder eines der Axiome die Widerspruchsfreiheit des anderen Axioms beweist – oder ihre Widerspruchsfreiheit äquivalent ist. Obwohl also die Eigenschaften, die große Kardinalzahlen definieren, nicht direkt zusammenhängen und es prinzipiell möglich wäre, dass sich die Konsistenzstärken unterschiedlicher großer Kardinalzahlen nicht vergleichen lassen, ist dies in der Praxis noch nie geschehen.
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Widerspruchsfreiheit jedes Axiomensystems, das ZFC auf natürliche Weise erweitert, äquivalent zur Widerspruchsfreiheit einer Erweiterung von ZFC durch Große-Kardinalzahl-Axiome ist. Das liefert starke Anhaltspunkte dafür, dass große Kardinalzahlen alle mathematischen Theorien gemäß ihrer Konsistenzstärke ordnen könnten.
All diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass große Kardinalzahlen ein grundlegendes Prinzip der Mathematik verkörpern. Allerdings scheinen zentrale Aspekte noch unverstanden.
In welcher mathematischen Welt wollen wir leben?
Die Widerspruchsfreiheit eines Axiomensystems ist gleichbedeutend mit der Existenz von »Modellen« dieser Axiome. Dabei handelt es sich um mathematische Strukturen, in denen alle Axiome gelten. Sollten die ZFC-Axiome widerspruchsfrei sein, gibt es eine breite Landschaft von ZFC-Modellen mit sehr unterschiedlichen mathematischen Realitäten.
Innerhalb von ZFC-Modellen lassen sich Teilmodelle konstruieren, in denen ebenfalls alle Axiome von ZFC gelten – über deren Natur in wichtigen Fällen aber deutlich mehr bewiesen werden kann als im ursprünglichen Modell. Zwei solche Teilmodelle konstruierte bereits Gödel, und sie spielen bis heute in der modernen Mengenlehre eine zentrale Rolle: das »konstruktible Universum« L und die Klasse HOD aller »erblich Ordinalzahl-definierbaren« Mengen.
Gödel hat das konstruktible Universum L schrittweise gebildet. In jedem Schritt werden nur Mengen hinzugefügt, die sich aus den zuvor konstruierten Mengen explizit definieren lassen. Man kann zeigen, dass dieser Vorgang das minimale ZFC-Teilmodell erzeugt: Jedes andere Teilmodell enthält zwangsweise L, und es kann somit als das kleinste Modell gesehen werden, in dem alle ZFC-Axiome gelten. Wie sich herausstellt, lassen sich viele Aussagen, die unabhängig von ZFC sind, in L beweisen oder widerlegen.
Sollten die ZFC-Axiome widerspruchsfrei sein, gibt es eine breite Landschaft von ZFC-Modellen mit sehr unterschiedlichen mathematischen Realitäten
In den 1970er-Jahren sorgte eine von Ronald Jensen bewiesene Dichotomie für Aufmerksamkeit: Er konnte zeigen, dass jedes ZFC-Modell entweder eng durch Gödels konstruktibles Universum L angenähert wird – oder aber es sehr weit von diesem entfernt ist. Das heißt: Ein ZFC-Modell teilt zentrale strukturelle Eigenschaften von L oder es unterscheidet sich stark davon. Die von Jensen genutzten Methoden ermöglichen es glücklicherweise auch, zu bestimmen, welche Seite der Dichotomie für ein gegebenes ZFC-Modell gilt. Die Antwort auf diese Frage hat weitreichende Konsequenzen für die Mathematik des Modells und löst viele wichtige mathematische Probleme.
Falls sich ein Modell gut durch das konstruktible Universum L approximieren lässt, dann gibt es darin konkret konstruierbare Mengen reeller Zahlen mit pathologischen Eigenschaften – etwas, das Mathematiker eigentlich gerne vermeiden würden. Außerdem passen viele Kandidaten für neue Axiome nicht zu einer solchen Nähe zum konstruktiblen Universum L. Das gilt insbesondere für stärkere Große-Kardinalzahl-Axiome: Eine gute Approximation durch das konstruktible Universum L lässt keine stärkeren große Kardinalzahlen zu.
Da viele Logikerinnen und Logiker die Existenz solcher Größen fordern, gehen sie davon aus, dass das konstruktible Universum L im Vergleich zum gesamten mathematischen Universum klein sein sollte.
Jenseits eines konstruktiblen Universums
Aus diesen Gründen haben Fachleute begonnen, größere Teilmodelle als L zu konstruieren und zu untersuchen. Unter anderem HOD, das größte kanonische Teilmodell. Dieses besteht ebenfalls aus Mengen, die explizit definierbar sind – allerdings betrachtet man hier Definitionen über dem gesamten mathematischen Universum. Im Gegensatz zur Konstruktion von L wird HOD also global statt lokal konstruiert. So erhält man ein weit größeres Teilmodell, über dessen Eigenschaften die ZFC-Axiome nur sehr wenig beweisen können.
Bemerkenswerterweise konnte Hugh Woodin 2011 beweisen, dass es für HOD ebenfalls eine Dichotomie gibt: ZFC-Modelle mit starken großen Kardinalzahlen werden entweder sehr gut durch HOD approximiert – oder sie sind sehr weit von diesem entfernt.
Dieses Ergebnis war sehr überraschend, weil die ZFC-Axiome allein solche starken Aussagen über die Struktur von HOD nicht beweisen können. Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie HOD durch die Existenz großer Unendlichkeiten beeinflusst wird.
Wie im Fall von Jensens Dichotomie hängen die Antworten auf wichtige mathematische Fragen davon ab, wie die HOD-Dichotomie entschieden wird. Im Gegensatz zu Jensens Ergebnis liefert Woodins Beweis jedoch keine brauchbaren Methoden, um herauszufinden, welchen Teil der Dichotomie ein Modell erfüllt. Tatsächlich ist noch nicht einmal klar, ob es sich bei Woodins Ergebnis um eine echte Dichotomie handelt, denn bisher ließen sich alle Modelle (die unter der Annahme der Konsistenz von ZFC mit Großen-Kardinalzahl-Axiomen konstruiert wurden) gut durch HOD annähern. Vielleicht gibt es also gar keine Modelle, die weit von HOD entfernt sind.
Ergebnisse von Woodin legen sogar nahe, dass zentrale Forschungsbestrebungen der modernen Mengenlehre nur dann gelingen können, wenn sich das mathematische Universum stets durch HOD annähern lässt.
Das veranlasste Woodin, die sogenannte »HOD-Vermutung« zu formulieren: Sie besagt, dass starke Große-Kardinalzahl-Axiome eine gute Annäherung des mathematischen Universums durch HOD implizieren. Ein Beweis dieser Vermutung würde bedeuten, dass große Kardinalzahlen eine Approximation beliebiger Mengen durch definierbare Mengen ermöglichen – und somit für eine überraschende Ordnung im mathematischen Universum sorgen.
Zum Beweis der HOD-Vermutung hat Woodin ein umfassendes Programm entwickelt: Ziel ist die Konstruktion des »ultimativen inneren Modells« (Ultimate L), eines kanonischen Teilmodells, das die gesamte Große-Kardinalzahl-Struktur des mathematischen Universums absorbiert. Zudem soll dessen kanonische Struktur es ermöglichen, den Wahrheitswert nahezu aller praktischen mathematischen Aussagen in diesem Modell zu bestimmen.
Jedes Programm braucht ein Gegenprogramm
Aber Woodin hat zu diesem Programm im Jahr 2019 ein Gegenprogramm initiiert: Zusammen mit Joan Bagaria und Peter Koellner untersucht er extrem starke Axiome, sogenannte Große-Kardinalzahl-Axiome jenseits des Auswahlaxioms (Englisch: Large cardinals beyond choice, kurz: LCBC), und bewies, dass ihre Widerspruchsfreiheit die HOD-Vermutung widerlegen würde.
In den 1970er-Jahren bewies Kenneth Kunen, dass die Erweiterung von ZFC um bestimmte sehr starke Große-Kardinalzahl-Axiome inkonsistent ist. Dieser Beweis stützt sich an zentralen Stellen auf das Auswahlaxiom. Seither steht die Frage im Raum, ob solche starke Große-Kardinalzahl-Axiome mit den restlichen Axiomen der Mengenlehre (ZF) kompatibel sind. Die meisten Fachleute erwarteten, dass auch die ZF-Axiome mit LCBC zu Widersprüchen führen.
Durch das von Bagaria, Koellner und Woodin gestartete Gegenprogramm sind viele Mengentheoretiker in den vergangenen zehn Jahren allerdings von dieser Erwartung abgerückt.
Denn die dabei erlangten Ergebnisse legen nahe, dass sich für LCBCs in ZF eine Theorie entwickeln lässt, die keinerlei Hinweise auf widersprüchliches Verhalten liefert. Das lässt sich als Indiz für die Konsistenz dieser Axiome mit ZF deuten.
Man sucht nach natürlichen Annahmen, die »Chaos« im mathematischen Universum erzeugen
Diese Widerspruchsfreiheit würde ein Scheitern der HOD-Vermutung nach sich ziehen. Denn wie Woodin gezeigt hat, kann man ZF-Modelle mit LCBC verwenden, um ZFC-Modelle mit sehr großen Kardinalzahlen zu konstruieren, die weit von HOD entfernt sind. Weiterhin wurden aktuell viele Ergebnisse bewiesen, die kanonische Verstärkungen der HOD-Vermutung aus Annahmen widerlegen, deren Widerspruchsfreiheit als deutlich gesicherter angesehen wird.
All diese Entwicklungen lassen jedoch die Frage offen, ob es auch natürliche Kandidaten für neue Axiome (also für Erweiterungen von ZFC) gibt, die beweisen, dass das mathematische Universum weit von HOD entfernt ist. Hier fragt man nicht nur nach einem Scheitern der HOD-Vermutung (also der Existenz eines ZFC-Modells, das weit von seinem HOD entfernt ist). Sondern man sucht nach natürlichen Annahmen, die so viel »Chaos« im mathematischen Universum erzeugen, dass sie die Existenz von Mengen implizieren, die sich nicht gut durch definierbare Mengen approximieren lassen. Sämtliche untersuchten Kandidaten für neue Axiome – einschließlich aller bisher betrachteten Große-Kardinalzahl-Axiome – besitzen diese Eigenschaft nicht. Sie können nicht beweisen, dass es Mengen gibt, die nicht in HOD enthalten sind. Und somit sind sie alle kompatibel mit der Annahme, dass HOD das mathematische Universum gut annähert.
Fordernde Kardinalzahlen
In einer noch nicht begutachteten Arbeit, die Juan Aguilera von der TU Wien, Joan Bagaria von der Universität Barcelona und ich veröffentlicht haben, stellen wir hierfür einen neuen Typ großer Kardinalzahlen vor: fordernde Kardinalzahlen. Überraschenderweise (und im Gegensatz zu allen zuvor untersuchten großen Unendlichkeiten) implizieren diese die Existenz von Mengen, die nicht explizit definierbar sind – und damit nicht in HOD enthalten sind.
Hierfür haben wir die Großen-Kardinalzahl-Axiome jenseits des Auswahlaxioms, die LCBC, so weit abgeschwächt, dass sie nicht mehr im Konflikt zum Auswahlaxiom stehen. Dabei behalten fordernde Kardinalzahlen aber einen großen Teil der Kombinatorik der ursprünglichen Axiome. In unserer Arbeit konnten wir beweisen, dass die Konsistenzstärke dieser neuen Axiome unterhalb derer von ZFC-Erweiterungen liegt, die allgemein als widerspruchsfrei angesehen werden. Darüber hinaus sind unsere neuen Unendlichkeiten äquivalent zu natürlichen Verstärkungen von Grundprinzipien. Das liefert starke Argumente für die Natürlichkeit dieser Kardinalzahlen.
Fordernde Kardinalzahlen implizieren nicht nur, dass Mengen außerhalb von HOD existieren, sondern auch, dass es Mengen gibt, die sich nicht durch Elemente von HOD annähern lassen. Das bedeutet, man erhält durch eine Kombination von fordernden Kardinalzahlen mit großen Kardinalzahlen (die stark genug sind, um Woodins HOD-Dichotomie zu implizieren) die Annahme, dass das mathematische Universum weit von HOD entfernt ist.
Somit sind fordernde Kardinalzahlen Beispiele für große Unendlichkeiten, deren Existenz das Mengenuniversum so kompliziert macht, dass es nicht durch definierbare Mengen genähert werden kann. Insbesondere würde die Widerspruchsfreiheit dieser Kombination von Große-Kardinalzahl-Axiomen mit ZFC die HOD-Vermutung widerlegen.
In der noch nicht begutachteten Arbeit konnten wir diese Konsistenz allerdings nur beweisen, indem wir annahmen, dass LCBC mit ZF konsistent ist. Es scheint jedoch nicht unrealistisch, dass die gewünschte Widerspruchsfreiheit auch aus der Konsistenz von schwächeren Axiomensystemen abgeleitet werden kann, die von den meisten Mengentheoretikern als widerspruchsfrei angesehen werden.
Die Erforschung der neu entdeckten Unendlichkeiten verspricht weitreichende Einblicke in die Natur der Mathematik und das Wesen großer Unendlichkeiten
Insgesamt liefern unsere Ergebnisse weitere Indizien dafür, dass die HOD-Vermutung falsch ist. Und sie zeigen einen klaren Weg auf, dies durch eine tiefergehende Analyse fordernder Kardinalzahlen zu beweisen. Außerdem präsentieren sie ein neues Szenario, in dem die Existenz sehr großer Unendlichkeiten das mathematische Universum so komplex macht, dass es nicht mehr durch explizit definierbare Mengen genähert werden kann.
Selbst wenn sich die HOD-Vermutung auf diesem Weg nicht widerlegen lässt oder sich die betrachteten Axiome als inkonsistent oder unnatürlich erweisen, hätte das weitreichende Folgen für unser Verständnis großer Unendlichkeiten. Insbesondere zeigen unsere Resultate, dass ein Beweis der HOD-Vermutung mit tiefgreifenden neuen Erkenntnissen über das Verhalten großer Kardinalzahlen einhergehen muss, die uns dazu zwingen würden, zentrale Vorstellungen darüber zu revidieren.
Damit verspricht die Erforschung der neu entdeckten Unendlichkeiten – unabhängig davon, ob sie zur Widerlegung der HOD-Vermutung führen oder nicht – weitreichende Einblicke in die Natur der Mathematik und das Wesen großer Unendlichkeiten.
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