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Depression: Warum eine Partydroge Suiziden vorbeugen könnte

Das Narkosemittel Ketamin dämpft Depressionen schon nach einer halben Stunde. Damit könnte es den Grundbaustein für das erste Medikament liefern, das akute Suizidgedanken vertreibt.
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In der Psychiatrie gilt der Arzneistoff Ketamin als eine der größten Entdeckungen der vergangenen 50 Jahre – dank seines einzigartig schnellen antidepressiven Effekts. Er lindert die Symptome in gerade einmal 30 Minuten, anders als die bekannten Antidepressiva, die erst nach Wochen oder Monaten anschlagen. Und er wirkt sogar bei jenem Drittel der Patienten, die nicht auf die üblichen Therapieverfahren ansprechen.

Obwohl viele Theorien in Umlauf sind, weiß man bislang nicht genau, wie Ketamin eine Depression bekämpft. Neue Forschung enthüllte jetzt aber einen Mechanismus, der dessen antidepressive Eigenschaften zumindest teilweise erklären könnte. Zwei kürzlich in »Nature« veröffentlichte Studien entdeckten ein besonderes Muster neuronaler Aktivität in einer Region mit dem Namen »laterale Habenula« (LHb). Ketamin blockierte deren Aktivität bei Ratten, die zu depressiven Symptomen neigten.

Die Habenulae (auch: Epiphysenstile)

Diese dünnen Strukturen liegen im Zwischenhirn über dem Thalamus und verbinden ihn mit der Zirbeldrüse. Sie bestehen aus einem medialen (mittig gelegenen) und einem lateralen (seitlich gelegenen) Teil. Letzterer beeinflusst die Aktivität dopaminerger Neurone in der ventralen tegmentalen Area, der Substantia nigra sowie serotonerger Neurone in den Raphékernen. Die Habenulae, insbesondere deren seitliche Teile, spielen offenbar auch eine Rolle bei den zirkadianen Rhythmen: Beide feuern tagsüber stärker als nachts.

Mehr dazu online auf der Open-Access-Enzyklopädie Scholarpedia unter dem Stichwort »Habenula«

Ursprünglich war Ketamin 1970 als Anästhetikum lizensiert worden, macht seitdem aber eher als eine Partydroge Schlagzeilen, die Out-of-body-Erfahrungen, Halluzinationen und andere psychoseähnliche Effekte verursacht. Seine antidepressiven Eigenschaften wurden vor fast 20 Jahren entdeckt. Ketamin hat keinen direkten Einfluss auf chemische Botenstoffe wie Serotonin, an denen die üblichen Antidepressiva ansetzen, sondern wirkt über das Zusammenspiel mit einem anderen Botenstoff, Glutamat. Er wird meist nicht mit Stimmung, sondern mit der Plastizität, also dem Wachstumspotenzial des Gehirns, in Verbindung gebracht. Glutamat könnte das Wachstum neuer Verbindungen zwischen Nervenzellen fördern, so eine verbreitete Theorie zu seiner antidepressiven Wirkung.

»Wir bieten eine neue Perspektive auf die Wirkung der Droge«, sagt die Neurowissenschaftlerin Hailan Hu von der Zhejiang-Universität in China, Leiterin der Arbeitsgruppe, die die beiden Studien durchführte. Wenn sich ihre Annahmen bestätigen, hat ihr Team neue Ansatzpunkte im Kampf gegen Depressionen gefunden, der laut WHO häufigsten Ursache von Erwerbsunfähigkeit.

Die laterale Habenula, eine kleine zentral gelegene Hirnstruktur, verhält sich wie der böse Zwilling des Belohnungszentrums: Sie verarbeitet unerwartet unerfreuliche Ereignisse

Die zwei neuen Studien widmen sich der Aktivität der lateralen Habenula, einer kleinen, zentral gelegenen Hirnregion, die sich wie der böse Zwilling des Belohnungszentrums verhält: Sie verarbeitet unerwartete unerfreuliche Ereignisse. Etwa wenn ein Tier gelernt hat, dass am Ende eines Labyrinths Futter wartet, es dort aber keines vorfindet: Dann wird die laterale Habenula aktiv und meldet einen Mismatch zwischen Erwartung und Realität. Das verschaffte ihr die Hauptrolle in einem »Netzwerk der Enttäuschung«. Ist sie überaktiv, kann sie so das Belohnungsempfinden unterdrücken, das normalerweise aus angenehmen Tätigkeiten erwächst; ein Symptom, das Anhedonie genannt wird und zu andauernder Apathie und Hilflosigkeit führen kann. Studien an Tieren legen nahe, dass eine hyperaktive laterale Habenula zu Depressionen beiträgt. Aber die Details liegen noch im Dunkeln.

Die erste Studie unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Yan Yang, ebenfalls von der Zhejiang-Universität, identifizierte ein spezifisches Aktivitätsmuster aus schnellen Salven in der lateralen Habenula von Ratten, die sich depressionsähnlich verhalten. Die übliche neuronale Aktivität hingegen, bei der Neurone in bestimmten Abständen feuern, schien nicht mit depressiven Symptomen in Verbindung zu stehen. Das ließ vermuten, dass speziell die Feuersalven und weniger die verstärkte Habenula-Aktivität selbst mit Depressionen zusammenhingen.

»Es ist wie das Feuern eines Maschinengewehrs im Vergleich zu einem einzelnen Schuss. Es trägt Informationen effizienter in tiefer liegende Hirnregionen«
Hailan Hu, Professorin für Neurowissenschaften an der chinesischen Zhejiang-Universität

Warum genau diese Salven so wichtig sind, ist noch unklar. Aber die Forscher vermuten, dass sie die Kommunikation mit anderen Regionen verbessern. »Es ist wie das Feuern eines Maschinengewehrs im Vergleich zu einem einzelnen Schuss. Es trägt Informationen effizienter in tiefer liegende Hirnregionen«, erläutert Hailan Hu. Um LHb-Neurone zum Abfeuern solcher Salven zu animieren, setzte ihr Team Optogenetik ein, eine Technologie, die Neurone über Licht aktiviert. Dies führte zu vermehrtem depressivem Verhalten, was darauf hindeutet, dass die Salven tatsächlich Depressionen verursachen und nicht nur ein Nebenprodukt darstellen.

Die Arbeitsgruppe wurde auf Ketamin aufmerksam, nachdem sie eine Substanz injiziert hatte, die NMDA-Rezeptoren in den LHbs von Ratten blockierte und sich bei ihnen eine starke antidepressive Wirkung zeigte. Die Rezeptoren reagieren auf Glutamat und lassen daraufhin Kalzium in die Zellen strömen, woraufhin diese wiederum feuern. Ketamin blockiert ebenfalls NMDA-Rezeptoren, weshalb das Team den Versuch mit Ketamin wiederholte und erneut innerhalb von einer Stunde depressive Symptome bei den Ratten linderte.

»Der Einsatz von Ketamin in nur einer Hirnregion reicht schon aus, um eine schnelle antidepressive Wirkung hervorzurufen«, sagt Hu. Untersuchungen an Hirngewebsproben ergaben: Während Ketamin die Salven innerhalb von Minuten verstummen ließ, hatte Fluoxetinhydrochlorid, in den USA besser bekannt unter dem Handelsnamen Prozac, in diesem Zeitraum keinen solchen Effekt.

Die zweite Studie unter der Leitung der Neurowissenschaftlerin Yihui Cui suchte nach den Ursachen der Salven. Die Forscher fanden bei depressiven Ratten größere Mengen eines Proteins, Kir4.1, in so genannten Astrozyten – Zellen, die die neuronale Aktivität beeinflussen. Das Protein kurbelt die Feuersalven in den LHb-Neuronen an. Hebt man den Level an Proteinen, nehmen auch depressionsähnliche Verhaltensweisen zu; umgekehrt nehmen sie ab, wenn man die Proteine blockiert.

Ein zu einfaches Modell?

Die Studien geben zwar keinen Aufschluss darüber, wie genau die Feuersalven zu Depressionen beitragen. Doch die Forscherinnen haben eine Hypothese. Die LHb ist mit Teilen des emotionsverarbeitenden limbischen Systems sowie mit Belohnungszentren verbunden, in denen chemische Botenstoffe wie Dopamin und Serotonin Stimmung und Freude beeinflussen. Die LHb hemmt Aktivität in diesen Regionen, so dass die Feuersalven noch effektiver jene Systeme bremsen könnten, die aus angenehmen Aktivitäten gewöhnlich ein Gefühl der Belohnung ziehen. »Unsere Ergebnisse bieten ein einfaches Modell, wie Ketamin zur Enthemmung des Belohnungszentrums führen und Depressionen schnell lindern kann«, sagt Hu.

Nun sucht sie nach entsprechenden Angriffspunkten für Therapien, darunter das Protein Kir4.1 sowie spezifische Kalziumkanäle (»t-type voltage-sensitive calcium channels (t-VSCCs)«); ein weiteres Ziel, das sich aus den beobachteten Feuersalven ableiten lässt. Das Team wolle testen, ob Drogen, die t-VSCCs blockieren, antidepressiv wirken.

Dass es wirklich so einfach sein könnte, glauben allerdings nicht alle Wissenschaftler, die auf dem Gebiet forschen. »In unserer Untersuchung war die Habenula bei depressiven Patienten vermindert aktiv, was mit den genannten Daten nicht übereinstimmt«, berichtet der Neurowissenschaftler Jonathan Roiser vom University College London. Doch wenn sich diese Diskrepanzen auflösen ließen, wäre die Erforschung der LHb ein viel versprechender Weg zu neuen Ansätzen in der Depressionstherapie. »Es ist faszinierend, dass Ketamin die habenulare Hyperaktivität dämpft«, sagt der Psychiater Matthew Klein von der University of California in San Diego. »Weitere Studien werden zeigen, ob der schnelle antidepressive Mechanismus auch bei menschlichen Patienten greift.«

Wenn Sie Hilfe benötigen, wenn Sie verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater, die Notfallambulanzen von Kliniken und die Telefonseelsorge.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter den Nummern: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 sowie per E-Mail und im Chat.

Die neuen Erkenntnisse haben eine Reihe therapeutischer Implikationen. Zu verstehen, wie Ketamin so schnell wirken kann, könnte einen tieferen Einblick in die Funktionsweise von Depressionen vermitteln. Und es könnte helfen, eine neue Generation von ketaminbasierten Therapien zu entwickeln, die nicht dieselben Nebenwirkungen wie die Droge haben, etwa Dissoziationen oder Blasenprobleme. Viele Pharmaunternehmen verfolgen dieses Ziel, doch zu wissen, wie genau Ketamin die erwünschten Effekte erzielt, würde ihrer Arbeit zugutekommen.

Klinische Studien untersuchen derzeit, wie Ketamin langfristig wirkt, wie sicher es ist und welche Dosis am besten ist. Noch erhalten Patienten Ketamin in Krankenhäusern per Infusion, was die Behandlung erschwert. »Es wäre großartig, wenn wir die schnelle Wirkung auch mit einer oralen Gabe erreichen könnten«, sagt Klein. »Der spannendste Vorteil von Ketamin läge in der Behandlung von Suizidgedanken, weil wir dafür im Moment keine schnell wirkenden Mittel haben. Das könnte Leben retten.«

Dieser Artikel erschien im englischen Original unter dem Titel »Getting the Inside Dope on Ketamine's Mysterious Ability to Rapidly Relieve Depression« im US-amerikanischen Psychologiemagazin »Mind«.

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