Aufholsprint in Zeitlupe: Warum Europa (noch) keine wiederverwendbaren Raketen hat

In dem Moment, in dem sich im Oktober 2024 die Greifarme des Startturms sanft um die hochhaushohe Unterstufe des Starship legten und diese nach einem Ausflug ins All wieder auf der Erde in Empfang nahmen, sahen die Raumfahrzeuge der Europäer auf der anderen Seite des Atlantiks ziemlich alt aus. Denn die neue europäische Trägerrakete Ariane 6, die nur wenige Monate zuvor zu ihrem Jungfernflug gestartet war, sieht nicht nur ihrer Vorgängerin Ariane 5 verdächtig ähnlich – sie ist es auch. Eine herkömmliche Wegwerfrakete. Anders als das zukunftsweisende Starship von Elon Musks Firma SpaceX entlockt sie Raumfahrtfans keine Freudenschreie. Nach jedem der maximal zehn Starts pro Jahr wird sie wie schon die Raketen der Apollo-Zeit ins Meer fallen, um dann allenfalls Fischen noch einmal als Unterschlupf zu dienen.
In den USA hingegen hoben im Jahr 2024 allein 134 Falcon-9-Raketen ab. Bei knapp 130 davon landete die Hauptstufe zurück auf der Erde, um anschließend wieder einsatzbereit gemacht zu werden. Erst im Januar 2025 hob die Trägerrakete NewGlenn von Musks Konkurrent Jeff Bezos erfolgreich ab. Zwar misslang die Landung der Hauptstufe. Aber mit der Erfahrung der ebenfalls wiederverwendbaren kleineren Schwesterrakete NewShepard im Rücken könnte dies womöglich schon beim nächsten Versuch im späten Frühling 2025 gelingen. Zudem plant mit dem Unternehmen Rocket Lab der erste Betreiber einer Kleinrakete, dass diese nach dem Start wieder landet.
Es gilt als sicher, dass wiederverwendbare Raketen in Zukunft die Kosten für den Transport von Fracht und Menschen in den Weltraum drücken werden. Dramatisch sinken dürften die Preise auf lange Sicht zusätzlich, sobald SpaceX auch die Landung der Oberstufe und damit sämtlicher Teile seines Raumtransportsystems gelingt. In Anbetracht dieser Pläne stellt sich die Frage, ob die Europäische Weltraumbehörde ihre mehrere Jahre währende Raketenkrise tatsächlich gemeistert hat, wie ESA-Direktor Josef Aschbacher nach dem Ariane-6-Erststart stolz verkündete. Oder ob sie angesichts des gestiegenen Bedarfs an Raumtransportmöglichkeiten nicht ungebremst auf eine noch größere Krise zusteuert.
Die ESA kennt ihren Entwicklungsrückstand
Es ist nicht so, dass die Manager und Ingenieure der ESA die veränderte Lage nicht erkannt hätten. Sie ließen schon 1994 Konzepte für wiederverwendbare Raumfahrzeuge untersuchen. Umgesetzt wurde jedoch keine der Ideen. Immerhin: Mittlerweile entwickelt die ESA zusammen mit der französischen Raumfahrtagentur CNES die wiederverwendbare Versuchsrakete Themis.
Das 28 Meter hohe Raumfahrzeug soll senkrecht abheben und auf ausklappbaren Landebeinen (gebaut von MT Aerospace in Augsburg) wieder aufsetzen. Ihr Herzstück ist das parallel dazu entwickelte Triebwerk Prometheus. Der Motor verbrennt wie das Starship und die NewGlenn tiefgekühlten Sauerstoff sowie Methan und entwickelt dabei eine Schubkraft, die bis zu 100 Tonnen Nutzlast transportieren kann. Damit ist er etwa so stark wie das Vulcain-2-Triebwerk der Ariane 6.
Da Methan bei minus 162 Grad Celsius und damit in einem ähnlichen Temperaturbereich flüssig wird wie Sauerstoff, vereinfacht das die Handhabung der Treibstoffe im Vergleich zu Wasserstoff (minus 253 Grad Celsius), der in den Ariane-Raketen verwendet wird. Entscheidend ist aber, dass sich der Motor mehrmals zünden und vor allem auf bis zu 30 Prozent seiner Nennleistung drosseln lässt, um den freien Fall der Rakete zu bremsen und sie sanft aufsetzen zu lassen. Themis soll noch im Jahr 2025 vom Raumfahrtzentrum Esrange in Schweden zunächst etwa 100 Meter hoch aufsteigen, ein zweiter Prototyp später noch deutlich höher.
Themis – nur ein Demonstrator?
Allerdings handelt es sich nur um Demonstratoren: Die Raumfahrzeuge bestehen lediglich aus einer einzigen Stufe und können keine Nutzlast ins All transportieren. Sie entstehen im Rahmen des 2004 initiierten Future Launchers Preparatory Programme (FLPP). Damit entwickelt die ESA Technologien, die sie als wichtig empfindet, aber nicht zwangsläufig einsetzen will. Vielmehr möchten die Verantwortlichen vorbereitet sein, um im Bedarfsfall nicht blank dazustehen. Diese Technologie-Prophylaxe lässt sich die europäische Behörde einiges kosten. An die beteiligten Herstellerfirmen hat sie fast eine halbe Milliarde Euro verteilt.
Die technischen Hürden für eine wiederverwendbare Rakete sind hoch
Aber kommt so ein Forschungsprojekt in Anbetracht des gigantischen Vorsprungs der US-Amerikaner nicht viel zu spät, und ist es überdies nicht zu teuer? Schließlich sollte die 2019 initiierte Themis-Rakete ursprünglich schon 2023 abheben. SpaceX gibt zudem an, für die Entwicklung der gesamten flugfähigen Falcon 9 inflationsbereinigt umgerechnet etwa 470 Millionen Euro ausgegeben zu haben.
Doch so simpel ist die Rechnung nicht. SpaceX gelang es erst fünf Jahre nach dem Erstflug der Falcon 9, die Hauptstufe erfolgreich zu landen. Auch Blue Origin erreichte dieses Ziel beim Erstflug der NewGlenn nicht, obwohl seine Ingenieure und Ingenieurinnen seit fast 20 Jahren daran arbeiten und zudem auf spezifisches Knowhow zur kleinen, wiederverwendbaren, aber nur suborbitalen Schwesterrakete NewShepard zurückgreifen können.
Bauteile müssen extreme Temperaturen aushalten
Die technischen Hürden für eine wiederverwendbare Rakete sind hoch. Neben einer ausgeklügelten Software benötigt eine solche auch Steuerungsflügel (»Grid Fins«) sowie wiederentzündbare und drosselbare Triebwerke. Da die Raketenstufen mit etwa 8000 Kilometern in der Stunde in die Atmosphäre zurückfallen, müssen manche Bauteile an besonders exponierten Stellen extreme Temperaturen aushalten. Anfänglich schmolzen die aus Aluminium bestehenden Grid Fins der Falcon 9; nun werden sie aus einer speziellen Titanlegierung gefertigt.
Doch selbst, wenn die europäischen Ingenieure und Ingenieurinnen die technischen Probleme meistern, heißt das noch lange nicht, dass tatsächlich eines Tages eine wiederverwendbare ESA-Rakete abhebt.
Das liegt zum einem an der begrenzten Startfrequenz von europäischen Raketen, zum anderen an der harten Kurswende in der Frage, wie die Agentur ihren Mitgliedsstaaten zukünftig Zugang zum Weltraum verschaffen will. Denn die ESA selbst soll nach dem Willen ihrer Mitgliedsländer gar keine weiteren Trägerraketen mehr entwickeln. Für die Ariane 6 gab die Führungsetage noch bis ins Detail vor, wie die Rakete gebaut werden soll, und bis zum 15. Start ist die Agentur auch noch Betreiberin. Danach übergibt sie den Träger als flugtauglich eingestuft dem Hersteller ArianeSpace.
Dieses bislang gängige Verfahren ist ab sofort passé. Stattdessen hat die ESA die European Launcher Challenge ausgeschrieben und gibt in einem ersten Schritt darin nur noch vor, für welche Gewichtsklasse sie eine Transportgelegenheit benötigt. Bis zum 5. Mai 2025 können europäische Unternehmen Vorschläge einreichen, mit welchem Typ Trägerrakete sie diese ins All befördern würden. Für Toni Tolker-Nielsen, Direktor für Raumtransport bei der ESA, ist die Sache klar: »Wir werden nicht mehr definieren, wie eine Rakete aussehen und ob sie wiederverwendbar sein soll«, sagt er. »Das müssen die Unternehmen bestimmen.« In einem zweiten Schritt erhalten die Gewinner für den Zeitraum von 2026 an bis zum Jahr 2030 Startaufträge für konkrete Missionen. Um ihre Trägerraketen für die geforderten Leistungen zu entwickeln und zu starten, gibt es für die Gewinner finanzielle Leistungen von maximal 169 Millionen Euro.
Dabei wird mit dem bisherigen Georeturn-Prinzip gebrochen: In der Vergangenheit erhielt jeder Staat den Großteil seines Finanzbeitrags an die ESA in Form von Industrieaufträgen wieder zurück. Bei der Ministerratskonferenz 2025 in Bremen sollen hingegen diejenigen Mitgliedsländer die Unternehmen mit Fördergeldern und Aufträgen versehen, aus denen sie stammen – allerdings nachdem die ESA sie ausgewählt hat. Das Verfahren orientiert sich am US-amerikanischen Commercial Orbital Transportation Service (COTS), ein Programm, mit dem die Amerikaner ab 2005 ihren Raumtransport erfolgreich reorganisierten.
Ob das europäische Pendant jedoch zu wiederverwendbaren Raketen führt, ist fraglich. Bauteile wie Turbopumpen, Tanks und Düsen, die mehrmals, vielleicht dutzende Male zum Einsatz kommen, müssen deutlich solider – und somit kostspieliger – konstruiert werden. Zudem müssen zurückgekehrte Fahrzeuge aufwändig gewartet werden. Doch dieser Aufpreis kann sich rentieren. Schon 2017 sagte SpaceX-Präsidentin Gwynne Shotwell, eine Hauptstufe der Falcon 9 noch mal zu verwenden, würde die Hälfte ihrer Kosten einsparen. Seither dürfte sich diese Rechnung zudem erheblich verbessert haben. Im Februar 2025 startete dieselbe Hauptstufe zum 26. Mal, und im März 2025 wurde eine andere bereits genutzte Hauptstufe in einer Zeit von nur neun Tagen wieder flott gemacht.
Hohe Startrate ist Voraussetzung für Wiederverwendbarkeit
Die Rendite mehrmaliger Einsätze lässt sich jedoch erst einfahren, wenn eine Rakete sehr häufig startet. Die Ariane 6 soll aber auch in Zukunft nicht häufiger als zehnmal pro Jahr fliegen.
Der Grund: Die Hauptaufgabe der Ariane ist es, den Europäern den Zugang zum Weltraum zu sichern und institutionelle Nutzlasten zu transportieren, beispielsweise für Forschungs- oder Spionagesatelliten. Das ist im Vergleich zu den USA allerdings seltener der Fall. »Dafür benötigen wir jährlich nur etwa vier Starts«, sagt Tolker-Nielsen. Die Ariane 6 starte nur deswegen häufiger und transportiert dabei auch kommerzielle Lasten, um den Anteil der Fixkosten in der Gesamtrechnung zu senken und durch eine Startroutine ihre Zuverlässigkeit zu sichern.
Eine wiederverwendbare Ariane 6 hätte sich bei dieser Startrate nicht gerechnet. Erschwerend kam zuletzt hinzu, dass Mitgliedstaaten wie Deutschland aus der strategischen Ariane-Allianz ausscherten. So ließ ausgerechnet die Bundeswehr ihre Spionagesatelliten an Bord einer Falcon 9 starten – aus Kostengründen.
»Sollten wir die Raketenstufen einfach weiterhin ins Meer schmeißen? Ich denke nicht. Wir brauchen auch im Raumtransport eine Kreislaufwirtschaft«Toni Tolker-Nielsen, Direktor für Raumtransport bei der ESA
Daher läuft die Kritik an der ESA, die Agentur sei zu langsam, um mit der Entwicklungsgeschwindigkeit US-amerikanischer Unternehmen mitzuhalten, weitgehend ins Leere. Die Frage ist nicht, ob die ESA Wiederverwendbarkeit kann, sondern vielmehr ob ihre Mitgliedsstaaten sie wollen. Das kann sich künftig ändern.
»Wir werden in den kommenden zehn Jahren Startraten erleben, die eine Wiederverwendbarkeit rentabel machen«, mutmaßt Tolker-Nielsen. »Das müssen zwar letztlich die Unternehmen entscheiden, aber ich bin mir sicher, es denken bereits alle darüber nach.« Tatsächlich soll das Prometheus-Triebwerk schon im Jahr 2026 die teilweise wiederverwendbare Kleinrakete des französischen Start-ups MaiaSpace antreiben, ein Ableger der ArianeGroup. Damit sich aber auch rein kommerzielle Entwickler von Schwerlastraketen dazu entscheiden, sie als wiederverwendbare Fahrzeuge zu bauen, müssten sich die ESA-Mitgliedsstaaten aufraffen, ihnen eine ausreichend große Zahl an Starts zu garantieren.
Abgesehen von den technischen und wirtschaftlichen Minenfeldern, die es zu überwinden gilt, könnte ein bisher noch weitgehend unbeachteter Aspekt an Bedeutung gewinnen: die Nachhaltigkeit. »Sollten wir die Raketenstufen einfach weiterhin ins Meer schmeißen?«, fragt Tolker-Nielsen. »Ich denke nicht. Wir brauchen auch im Raumtransport eine Kreislaufwirtschaft.« Dieses Ziel könnte nach Ansicht des Dänen ein Treiber für die Wiederverwendbarkeit werden. »Vielleicht wird Nachhaltigkeit ja in Zukunft eine Voraussetzung, um überhaupt eine Startlizenz zu bekommen.« Dann würde der Raketenfriedhof am Meeresgrund zwar nicht so schnell verschwinden, aber zumindest nicht mehr größer werden.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.