Genetik: »Unser Wissen über Autismus wird gerade auf den Kopf gestellt«

Herr Bourgeron, was halten Sie für die wichtigste Erkenntnis der Autismusforschung in den vergangenen Jahrzehnten?
Dass Autismus größtenteils genetisch bedingt ist. Das belegen seit den 1970er Jahren Studien mit Tausenden von Zwillingen. Die Erblichkeit von Autismus liegt demnach bei 87 Prozent. Die große Vielfalt autistischer Symptome hängt mit den genetischen Unterschieden der Menschen zusammen. Es handelt sich um eine Tatsache, die heute wissenschaftlich international anerkannt ist. Die bisher identifizierten Gene helfen uns zu verstehen, wie eine autistische Person funktioniert. So können wir sie besser begleiten.
Lassen sich bei autistischen Menschen immer solche Genveränderungen finden?
Seitdem wir zu Beginn der 2000er Jahre die ersten Gene identifiziert haben, ist die Forschung spektakulär vorangeschritten. Inzwischen offenbart eine Genomanalyse in ungefähr 20 Prozent der Autismusfälle eine schon bekannte genetische Ursache, also eine bestimmte Genveränderung, deren Rolle international mehrere Labore bereits bestätigt haben. Genauer gesagt, trifft das bei etwa 30 Prozent der Fälle von Autismus mit intellektuellen Defiziten wie verzögertem Spracherwerb oder Lernschwächen zu. Ohne solche Auffälligkeiten sind es nur zehn Prozent der Fälle. Man spricht hier von monogenetischen Formen des Autismus, da offenbar bereits eine einzige genetische Variation ausreicht, um das Risiko für Autismus derart zu erhöhen.
Und wie sieht es bei Formen von Autismus aus, die nicht einem solchen bekannten Gen zuzuordnen sind?
Zunächst einmal: Die Identifizierung von Genen für den monogenetisch bedingten Autismus ist noch nicht abgeschlossen. Jedes Jahr findet man weitere Genvarianten, welche die Diagnostik verbessern. Es gibt allerdings auch polygenetische Autismusformen. Das menschliche Genom umfasst drei Milliarden Basen; sie sind sozusagen die Buchstaben der DNA-Information. Zwischen zwei Individuen variiert hierbei ungefähr jede tausendste Base. Folglich sind zwischen zwei beliebigen Menschen insgesamt drei Millionen Abweichungen denkbar. Wir alle besitzen genetische Varianten. Einige davon spielen bei der Entwicklung des Gehirns eine Rolle und tragen zur Neurodiversität bei (zur natürlichen Vielfalt der Funktionsweisen verschiedener Gehirne, Anm. der Red.). Kürzlich haben wir das Genom von 18 000 Personen untersucht und festgestellt, dass sich bei den meisten von ihnen solche Varianten finden, aber eben unterschiedlich viele. Erst wenn sie sich häufen und eine gewisse Grenze überschreiten, führt das bisweilen zu Autismus. Beide Elternteile können Tausende solcher Basenvariationen in ihrer DNA besitzen, ohne Probleme zu haben. Aber wenn sich diese beim Kind akkumulieren, kann das zu Autismus führen.
»Beide Elternteile können Tausende solcher Basenvariationen in ihrer DNA besitzen, ohne Probleme zu haben. Aber wenn sich diese beim Kind akkumulieren, kann das zu Autismus führen«
Manche Gene agieren eher allein, andere in Gruppen. Das ist alles ganz schön kompliziert …
Ja, zum Glück! Wir sprechen immerhin von unserem Gehirn und von sozialen Interaktionen. Man kann sich das wie bei einem Sinfonieorchester vorstellen: Verstummt etwa bei einem Violinkonzert die Solistin, bemerkt man den Unterschied sofort. Analog dazu trägt ein monogenetischer Faktor sehr viel zur Funktion des Gehirns bei. Fällt er aus, hat das große Konsequenzen. Wenn dagegen die Geige am vierten Pult aufhört zu spielen oder eine Note nicht ganz trifft, ist das nicht so schlimm. Diese Orchestermusiker sind das Äquivalent polygenetischer Faktoren: Einzeln betrachtet hat jeder eine kleinere Rolle, aber zusammen spielen sie eine Sinfonie oder ein Violinkonzert.
Was passiert im Gehirn von autistischen Menschen?
Einige Gene sind an der Bildung oder der Funktion der Synapsen beteiligt. Andere wiederum regulieren weitere Gene, die die Hirnentwicklung steuern. Bei den Erstgenannten stellte man fest, dass sie beispielsweise dabei helfen, die synaptische Stärke zu modulieren. Durch einen Lernvorgang verstärken sich meist die beteiligten Synapsen. Ein Teil davon wird aber nachts, während wir schlafen, wieder geschwächt. Dieses Hin und Her wird auch synaptische Homöostase genannt und verleiht dem Ganzen eine gewisse Stabilität. Offenbar läuft der Vorgang bei autistischen Personen anders ab. Bei einigen kann die Kommunikation zwischen den Nervenzellen zu stark sein. Dann verbreiten sich Nervenimpulse blitzartig über Millionen von Neuronen, was manchmal sogar zu epileptischen Anfällen führt. Etwa 25 Prozent der Autisten leiden darunter. Mehrere Gene, die ursprünglich mit Autismus in Zusammenhang gebracht wurden, spielen auch bei Epilepsie eine Rolle.
»Etwa 25 Prozent der Autisten leiden unter epileptischen Anfällen«
Sind bestimmte Teile des Gehirns besonders in Mitleidenschaft gezogen, etwa jene, die bei sozialen Bindungen eine Rolle spielen?
Bisher kennen wir keine Hirnregion, die bei Autismus ganz besonders betroffen wäre. Lange Zeit haben Forscher vor allem kognitive Funktionen wie Empathie und »Theory of Mind« untersucht, die helfen, sich in den Gesprächspartner hineinzuversetzen und sich angenehm mit ihm zu unterhalten. Sicherlich gibt es da bisweilen Probleme, aber das ist nicht alles. Seitdem man autistische Menschen in der Forschung stärker direkt einbezieht, werden zunehmend Faktoren entdeckt, die man bisher weniger erforscht hat. Das gilt beispielsweise für Wahrnehmungsprobleme, wie eine erhöhte Sensibilität gegenüber Geräuschen oder Lichtern. Manchmal liegt umgekehrt auch eine Hyposensitivität, also eine geringe Empfindlichkeit vor. Wird jemand in der Kindheit von optischen und akustischen Informationen bombardiert, hat er in bestimmten Situationen Schwierigkeiten, besonders in der Schule. Die Meinungen der autistischen Kinder und ihrer Eltern werden in der Forschung immer wichtiger. Unser Wissen über Autismus wird gerade auf den Kopf gestellt.
»Die Gene bestimmen nicht unser Schicksal«
Führt die Aussage, dass der Autismus so stark genetisch bedingt ist, bei den Familien nicht zu einer Art Fatalismus?
Die Gene bestimmen nicht unser Schicksal! Als Mitglied einer Jury für Abschlussarbeiten traf ich einmal eine Mutter, deren Sohn Autist war. Aber er lernte sprechen, ging in die Schule und entwickelte sich positiv. Erst viel später erfuhr sie, dass er Träger einer der genetischen Mutationen war, die ich entdeckt hatte. Sie sagte zu mir: »Wir haben unser Kind so viel gefördert. Wenn wir das schon früher gewusst hätten, als er klein war, hätten wir nicht so gekämpft. Ein Kampf gegen die Gene, dafür hätte ich nicht die Energie gehabt.« Das hat mir vor Augen geführt, wie stark viele Menschen ihr Schicksal mit den Genen verknüpfen. Natürlich können diese unser Leben beeinflussen, aber es ist auf keinen Fall vorherbestimmt. Man muss alles dafür tun, dass jeder Mensch sich und alle seine Fähigkeiten entwickeln kann. Die Erforschung der Genetik des Autismus hat hier bereits große Fortschritte ermöglicht. Es gibt Eltern, die von Spezialisten zu Spezialisten wandern, ohne eine Diagnose zu erhalten. Ihre Odyssee endet, wenn endlich die Ursache erkannt wird.
Was können Sie Eltern von autistischen Kindern raten?
Genetische Informationen helfen Ärzten, ihre Diagnostik zu präzisieren und die Behandlung und Begleitung zu verbessern. Zudem können Eltern sich mit anderen zusammentun, deren Kinder Mutationen in denselben Genen haben. Es gibt bereits internationale, von Eltern gegründete Institutionen wie etwa die SHANK2-Stiftung. Sie bringen Familien zusammen, die sich austauschen über das, was bei ihrem Kind funktioniert und was nicht. Die Genetik ist hier der Ausgangspunkt eines Arbeitsprozesses, der alle zusammenbringt: Behandelnde, Forschende, autistische Personen, Familien, Lehrkräfte. Die Entwicklung wird dazu beitragen, der Neurodiversität einen besseren sozialen Rahmen in unserer Gesellschaft zu geben.

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