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Biochemie: Warum Stress für graue Haare sorgt

Lässt Stress uns schneller grau werden? Ja, sagt ein Forscherteam. Zumindest bei Mäusen sei das tatsächlich so. Der Stress beraube sie jener Zellen, die für Farbe sorgen. Andere Fragen bleiben dagegen offen.
Gestresste Frau in der Straßenbahn

Nicht nur das Alter lässt uns ergrauen, auch Stress gilt seit Langem als relevanter Faktor. Aber weshalb berauben wenig Schlaf, zu viel Arbeit, soziale Isolation oder andere seelische Sorgen unsere Haare ihrer Farbe? Wissenschaftlich ist das bislang nicht klar – es fehlt ein überzeugender biochemischer Mechanismus.

Ein Team um die Stammzellforscherin Ya-Chieh Hsu von der Harvard University meint, diesen gefunden zu haben, zumindest bei Mäusen. Die Tests der Gruppe zeigen: Stress führt offenbar zum Verlust jener Zellen, welche die Haare mit Pigmenten versorgen. Die Zellen gehen demnach zur Neige, wenn Nervenzellen die Haarwurzeln stressbedingt mit Botenstoffen bombardieren. Das wecke und vertreibe dort ansässige Stammzellen, schreibt das Forscherteam in »Nature«.

Die Produzenten der Farbpigmente

Eine Schlüsselrolle spielen den Forschern zufolge so genannte Melanozyten. Die Zellen sorgen für die Farbe unserer Augen, Haut und Haare. Sie sitzen unter der Haut, stellen Farbpigmente her und geben sie zum Beispiel an die Haare ab. Ist die Wachstumsphase eines Haars nach etwa zwei bis sechs Jahren beendet, wird der Haarfollikel – so nennen Experten die Struktur zwischen Haarwurzel und Oberhaut – nicht mehr mit Nährstoffen versorgt. Das Haar fällt dann aus, und die Melanozyten sterben ab.

An genau derselben Stelle kann jedoch ein neues Haar nachwachsen: Jeder Haarfollikel durchläuft insgesamt 10 bis 30 Lebenszyklen. Zu Beginn der Wachstumsphase bilden sich dabei neue Melanozyten. Sie gehen aus Stammzellen hervor, die in der Haarwurzel ruhen. Im Lauf unseres Lebens verringert sich die Zahl dieser Stammzellen. Sie können dadurch nicht mehr genügend Melanozyten hervorbringen. Die Folge: Früher oder später werden wir grau.

Haarfollikel einer Maus | Das Gewebe zwischen Haarwurzel und Oberhaut (die Zellkerne sind blau angefärbt) wird von Zellen des sympathischen Nervensystems (grün) angesteuert. In der Wurzel befinden sich Stammzellen (rot), aus denen neue Melanozyten entstehen können. Diese wandern dann nach oben und geben Pigmente an das wachsende Haar ab.

Um herauszufinden, ob Stress diese Prozesse beeinflussen kann, setzte das Team um Hsu etwa 20 schwarze Mäuse verschiedenen Stressfaktoren aus. Die Forscher trennten die Tiere beispielsweise von ihren Artgenossen, sperrten sie für mehrere Stunden ein, stellten die Käfige schräg oder ließen die ganze Nacht über das Licht brennen. Manchen Mäusen spritzten die Forscher auch einen Stoff, der ähnlich scharf wie Chilischoten ist und ihre Schmerzwahrnehmung aktivierte.

Egal, auf welche Art die Tiere gestresst wurden – am Ende hatten alle mehr weiße Flecken im Fell als eine von Stress verschonte Kontrollgruppe. Am meisten Farbe gelassen hatten die Mäuse, die mit dem chiliähnlichen Stoff geplagt worden waren. In ihren weiteren Experimenten verwendeten die Forscher darum hauptsächlich diese Stressmethode.

Welche Rolle spielt das Immunsystem?

Eine Untersuchung der verbliebenen schwarzen Haare von gestressten Tieren ergab, dass die Follikel zwar noch reichlich Melanozyten enthielten. Viele hatten aber all ihre Stammzellen verloren, so dass sie keine neuen Pigmentzellen mehr bilden konnten. Im nächsten Wachstumszyklus würden also auch diese Haare weiß werden.

Doch ist das die einzige denkbare Erklärung? Seit Längerem haben Forscher auch das Immunsystem als möglichen Auslöser des Ergrauens im Verdacht. Möglicherweise attackiert es die Vorläufer der pigmentbildenden Zellen. Um diese These zu überprüfen, stresste das Team um Hsu Mäuse, die auf Grund eines Gendefekts oder einer speziellen Behandlung keine Immunzellen mehr besitzen. Weil diese ebenfalls weiß wurden, verwarfen die Forscher die Immunsystem-These aber rasch wieder.

Bei Stress setzt unser Körper bestimmte Hormone frei, zum Beispiel Adrenalin und Kortisol. Bei Mäusen ist das nicht viel anders. Die wichtigsten Stresshormone heißen hier Kortikosteron und Noradrenalin. Die Forscher um Hsu stellten fest, dass die Melanozyten-Vorläuferzellen eine Bindestelle für Kortikosteron haben. Vielleicht schadet den Stammzellen das Andocken des Hormons, dachte das Team – und schaltete den Rezeptor aus. Wieder falsch: Mäusen, deren Rezeptor-Gen die Forscher durch eine Mutation verändert hatten, bescherte der Stress ebenfalls weiße Flecken im Fell.

Das Hormon Noradrenalin und seine Folgen

Das Hormon Noradrenalin scheint hingegen eine wichtige Rolle zu spielen, so die Tests. Auch hierfür haben Melanozyten-Vorläufer eine Bindestelle. Als die Forscher diesen Rezeptor so veränderten, dass das Hormon nicht mehr andocken konnte, blieben die genetisch manipulierten Mäuse trotz des Stresses schwarz. Noradrenalin ist also offenbar so etwas wie der Drahtzieher hinter dem Grauwerden.

Ermutigt von diesem Ergebnis spritzten die Forscher normalen Mäusen Noradrenalin unter die Haut. Und tatsächlich: Genau an diesen Stellen wurde das Fell der Tiere weiß. Nun stellte sich das Team die Frage: Wo kommt das Hormon her? Den Großteil seiner Stresshormone stellen Maus wie Mensch in den Nebennieren her. Bei sechs Mäusen entfernte das Team genau dieses Drüsengewebe. Überraschenderweise wurden die Tiere aber trotzdem weiß. Das Noradrenalin musste also woanders herkommen.

In Frage kommen zum Beispiel Nervenzellen; auch sie stellen das Hormon her. Es ist bekannt, dass Stress das sympathische Nervensystem aktiviert. Durch die Ausschüttung von Stresshormonen wie Noradrenalin macht es Tiere und Menschen leistungsfähiger. Und siehe da: Lähmten die Forscher diese Nervenzellen mit Hilfe einer bestimmten Chemikalie, so blieb das Fell der behandelten Mäuse schwarz.

Stress schädigt Stammzellen

Das Stresshormon bringe die Vorläuferzellen dazu, sich übermäßig stark zu teilen und zu Melanozyten heranzureifen, schreiben die Forscher. Die pigmentbildenden Zellen wandern unter die Haut, und in der Haarwurzel bleiben keine Stammzellen mehr zurück. »Wenn sie einmal weg sind, können die Tiere keine Pigmente mehr bilden. Der Schaden ist dauerhaft«, sagt Hsu laut einer Pressemitteilung ihrer Universität.

Ob sich das bei Menschen genauso verhält, ist noch unklar. Immerhin gibt es Hinweise darauf. So haben Menschen, deren Nervensystem im Rahmen einer Operation teilweise blockiert wurde, weniger graue Haare.

Auf Stresshormone reagieren neben den Stammzellen in der Haarwurzel aber möglicherweise auch etwa jene im Knochenmark, aus denen die Blutzellen hervorgehen. Denn das sympathische Nervensystem steuert nicht nur unsere Haare an, sondern praktisch all unsere Organe.

Der biochemische Mechanismus könnte daher eine Erklärung dafür sein, dass chronischer Stress auch unser Immunsystem angreift, schreiben Shayla Clark und Christopher Deppmann von der University of Virginia in einem von »Nature« veröffentlichten Begleitkommentar. Unklar sei zudem, inwieweit der Mechanismus mit dem altersbedingten Grauwerden zusammenhängt, so die Biomediziner, die nicht an der Studie beteiligt waren.

Die Frage können vermutlich erst künftige Langzeitexperimente beantworten. Bis dahin können Experten weiter darüber diskutieren, welche evolutionäre Funktion das stressbedingte Ergrauen einst hatte. Diente es in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften dazu, die erfahrensten Individuen hervorzuheben? So ähnlich ist es bei Gorillas, wo die Silberrücken an der Spitze der Hierarchie stehen.

Hsu und Kollegen wollen noch einer anderen Frage nachgehen: ob sich die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse womöglich dazu eignen, eine Therapie gegen graue Haare zu entwickeln – und so einer der sichtbaren Folgen von zu viel Stress entgegenzuwirken.

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