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Postfaktizität: Ausbruch aus der Lagerdenke

Wer seine politische Meinung ändert, muss fürchten, aus der sozialen Gruppe zu fallen. Kein Wunder, dass unser Gehirn alles daransetzt, Gegenargumente auszublenden, sagt Dan Kahan.
Demonstration in London gegen die Entscheidung für den Brexit

Wenn die aktuelle US-Wahl eines deutlich gemacht hat, dann das: Meinungen gibt es anscheinend nur im Sammelpack. Wähler, die ein soziales Gesundheitssystem ablehnen, halten Waffenbesitz für ein unabdingbares Grundrecht und den Klimawandel für bloßen Mythos. Wer pro Gesundheitsfürsorge ist, macht sich gegen Waffen stark und sieht den Klimawandel als Gefahr.

Wie kommt es, dass Menschen oft ganz ähnliche Meinungen haben, selbst wenn die Themen höchst unterschiedlich sind? Dan Kahan, Jurist und Psychologe von der Yale Law School in New Haven, sieht den Grund in einer Art Lagerdenke: Die Haltung, die man zu einer gesellschaftlichen Frage hat, ist zu einem mächtigen Symbol der Gruppenzugehörigkeit geworden. Wer seine Haltung ändert, muss fürchten, den Zugang zur Gruppe zu verlieren. Und diese Gefahr führt zu Wahrnehmungsverzerrung und einem einseitigen Blick auf die Fakten.

Dan Kahan |

Dan Kahan ist Professor für Rechtswissenschaften und Psychologie an der Yale Law School in New Haven, Connecticut. Er forscht derzeit in erster Linie zu Risikowahrnehmung, Wissenschaftskommunikation und der Übertragung von Ergebnissen aus der Forschung an Entscheidungsprozessen auf Rechtsprechung und Politik.

Kahan ist auch Mitglied des Cultural Cognition Project.

Im Interview berichtet Kahan davon, welche konkreten Folgen das Denken in Gruppen hat und mit welchen Maßnahmen man es laut aktuellen Forschungsergebnissen vielleicht überwinden könnte.

Wie kommt es, dass Menschen sich einer bestimmten Gruppe anschließen?

Eine wichtige Messgröße ist, ob jemand eher individualistisch oder gemeinschaftlich orientiert ist oder eher egalitär beziehungsweise hierarchisch. Hierarchisch denkende und individualistische Personen tendieren dazu, Vertrauen in den freien Markt und die Industrie zu haben, beides gilt ihnen als Zeichen von menschlichem Erfindergeist und Macht. Wer dagegen eine egalitäre und gemeinschaftliche Weltsicht hat, dem sind die Märkte und die Industrie oft eher suspekt. Man sieht darin die Ursache von sozialer Ungleichheit.

Es ist nur natürlich, dass man die Dinge, die man selbst wertschätzt, für nützlich für die Gesellschaft hält. Und was einem minderwertig vorkommt, das ist dementsprechend schädlich. Solche Assoziationen beeinflussen stark, wie Menschen eine gegebene Faktenlage einordnen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

In einem Experiment haben wir Probanden mit Untersuchungen zum Thema Waffenbesitz konfrontiert und dabei die Schlussfolgerungen dieser Untersuchungen variiert. Teilnehmer, die gut mit Zahlen umgehen konnten, haben es sofort bemerkt, wenn ein Ergebnis ihre eigene Sicht der Dinge stützte. Wenn es dagegensprach, haben sie es nicht bemerkt – oder sie haben versucht, sich durch Diskussionen aus der Affäre zu ziehen.

Wir haben auch Experimente gemacht, bei denen wir Menschen Videos von Demonstrationen zeigten. Wenn wir ihnen erzählen, dass das eine Demo vor einer Abtreibungsklinik ist, dann sagen sie, sie sehen Leute, die handgreiflich werden und einen Eingang blockieren. Die gleichen Leute sehen aber einen gewaltfreien Protest, wenn wir ihnen sagen, dass die Demo vor einem Rekrutierungszentrum der Armee stattfindet und es gegen den Ausschluss von Schwulen und Lesben vom Militär geht.

Wie rückt man solche Verzerrungen wieder gerade?

Das ist oft gar nicht möglich. Entscheidend ist es, Situationen zu finden, in denen man Themen angehen kann, ohne dass sie an den üblichen politischen Zugang gekoppelt sind. Ein gutes Beispiel findet sich im Südosten Floridas. Auch da gibt es die übliche Lagerbildung zur Frage des Klimawandels. Viele Einwohner beteiligen sich aber auch aktiv an Projekten, in denen ihre Region vor den Folgen der Klimaveränderung geschützt werden soll.

Es gibt dort das Aktionsbündnis Southeastern Florida Regional Climate Change Compact. Dessen Mitarbeiter geben sich große Mühe, es nicht zu Diskussionen in diesem Stil kommen zu lassen, in dem im Rest der USA die Klimawandeldebatte geführt wird. Und dann ist es auf einmal egal, ob jemand den Klimawandel für real hält oder nicht, sobald Menschen Teil dieser lokalen Debatte sind. Da geht es um Fragen wie "Sollen wir die historische Route A1A landeinwärts verlegen?" oder "Müssen die Ufer befestigt werden?", und keiner fühlt sich mehr in dieser Konkurrenzsituation zweier Gruppen.

Gibt es noch weitere, ähnlich viel versprechende Beispiele?

Einer meiner Mitarbeiter, John Gastil [von der Pennsylvania State University in College Park], hat Studien über gemeinschaftliche Beratungen vor Abstimmungen durchgeführt – also beispielsweise vor Volksentscheiden zum Thema Cannabis-Legalisierung oder Genfood. Er gibt dazu einer kleinen Gruppe von Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Strömungen die Aufgabe, alle Informationen zusammenzustellen, die nötig sind, damit sich andere eine informierte Meinung bilden können. Am Ende eines solches Prozesses hat diese Gruppe eine eigene Identität gewonnen, die sich beim Rest der Gesellschaft nirgends wiederfindet.

Gastil hat auch gezeigt, dass sich der Effekt ausweiten lässt, wenn man Dritte über die Entscheidungen solcher Gruppen unterrichtet: Die Menschen fühlen sich durch diese Ausschüsse repräsentiert.

Polarisierte Debatte | Wenn jeder, der seine politische Einstellung in Frage stellt, um seine soziale Identität fürchten muss, dann ist eine Kompromissfindung kaum möglich.

Man müsste so etwas viel größer aufziehen, wenn man damit Probleme wie die Klimawandeldebatte angehen will. Aber es zeigt doch, dass Menschen eine Rolle einnehmen können, die nichts mit ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit zu einem der Lager zu tun hat. Studien haben auch gezeigt, dass sich Gruppenkonflikte wirksam bewältigen lassen, wenn Mitglieder beider Seiten eingebunden werden. Aber wichtig ist, dass jeder von ihnen zunächst die stärksten Argumente der Gegenseite identifiziert.

Menschen überschätzen oft, wie sehr ihre Gruppe hinter einer Position steht und wie viele Schattierungen es tatsächlich gibt. Erlaubt man einzelnen, ein Gegenargument zu bringen, bleibt das vom Rest nicht unbemerkt. Es kommt den anderen dann nicht mehr so bedrohlich vor, sich auch einmal darauf einzulassen. Und Vertreter der Gegenseite sehen: "Aha, die scheinen zumindest zu verstehen, worauf ich hinauswill."

Solche Interaktionen haben zur Folge, dass sich die Standpunkte einander annähern, dass sich Leute eigene Gedanken machen und nicht mehr nur denken: "Wo steht mein Team?"

Bei stark polarisierenden Debatten haben wir auch beobachtet, dass sich Menschen, die wissenschaftlich interessiert sind – nicht unbedingt wissenschaftlich gebildet –, seltener mit einem der Lager identifizieren. Vielleicht kann man solche Personen als Hebel einsetzen, um Denkanstöße in den jeweiligen Gruppen zu verbreiten.

Wie steht es damit, das "Framing" von Argumenten zu ändern, also sie so aufzubereiten, dass sie sich in die Weltsicht einer Person einfügen?

Wir haben Experimente gemacht, um zu schauen, ob Framing funktioniert. Dazu ließen wir Probanden eine Studie aus der Klimaforschung lesen, und es gab sofort die erwartete Lagerbildung. Gibt man Teilnehmern vorher einen Aufruf zur Reduktion von CO2-Emissionen zu lesen, gehen die Meinungen danach noch unversöhnlicher auseinander. Wenn sie aber vorher etwas über Geoengineering lesen, sind die Meinungen plötzlich weniger zweigeteilt. Menschen, bei denen Handel und Industrie positiv besetzt sind, sahen da eher das Narrativ von der Not, aus der man eine Tugend macht. Statt "Game over" heißt es dann eher: "Yes, we can!"

Wahrscheinlich kann man etwas in der Art auch im echten Leben realisieren. Aber die Vorstellung, dass man nur ein paar Ausdrücke austauschen muss, um eine Veränderung zu bewirken, ist wahrscheinlich zu optimistisch.

Man muss den Menschen zeigen, dass Individuen, die sie respektieren und die offenbar wissen, was sie sagen, Wert auf wissenschaftliche Ergebnisse legen und dieses Vertrauen in die Wissenschaft in ihrem Reden und Handeln erkennen lassen.

Auch vor dem künftigen US-Kongress und dem Team von Präsident Trump werden wieder Wissenschaftler aussagen. Wie sollen sie es anstellen, dass ihre wissenschaftlichen Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden?

Ich glaube nicht, dass die Mitglieder des Kongresses mit wissenschaftlichen Aussagen irgendwelche Probleme haben. Das Problem ist, dass jede Position mit der Zugehörigkeit zu einem Team verknüpft ist.

Kongressmitglieder gehen Themen als Berufspolitiker an. Was man ihnen begreiflich machen kann, ist, dass ihre Wähler eine andere Sicht der Dinge haben, als sie es von sich kennen.

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "How to trump group-think in a post-truth world" bei "Nature News".

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