Quantenphysik: In der Quantenwelt kann die Zeit in beide Richtungen fließen

Eigentlich scheint alles völlig klar. Wenn ein Wasserglas umkippt, kann die Flüssigkeit nicht mehr zurück in das Gefäß fließen. Es ist unvorstellbar, dass jedes Wassermolekül seine Bewegung umkehrt, um wieder in das Glas zu gelangen. Dafür müsste man schon die Zeit zurückdrehen – soweit wir wissen, ist das unmöglich. Das Wasser wird entweder verschüttet oder nicht. Und wenn Ersteres passiert, dann lässt sich das nicht mehr ändern.
Die Zeit, wie wir sie erleben, ist asymmetrisch. Wir erinnern uns eher an die Vergangenheit als an die Zukunft; verschüttetes Wasser fließt nicht wieder ins Glas, und ein Pfeil, der abgeschossen wurde, kehrt nicht zu seinem Bogen zurück. Im täglichen Leben vergeht die Zeit nur in eine Richtung: vorwärts. »Das gehört zu unserer allgemeinen Erfahrung«, sagt der theoretische Physiker Andrea Rocco von der University of Surrey in England. Wie genau diese einseitige Zeitrichtung entsteht, wirft allerdings Fragen auf. Denn die Mathematik, die unsere Welt beschreibt, unterscheidet nicht zwischen einer sich vorwärts- oder rückwärtsbewegenden Zeit – beide Richtungen sind in den Formeln gleichwertig.
Das Konzept der Zeit verliert gewissermaßen seinen Sinn, wenn es keine Veränderung gibt. Wenn zum Beispiel ein Wasserglas in einer perfekt isolierten und physikalisch undurchlässigen Kiste festgehalten wird, sieht es immer gleich aus, unabhängig davon, ob man es vor fünf Jahren untersucht hat oder es in fünf Jahrtausenden untersucht. In welche Richtung fließt also die Zeit in dieser magischen Kiste? Solche isolierten Systeme sind symmetrisch unter Zeitumkehr. Die Symmetrie wird nur durch Einflüsse der äußeren Umgebung gebrochen – sei es durch verdunstendes Wasser oder durch das Umkippen des Glases.
Und doch hängen offene Systeme, die mit der Umgebung wechselwirken, mit isolierten zusammen. Selbst wenn man das Wasserglas von der Außenwelt abschirmt, bewegen sich die einzelnen Moleküle zufällig innerhalb des Glases. Diese Veränderungen könnten die Symmetrie der Zeit brechen. Sie tun es aber offenbar nicht, wenn man auf die mathematischen Gleichungen blickt, die sie beschreiben. Warum gibt es diesen Unterschied zwischen offenen und isolierten Systemen?
»In gewisser Weise sind wir in diesem Universum gefangen, in dem die Zeit nur in eine Richtung fließt«Andrea Rocco, Physiker
Dieser Frage haben sich schon viele Fachgruppen gewidmet. So auch Rocco und sein Team: Sie haben dafür die mathematischen Grundlagen dieser scheinbaren Diskrepanz neu untersucht. Ihre Schlussfolgerungen, die sie in der Fachzeitschrift »Scientific Reports« veröffentlicht haben, widerlegen die bisherigen Annahmen. Demnach gibt es auch in offenen Quantensystemen keine Asymmetrie bezüglich der Zeitrichtungen. Auch in diesen kann die Zeit sowohl vorwärts als auch rückwärts vergehen.
Zwei Möglichkeiten und nur eine Realität
Das ist ein bisschen so, als würde das Wasserglas auf Messers Schneide stehen. Es könnte zu beiden Seiten überschwappen, wobei jede einem entgegengesetzten Zeitpfeil entspricht. Doch unabhängig davon, in welche Richtung das Glas umkippt, wird das Wasser immer gleich verschüttet. In beiden Fällen ist das Endergebnis mathematisch gesehen genau dasselbe – die Symmetrie ist erhalten. »In gewisser Weise sind wir in diesem Universum gefangen, in dem die Zeit nur in eine Richtung fließt«, erklärt Rocco. »Aber die Bewegungsgleichungen hätten es dem Universum erlaubt, die andere Richtung zu wählen.«
Rocco zufolge entspricht die mögliche Existenz dieser beiden Zeitrichtungen einer Symmetrie, die im Gegensatz zu dem steht, was Fachleute annehmen, nämlich dass die Umgebung einen Zeitpfeil vorgibt. Die Arbeit von ihm und seinen Kollegen deutet darauf hin, dass auch offene Quantensysteme zwei Zeitpfeile erlauben – und nicht nur einen.
Die Untersuchung habe jedoch einen subjektiven Charakter, merkt der nicht an der Arbeit beteiligte theoretische Physiker Michele Campisi vom italienischen Institut für Nanowissenschaften des Nationalen Forschungsrats an. Wie die Zeit vergehe, hänge von der gewählten Interpretation der Quantenmechanik ab. Und von der gibt es mehrere. Denn der Blick auf ein Quantensystem wird von der eigenen Sichtweise bestimmt, sagt der Physiker. So könnte eine globale Perspektive ein vermeintlich offenes System als Teil eines größeren, isolierten Systems betrachten – das ohnehin symmetrisch bezüglich der Zeitrichtung ist.
Laut dem Physiker James Cresser verdeutlicht die neue Arbeit, dass wir die Quantenwelt noch lange nicht verstehen. Die Art und Weise, wie sich Wasser verhält, wenn es verschüttet wird, ähnelt dem dissipativen Verhalten in der Thermodynamik und in der Quantenmechanik, das als Dekohärenz bezeichnet wird. Dabei breitet sich ein System nach und nach aus und verliert an Informationen. Im Beispiel des Wasserglases entspricht die Information der besonderen Anordnung der Wassermoleküle, die sich zuvor im Glas befanden.
»Vielleicht ist das Konzept der Zeit nichts weiter als eine Art Stütze für das menschliche Gehirn, an das wir uns klammern«James Cresser, Physiker
Dissipative Prozesse sind eigentlich asymmetrisch in Bezug auf die Zeitrichtung, erklärt die Physikerin Nicole Yunger Halpern vom National Institute of Standards and Technology. Allerdings hängt auch diese Interpretation von der subjektiven Betrachtungsweise ab. Wenn Sie zum Beispiel zwei Filme sehen – einen, in dem das Wasser verschüttet wird, und einen anderen, in dem das Wasser auf übernatürliche Weise in das Glas zurückkehrt –, würden Sie wahrscheinlich davon ausgehen, dass es sich beim zweiten Film um den ersten handelt, der rückwärts abgespielt wurde. Die Asymmetrie in der Zeit ist in gewisser Weise ein emergentes Phänomen, sagt Yunger Halpern. »Wir alle können es in unseren täglichen Erfahrungen beobachten.«
Vielleicht sei das Konzept der Zeit nichts weiter als eine Art Stütze für das menschliche Gehirn, während wir versuchen, alle Ereignisse in der Welt zu begreifen, sagt Cresser. »Aber die Ereignisse selbst sind nicht auf diese Stütze angewiesen.« Falls das so ist, könnte es sein, dass unsere Fragen rund um die Natur der Zeit keine Antworten haben – was sie gewissermaßen zeitlos macht.

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