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Oversharing: Das wollte ich eigentlich gar nicht wissen

Sex, Depressionen, unerfüllter Kinderwunsch: Noch nie wurde so offen gesprochen wie heute. Doch nicht jeder will sich das anhören. Warum Menschen manchmal zu viel von sich erzählen und wie man dem »Oversharing« sensibel Grenzen setzt.
Zwei Personen sitzen in einem Café und unterhalten sich. Eine Person hält eine Tasse Kaffee in der Hand und lächelt, während die andere gestikuliert. Beide tragen karierte Hemden. Im Hintergrund sind große Fenster und eine unscharfe Außenansicht eines Gebäudes zu sehen. Die Szene wirkt freundlich und entspannt.
So kann es aussehen, wenn jemand mit einem Lächeln zu überspielen versucht, dass die offenbarten Informationen das erwünschte Maß überschritten haben.

Bei der Arbeit plaudert der Kollege über seine sexuellen Vorlieben. Der Mann an der Kasse berichtet von seiner letzten Depression, und beim Dating offenbart das Gegenüber gleich seinen Kinderwunsch. Was die einen als erfrischende Offenheit begrüßen, empfinden andere als »zu« offen – im englischen Sprachgebrauch »oversharing«, was so viel bedeutet wie »zu viel erzählen«. Doch wann genau ist es »zu viel«? Wer bestimmt die Grenze zwischen Offenheit und Oversharing? Und: Woran merkt man, dass es dem Gegenüber zu viel wird?

Tatsächlich wird heute viel unbefangener über persönliche Angelegenheiten gesprochen als früher. Darauf weist zumindest eine Online-Umfrage im Auftrag der Zeitschrift »Brigitte« aus dem Jahr 2022 hin. Von den rund 1000 Befragten gaben 87 Prozent an, offener über Themen wie Sexualität, psychische Probleme oder ihr Gehalt zu reden als noch vor zehn Jahren. Gut 72 Prozent wünschten sich sogar noch mehr Offenheit. Andererseits äußerten 28 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer, mit niemandem über ihr Sexualleben zu sprechen.

 »Wann persönliche Geschichten zu persönlich und intime Details zu intim werden, liegt im Auge der Betrachtenden«, sagt die Sozialpsychologin Anna Bruk von der Universität Mannheim. »Was von einer Person als Oversharing wahrgenommen wird, kann für eine andere ein Ausdruck von Authentizität sein.«

»Hinter dem Teilen zu vieler Informationen steckt oft ein Wunsch nach Nähe«Denise Ginzburg-Marku, Psychotherapeutin

Wie ein Mensch das bewertet, hängt unter anderem vom Kontext ab. »Berichtet jemand beispielsweise beim Mittagessen aus dem Nichts mit vielen Details über seinen letzten Stuhlgang, kann das für manche Mithörende zu viel sein«, so Bruk. »Dreht sich das Gespräch hingegen gerade ums Mikrobiom und was dieses beeinflusst, fühlt sich das vermutlich passender an.« Dazu kommen kulturelle Unterschiede: In Japan wird im gesellschaftlichen Miteinander beispielsweise sehr auf Harmonie geachtet. Damit sich niemand kritisiert fühlt, werden beim Smalltalk Themen wie Politik, Religion oder die Rolle der Frau gern gemieden. In Deutschland sind Meinungsverschiedenheiten in Gesprächen eher zulässig. »All das spielt hinein in die Frage, ob ein Mensch einzelne Informationen als normale und beziehungsfördernde Selbstoffenbarung ansieht oder als Oversharing«, erklärt die Psychologin.

Für die Wissenschaft ist Oversharing ein relativ neues Phänomen. Der Begriff soll erstmals im Mai 1996 im Internet aufgetaucht sein. Auf der Website houston.personals schrieb eine Frau, dass ihr Schwager sie »the queen of overshare« nenne. Wenige Monate später kennzeichneten Userinnen und User Posts mit potenziell übertriebenen Enthüllungen mit dem Hinweis »Overshare alert!«. Der Begriff »Oversharing« beschreibt daher meist ein Verhalten in den sozialen Netzwerken, bei dem Menschen unangemessen viele Informationen über sich selbst oder andere preisgeben. Dabei kann es sich ebenso um das Töpfchentraining des eigenen Kindes handeln wie um freizügige Selfies auf Snapchat.

Die Ursachen von Oversharing

Über Risikofaktoren bei Jugendlichen berichtete ein Team um den Psychologen Reza Shabahang von der Universität Teheran im Jahr 2022. Unter den befragten 352 jungen Iranerinnen und Iranern, im Mittel 16 Jahre alt, gaben die Jungs in sozialen Netzwerken mehr Informationen preis als die Mädchen. Das könnte daran liegen, dass Jungen in der iranischen Gesellschaft generell mehr zu Selbstoffenbarung ermutigt werden und die sozialen Netzwerke mehr nutzen als Mädchen, mutmaßen die Forscherinnen. Dazu gäbe es Hinweise, dass weibliche Social-Media-Nutzerinnen größeren Wert auf Informationskontrolle und Datenschutz legen als männliche Nutzer. Weitere Merkmale der »Oversharer«: Ängstlichkeit, Social-Media-Sucht und ein ausgeprägter Wunsch nach Aufmerksamkeit.

Ein starkes Zugehörigkeitsbedürfnis spielt ebenfalls eine Rolle, wie ein Team um Amy Dobson von der Curtin University in Australien berichtete. Und auch Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung neigen eher dazu, online viele persönliche Informationen zu teilen. Das zeigte eine Studie in den Niederlanden aus dem Jahr 2022.

»Oversharing ist der Versuch, schnell eine tiefere Verbindung herzustellen, obwohl noch keine Vertrauensbasis vorliegt«Anna Bruk, Sozialpsychologin

Es fehlen jedoch Untersuchungen, die sich dem Offline-Oversharing widmen, etwa bei der Unterhaltung mit Freundinnen und Freunden oder am Arbeitsplatz. Theorien zu den Motiven beruhen auf Befunden der allgemeinen Sozialpsychologie, wonach Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach Gemeinschaft und Bindung haben. »Intimes von sich zu offenbaren, kann das Fundament für eine neue soziale Verbindung schaffen«, erklärt die Offenbacher Verhaltenstherapeutin Denise Ginzburg-Marku, die eine Zusatzausbildung in Schematherapie hat – ein Ansatz, in dessen Zentrum die emotionalen Grundbedürfnisse des Menschen stehen. Sie hat über soziale Ängste promoviert und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen Oversharing. Sie sagt: »Hinter dem Teilen zu vieler Informationen steckt oft ein Wunsch nach Nähe.«

Die Strategie ist an sich nicht falsch, wie eine Metaanalyse bereits 1994 zeigte. Demnach werden Menschen, die offen über sich erzählen, als sympathischer wahrgenommen als verschlossene Gegenüber. Wichtig ist jedoch, eine gewisse Zeit damit zu warten. »Je besser ich mein Gegenüber kenne, desto sicherer und angebrachter ist es, mehr Privates von mir zu teilen«, sagt Bruk. »So wird eine persönliche Erzählung mit höherer Wahrscheinlichkeit die Beziehung fördern und nicht als Oversharing empfunden.«

Davon geht auch die Social Penetration Theory (SPT) aus, die die US-Psychologen Irwin Altman und Dalmas Taylor in den 1970er-Jahren entwickelt haben. Zwischenmenschliche Verbundenheit und Nähe entstehen demnach, wenn sich Menschen Schritt für Schritt mehr öffnen und langsam von oberflächlichen zu tieferen Gesprächen übergehen. Zwei Eltern, die sich gerade kennenlernen, tauschen sich zunächst beispielsweise über die Hobbys ihrer Kinder aus, aber von ihren Eheproblemen erzählen sie einander erst, nachdem sie mehr und mehr Persönliches preisgegeben und so allmählich eine Vertrauensbasis aufgebaut haben – durch wechselseitige Selbstoffenbarung, wie in einer Art Pingpong-Spiel.

»Oversharing ist der Versuch, schnell eine tiefere Verbindung herzustellen, obwohl noch keine Vertrauensbasis vorliegt«, erklärt Bruk. Wer das tue, wolle in der Regel jene Phase der Unsicherheit und Ambivalenz überspringen, die am Anfang jeder neuen Beziehung stehe.

»Menschen, die sehr unsicher sind, nutzen Oversharing mitunter als Kompensation«Denise Ginzburg-Marku, Psychotherapeutin

Diese Erfahrung teilt auch die Psychotherapeutin Ginzburg-Marku. »Menschen, die sehr unsicher sind oder sich selbst als nicht liebenswert empfinden, nutzen Oversharing mitunter als Kompensation«, sagt sie. Die vermeintliche Offenheit solle die Angst kaschieren, nicht interessant oder witzig genug zu sein. Starke Emotionen wie Trauer, Stress oder Ärger könnten Oversharing ebenfalls begünstigen, so Ginzburg-Marku. Unter emotionaler Belastung sinkt die Selbstkontrolle, und das Bedürfnis nach Nähe und Bestätigung steigt.

Zu viel Privates kann den Zuhörer allerdings überfordern und dadurch der Beziehung schaden. Für manche fühlt es sich gar wie eine Grenzüberschreitung an. Das kann Vertrauen zerstören und zum Rückzug führen. »Wenn das Geteilte als Oversharing wahrgenommen wird, kann das am Arbeitsplatz als unprofessionell und inkompetent wirken«, sagt Bruk.

Oversharing erkennen und bremsen

Um das zu vermeiden, helfe es, sensibel auf die Reaktion des Gegenübers zu achten. »Das Verhalten meines Gesprächspartners zeigt mir in der Regel, ob ich gerade zu viel von mir preisgebe«, erklärt die Sozialpsychologin. Versucht die zuhörende Person, das Thema zu wechseln? Macht sie einen Witz, um die Situation zu entspannen? Wendet sie den Blick ab? All das seien Hinweise, dass es dem Gegenüber gerade zu viel wird. Außerdem wirkt ein stabiles Selbstwertgefühl vorbeugend: Dann sei man nicht so stark auf Bestätigung angewiesen und könne die Unsicherheit, die am Anfang jeder neuen Beziehung steht, besser aushalten, ohne Nähe erzwingen zu wollen.

Wer umgekehrt nicht so viele intime Details erfahren möchte, dem rät Bruk, das Thema zu wechseln. Redet die andere Person dennoch weiter, sei es völlig in Ordnung, Grenzen zu setzen – idealerweise auf ehrliche, aber wertschätzende Weise. Beispielsweise kann man sagen: »Ich mag unsere Gespräche sehr, aber beim Verdauungstrakt bin ich sensibel. Können wir über was anderes reden oder die Details überspringen?« Handelt es sich um ein ernstes oder sehr emotionales Thema, könne man laut Bruk betonen, dass man die Offenheit sehr schätze. Und gerade deshalb wolle man ebenfalls ehrlich sein und sagen, dass man selbst ungern über solche privaten Themen spricht.

Egal, ob jemand gerade zu viel von sich geteilt hat oder selbst eine Grenze setzen musste: »Beides kann legitim sein«, findet Bruk. »Am Ende zählt, dass Grenzen individuell sind – und was für die eine Person zu viel ist, kann für die andere genau richtig sein.«

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  • Quellen

Collins, N.L. et al., Psychological Bulletin 10.1037/0033–2909.116.3.457, 1994

Dobson, A. et al., Digital Intimate Publics and Social Media 10.1007/978–3-319–97607–5_1, 2018

Muhammad, E.S. et al., SHS Web of Conferences 10.1051/shsconf/202521204022, 2025

Shabahang, R. et al., Psychological Reports 10.1177/00332941221122861, 2024

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