Milchstraßensystem: Was befindet sich auf der anderen Seite unserer Galaxis?

Da wir im Milchstraßensystem leben, sollte man meinen, dass wir es inzwischen ziemlich gut kartiert und seine Gesamtstruktur mit allen Bestandteilen verstanden haben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Tatsache, dass wir im Milchstraßensystem eingebettet sind, stellt ein großes Hindernis für unsere galaktische Kartografie dar. Jede andere Galaxie sehen wir von außen, so dass wir die meisten von ihnen in ihrer ganzen Ausdehnung beobachten können. Das macht die Kartierung ihrer Struktur relativ einfach. Aber bei unserer Galaxis sitzen wir im Inneren fest und haben nur eine trübe Sicht.
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem riesigen, nebelverhangenen Lagerhaus, in dem Sie immer den Boden und die Decke sehen können, aber die Düsternis versperrt Ihnen den Blick auf die weitere Umgebung. Sie können die Kisten und anderen Waren sehen, die sich in den nahe gelegenen Regalen stapeln, aber Ihr räumliches Bewusstsein verschwindet nach etwa einem Dutzend Metern. Sie können nicht erkennen, was sich dort draußen befindet; Sie wissen nicht einmal, wie weit die Wände entfernt sind oder ob Sie sich am Rand oder im Zentrum des Lagers befinden.
Astronominnen und Astronomen stehen vor genau diesem Problem. Wenn unsere Galaxis nur aus Sternen bestünde, könnten wir sie klar durchschauen. Aber sie ist auch voller Staub: winzige Körnchen aus Gestein oder kohlenstoffhaltigem Material, die beim Sterben massereicher Sterne entstehen und von einem gewaltigen Wind in den Weltraum geschleudert werden. Milliarden dieser Sterne haben über Milliarden von Jahren die Milchstraße mit Staub befüllt, der undurchsichtige Wolken gebildet hat und unsere Sicht einschränkt. Im Wesentlichen befinden sich alle Sterne, die wir sehen können, auf der uns »nahen« Seite des Milchstraßensystems.
Dennoch können wir mit größter Sicherheit sagen, dass unsere Galaxis eine flache Scheibe mit einer annähernd kugelförmigen zentralen Verdickung (englisch: bulge) aus Sternen ist; in einer dunklen, mondlosen Nacht sehen wir dies in Form eines breiten Lichtstroms am Himmel, der in der Nähe des Sternbilds Schütze einen Kreis bildet. Wir befinden uns innerhalb dieser flachen Scheibe, so dass das Licht aller sichtbaren Sterne diesen nebligen Strom erzeugt (der Milchstraße, englisch Milky Way, genannt wird – verwirrenderweise bezeichnet das im Englischen auch unsere Galaxis als Ganzes; im Deutschen kann man das Phänomen Milchstraße von der Galaxis Milchstraßensystem unterscheiden, Anm. d. Red.).
Aber was liegt jenseits der Sterne, die wir sehen können? Wie ist unsere Galaxis insgesamt aufgebaut, und was befindet sich in der Mitte und auf der anderen Seite?
Ich habe eine gute Nachricht: Ich habe Sie vorhin angelogen. Naja, ich habe nicht unbedingt gelogen, sondern eher einige Informationen zurückgehalten. Obwohl der allgegenwärtige Staub der Scheibe das »sichtbare Licht« abfängt, kann andere Strahlung mit größerer Wellenlänge wie Radiowellen und Infrarot relativ ungehindert diesen Staub durchdringen. Mit Hilfe von Teleskopen, die für diese Wellenlängen empfindlich sind, können wir viel weiter sehen und erfahren, was jenseits unserer eigenen Sichtweite liegt.
So ist beispielsweise das Zentrum unserer Galaxis selbst von so viel Staub verdeckt, dass optische Teleskope nahezu nutzlos sind, aber mit Infrarotteleskopen können wir die von den dortigen Objekten ausgesandte Strahlung sehen. Mit solchen Instrumenten konnten Forschungsteams Sterne so genau verfolgen, dass ihre Bewegungen ein monströses Objekt im Zentrum unserer Galaxis, das kein Licht oder sonstige Strahlung aussendet, enthüllt haben; und es konnte sogar gewogen werden: ein extrem massereiches Schwarzes Loch namens Sagittarius A* mit einer Masse von mehr als vier Millionen Sonnenmassen.
Radiowellen haben eine größere Wellenlänge als Infrarotstrahlung und können Staub noch leichter durchdringen. Im Jahr 2010 entdeckten Astronomen eine gigantische Gaswolke auf der anderen Seite unserer Galaxis – 31 000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Nachfolgende Beobachtungen im Infraroten ergaben, dass es sich dabei um eine riesige Gas- und Staubwolke handelt, in der sich aktiv Sterne bilden. Die Astronomen nannten sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem tropischen Fisch den Drachenfischnebel. Dieser hat einen Durchmesser von zwei Grad am Himmel – das ist viermal so groß wie die scheinbare Größe des Vollmonds, was den Drachenfischnebel angesichts seiner astronomischen Entfernung zu einem atemberaubenden 1000 Lichtjahre durchmessenden Gebilde macht. Vergleichen Sie das mit dem Orionnebel, einer relativ nahen Sternentstehungsstätte, die nur ein paar dutzend Lichtjahre groß ist!
Der Drachenfisch ist wahrscheinlich der größte Nebel dieser Art in unserem Milchstraßensystem, so dass er sogar von anderen Galaxien aus leicht zu sehen ist, aber für unsere optischen Teleskope ist er völlig unsichtbar.
Doch es geht noch besser. Einige dieser Gaswolken sind starke Emitter von Mikrowellen, die eine Wellenlänge zwischen Infrarot- und Radiowellen haben. Die Physik hinter diesen Emissionen ist im Wesentlichen die gleiche wie die von Lasern – daher nennen wir sie Maser (das »M« steht für Mikrowellen) – und sie sind in der gesamten Galaxis zu sehen. Indem die Beobachtungen von Teleskopen auf der ganzen Welt kombiniert werden, können wir hochpräzise Messungen ihrer Bewegungen und Entfernungen durchführen.
Diese Wolken liegen entlang der mit Sternen übersäten Windungen unserer Galaxis: den Spiralarmen. Tatsächlich haben Beobachtungen dieser Maser bewiesen, dass unser Milchstraßensystem ein hervorragendes Beispiel für eine Spiralgalaxie ist. Astronomen haben beobachtet, dass unsere Galaxis vier große Arme hat. Aber es gibt auch einen fünften Arm, der weder groß noch offensichtlich ist und weniger als ein Viertel des Wegs um die Galaxis herumführt; dieser »lokale Arm« enthält unser Sonnensystem. Andere radioastronomische Messungen haben unsere galaktischen Koordinaten mit beachtlicher Präzision bestimmt: So ist die Sonne etwa 26 000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt – etwas weniger als die Hälfte der 120 000 Lichtjahre breiten Scheibe – und liegt sehr nahe an der exakten Mittelebene.
G1.9+0.3 ist ein weiteres galaktisches Objekt in der Ferne, das bei Beobachtungen des Very Large Array, einem Verbund aus Radioteleskopen in der Wüste von New Mexico, entdeckt wurde. Es handelt sich um einen Supernova-Überrest, die sich ausdehnenden gasförmigen Trümmer eines explodierten Sterns. Das Licht dieser Explosion erreichte die Erde erst vor etwas mehr als einem Jahrhundert und ist damit die jüngste bekannte Supernova in unserer Galaxis, aber der dazwischen liegende Staub schwächte sie so stark ab, dass sie im sichtbaren Licht überhaupt nicht zu sehen war. Ihre Position wird auf über 27 000 Lichtjahre Entfernung von der Erde geschätzt, womit sie gerade noch auf der anderen Seite der Galaxis liegt.
Röntgenstrahlen können auch den Staub unserer Galaxis durchdringen. Im Jahr 2004 fegte eine riesige Welle dieser hochenergetischen Strahlungsform über die Erde, ausgestoßen von einem Magnetar: einem extrem energiereichen und magnetisierten Neutronenstern namens SGR 1806-20. Die Explosion war so stark, dass sie Satelliten zur Messung des Röntgenhimmels überflutete und die Erdatmosphäre physikalisch beeinflusste. Und das aus einer Entfernung von 40 000 bis 50 000 Lichtjahren, was schon deutlich auf der anderen Seite unserer Galaxis ist. Magnetare sind relativ selten – nur eine Hand voll sind in unserer Galaxis bekannt, und alle außer SGR 1806-20 befinden sich auf unserer Seite des galaktischen Zentrums. Es ist also wahrscheinlich, dass es auf der anderen Seite noch weitere gibt, die (hoffentlich) weniger stark sind als dieser.
Die verborgene Hälfte unserer Galaxis ist eindeutig eine Erkundung wert! Unser lokales Raumvolumen ist voll von erstaunlichen Objekten, wie leuchtkräftigen Wolf-Rayet-Sternen, die Wellen von Staub ausstoßen, Sternen, die gerade kurz vor der Explosion stehen und Exoplaneten in Hülle und Fülle, um nur einige zu nennen. Welche Schätze warten auf der anderen Seite noch darauf, entdeckt zu werden? Unser galaktischer Zensus ist zum aktuellen Zeitpunkt bestenfalls halb fertig.

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