Schulschließungen: Was die Pandemie mit Kindern und Jugendlichen macht
Was braucht es, um ein Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen? Ein Junge, nennen wir ihn Jonas, im Februar sechs Jahre alt geworden, hat eine Sprachstörung, er ist kaum zu verstehen. Er wurde erst wenige Wochen von einer Logopädin behandelt, dann kamen die Pandemie und der Lockdown. Über Monate erhielt Jonas keine Therapie. »Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Pandemie und der Lockdown die Entwicklung von Kindern torpediert haben. Im September wird das Kind eingeschult, aber die Sprachstörung wird nicht behoben sein, eben weil die Logopädie unterbrochen wurde«, sagt Professor Hans-Iko Huppertz, Kinderarzt und Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ).
Das unglückliche Zusammenspiel zweier Aspekte der Logopädie verstärkte die Folgen der Pandemie noch einmal drastisch. So sollten Sprachstörungen bei Kindern früh und konsequent wie möglich behandelt werden – zugleich ist durch die Sprechübungen die Ansteckungsgefahr besonders hoch, weshalb ausgerechnet die Therapie hier früh und länger ausgesetzt wurde und zum Teil noch wird. »Eine unzureichend behandelte Sprachstörung bei der Einschulung kann für das Kind katastrophale Folgen haben. Womöglich wird es auch gehänselt, was wiederum an seinem Selbstbewusstsein zehrt«, sagt Huppertz.
Doch die Logopädie ist nur eines von vielen Feldern, in denen die Pandemie mitsamt Lockdown und Social Distancing Kinder und Jugendliche besonders getroffen hat. »Grundsätzlich war die Pandemie für alle aufwachsenden Menschen, die sich noch mitten in der Entwicklung befinden und oft nicht einen so stabilen Kern besitzen wie viele Erwachsene, eine einschneidende Erfahrung«, sagt Huppertz.
Weniger Vorsorge, mehr Diabetes
Aus Angst vor einer Ansteckung in der Arztpraxis haben vor allem in den ersten Monaten der Pandemie die Eltern den Kinderarzt oder die Klinik nur in Notfällen aufgesucht. Vorsorgeuntersuchungen – in Deutschland etwa die bekannten Untersuchungen U1 bis U9 – wurden oftmals nicht im entsprechenden Alterszeitraum durchgeführt. »Bei vielen Kinder mit chronischen Erkrankungen ist in vielen Fällen die Versorgung zurückgefahren worden, auch weil die Eltern zu den Terminen nicht mehr kamen«, sagt Professorin Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).
Ein Beispiel ist der Diabetes. Hier konnten Studien sogar zeigen, dass die schweren Stoffwechselentgleisungen während der Pandemie zugenommen haben. Auch die Impfrate sei im Rahmen der Pandemie deutlich gesunken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt bereits Alarm. In diesem Jahr seien weltweit unter anderem mindestens 30 Impfkampagnen gegen das Masernvirus abgebrochen worden. Außerdem sei davon auszugehen, dass die Impfrate weltweit abnehme. Die Zahl der Kinder, die wegen versäumter Impfungen leiden oder gar sterben, übersteige die Schäden des Virus womöglich um ein Vielfaches, sagt WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus.
Geringere Lebensqualität
Mediziner und Pädagogen erforschen derzeit, wie die Corona-Maßnahmen den Alltag der Jüngsten verändert und ihre Psyche belastet haben. Bereits heute lässt sich sagen: Die Folgen sind deutlich spürbar.
Eine der ersten umfassenden Studien, die sich mit den psychischen Auswirkungen befasst, ist die so genannte COPSY-Studie, für die Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) vom 26. Mai bis zum 10. Juni 2020 in Deutschland mehr als 1000 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren befragten. Außerdem gaben mehr als 1500 Mütter und Väter Auskunft.
Das Ergebnis: Insgesamt fühlten sich 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen durch die Pandemie belastet. Sie verhielten sich in diesem Zeitraum häufiger hyperaktiv und zeigten vermehrt emotionale sowie Verhaltensprobleme. Auch Gereiztheit, Einschlafschwierigkeiten, Kopf- und Bauchschmerzen nahmen zu. 27 Prozent der Jungen und Mädchen und 37 Prozent der Eltern berichten, sich häufiger zu streiten als vor der Krise. Außerdem ist laut Studie bei jedem zweiten Kind das Verhältnis zu seinen Freunden durch den mangelnden physischen Kontakt schlechter geworden.
»Die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen ist während der Coronapandemie gesunken, psychische und psychosomatische Auffälligkeiten sind häufiger geworden. Die meisten Kinder und Jugendlichen fühlen sich belastet, machen sich vermehrt Sorgen, achten weniger auf ihre Gesundheit und beklagen häufiger Streit in der Familie« – so die ernüchternde Zusammenfassung von Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der Studie und der Forschungsgruppe »Child Public Health« an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere erste Studien, die es zum Thema gibt. So ergab etwa eine Untersuchung chinesischer Forscher an 2330 Grundschülern in der Provinz Hubei, wo die Coronapandemie ihren Ursprung hat, dass überdurchschnittlich viele Schüler Symptome für eine Depression und für eine Angststörung entwickelt hatten.
Den Kinderarzt Huppertz wundert all das nicht: »Die soziale Interaktion und der Austausch mit der Peergroup sind in der Jugend enorm wichtig, denn sie mindert Stress. Damit baut der soziale Kontakt zu Gleichaltrigen auch eine gewisse Resilienz auf, eine innere Widerstandskraft und Stabilität. Während des Lockdowns fehlte das den Kindern und Jugendlichen und machte sie anfälliger.«
Benachteiligte werden benachteiligter
Vor allem jüngere Schulkinder litten unter den fehlenden Kontakten, sagt Professor Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Teenager hingegen seien zwar einerseits noch mehr auf die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen angewiesen. »Andererseits haben Kinder in dem Alter auch eher die Möglichkeit, die physische Distanz mit sozialen Netzwerken und Video-Treffen auszugleichen. Vor allem in dieser Altersgruppe ist daher der Begriff ›Physical Distancing‹ treffender als ›Social Distancing‹«, sagt Schulte-Markwort.
Doch egal welchen Alters, grundsätzlich gibt es eine Tendenz, die eine Vermeidung eines zweiten Lockdowns umso dringlicher macht: Viele Kinder, die zuvor im Hintertreffen waren, geraten noch weiter ins Hintertreffen.
»Das ist ein Schlag gegen eine gelungene Integration«Hans-Iko Huppertz
Jonas ist nur ein Beispiel dafür. Dabei muss es nicht einmal eine Erkrankung oder eine Entwicklungsverzögerung sein. Kinder mit Migrationshintergrund etwa leisten oft mehr als Gleichaltrige – und sind doch gewissermaßen anfälliger in ihrer Entwicklung. Denn sprechen die Eltern zu Hause kein Deutsch, lernen sie die Sprache vor allem im Kindergarten. Bleiben diese Impulse für Monate aus, kann das die Lernkurve deutlich abflachen.
»Das ist ein Schlag gegen eine gelungene Integration«, sagt Huppertz. Auch körperlich oder geistig behinderte Kinder trifft die Pandemie besonders hart – beziehungsweise ihre Eltern. Diese kümmern sich oft sehr intensiv und hingebungsvoll um ihre Kinder. »Umso wichtiger ist für die Eltern, dass sie zumindest tagsüber Zeit haben, sich zu erholen, Dinge zu erledigen. Das fiel während der Pandemie weg – und brachte viele Eltern an ihre Grenzen«, so Huppertz. Ebenso allein erziehende Mütter und Väter hatten es während der Pandemie besonders schwer.
Gibt es mehr sexuelle Gewalt?
Immer wieder hörte man auch davon, dass es während des Lockdowns mehr häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch gegeben habe. Tanja von Bodelschwingh on N.I.N.A. e. V. kann als wissenschaftliche Referentin des Hilfetelefons Sexueller Missbrauch – hier rufen vor allem Erwachsene und ältere Jugendliche an – von einer Zunahme des Anrufaufkommens berichten: »Seit April gibt es monatlich rund 50 Prozent mehr Anrufe. Allerdings hat sich bei den Ratsuchenden einiges verschoben.«
So gab es während des Lockdowns deutlich weniger Anrufe von Erziehern und Lehrern, die bei Kindern und Jugendlichen etwas Auffälliges beobachtet hatten. »Weil Kindergärten und Schulen geschlossen waren, fehlte der Blick von außen und damit auch die soziale Kontrolle durch Institutionen mit gesetzlich verankertem Kinderschutzauftrag. Kinder und Jugendliche waren isoliert und sexuellem Missbrauch zu Hause wie in einem Brennglas ausgeliefert – das vermuten wir zumindest angesichts unserer Erfahrungen in diesem Themenbereich.«
Dass die Zahl der Anrufe beim Hilfstelefon trotzdem gestiegen ist, hat unter anderem damit zu tun, dass Anrufe aus dem sozialen Umfeld – zum Beispiel von Nachbarn – enorm zugenommen haben. »Weil alle zu Hause und viele im Homeoffice waren, ist den Menschen viel mehr aufgefallen. Das ist immerhin eine positive Entwicklung«, sagt Bodelschwingh.
Doch auch, wenn solche extremen und beunruhigenden Entwicklungen zugenommen haben sollten, beschränken sie sich trotzdem nur auf einen sehr kleinen Teil der Familien. Dass größerer, nachhaltiger Schaden bei Kindern und in Familien angerichtet wurde durch die Pandemie und den Lockdown, ist nach Überzeugung von Schulte-Markwort eher die Ausnahme als die Regel.
Große Stärke bei den Familien
Er sieht bei aller Sensibilität für die Verwundbarkeit der Kinder durch die Pandemie und Lockdowns bei den meisten Familien eine große Stärke: »Ich schätze, mehr als 80 Prozent der Eltern schaffen es, trotz der mehrfachen Belastung durch Homeoffice und Ausgehbeschränkungen für ihre Kinder ein gutes Umfeld zu schaffen, in dem sie stabil bleiben und sich wohlfühlen.«
Das gelte auch für Eltern mit einem eher niedrigen sozioökonomischen Status. »Natürlich ist es für diese Eltern oft schwierig, sich ausreichend um ihr Kind zu kümmern, weil es ihnen oft an Ressourcen wie Zeit und Geld fehlt. Dass viele es trotzdem geschafft haben, das ist in Bezug auf die jeweilige Familie und gesamtgesellschaftlich betrachtet eine enorme Leistung.«
Positive Aspekte des Lockdowns und der Pandemie haben ebenfalls Natalie Christner und ihre Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Universität München gefunden. Sie haben in einer Studie während des Lockdowns Eltern systematisch befragt, um ein Bild der familiären Situation und der Kinder zu bekommen. Zwar haben sie ähnliche Probleme und Symptome identifiziert, wie sie in der oben genannten COPSY-Studie beschrieben sind. Entscheidend für das Wohlbefinden der Familien sei das Stresslevel gewesen, sagt Christner: »Je erhöhter das eigene Stresslevel der Eltern, desto mehr Belastung berichteten sie auch bei ihrem Kind. Da gab es eine enge Verbindung.« Aber sie hab gleichfalls herausgefunden: »Nach Angaben der Eltern hatten die Kinder im Durchschnitt vermehrt den Eindruck, dass die Eltern Zeit für sie haben. Dies könnte dafür sprechen, dass bei einigen Familien der Lockdown den inneren Zusammenhalt nachhaltig gestärkt hat.«
»Für Kinder ist das Gesundheitsrisiko beim Kinderarzt deutlich geringer als das Risiko einer unzureichenden Versorgung«Ingeborg Krägeloh-Mann
Diesen Zusammenhalt könnte auch eine Idee stärken, für die Schulte-Markwort plädiert: einen Familientag in der Woche. »Der Lockdown hat gezeigt, dass die Produktivität im Homeoffice kaum niedriger ist als im Büro. In den Branchen, wo es möglich ist, könnte ein Familientag in der Woche, wo alle von zu Hause arbeiten, ein Gewinn sein.« Er stärke unter anderem den Zusammenhalt in den Familien.
Auch Huppertz hat einige Ideen, was in Zukunft – vor allem, wenn es zu neuen Wellen oder gar Lockdowns kommen sollte – besser gemacht werden kann. »Angesichts dessen, dass wir es hier mit einer neuen Gefahr zu tun hatten, über die wir kaum etwas wussten, waren die Maßnahmen vertretbar. Aber heute ließe sich eine schnelle und umfassende Schließung von Schulen und Kindergärten nicht mehr rechtfertigen. Die allermeisten Studien deuten darauf hin, dass Kinder unter zehn bis zwölf Jahren das Virus nicht in großem Maße weiter verbreiten«, sagt Huppertz.
Daher müsse eine weitflächige Schließung bestmöglich verhindert werden. Natürlich müsse auch hier auf Eindämmung gesetzt werden, nur eben mit Augenmaß und neuen Lösungen. In Frage kämen Ansätze, die mittlerweile an vielen Schulen praktiziert werden: die Öffnung des Pausenhofs nur für bestimmte Gruppen zu bestimmten Zeiten, um eine Vermischung der Klassen zu vermeiden; ein zeitversetzter Unterricht mit kleineren Klassen, um Abstand zu gewährleisten; ausgewählte, gezielte Lockdowns bei lokalem Infektionsgeschehen.
Kinder sind disziplinierter als Erwachsene
Ein erneuter, großer Lockdown mit Schließung aller Schulen und Kindergärten ist laut Huppertz auch aus juristischen Gründen problematisch: »Kinder haben ein Recht auf Teilhabe und Bildung – diese Rechte wurden während des Lockdowns in die Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen im Grunde gar nicht mit einbezogen.«
Auch Tanja von Bodelschwingh sieht für den Schutz der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen für die Zukunft erheblichen Handlungsbedarf: »Unser Eindruck war, dass der Kinderschutz zu Beginn des Lockdowns keine Rolle spielte. Viele Jugendämter haben den Kontakt zu den Familien und vor allem auch die Hausbesuche stark reduziert. Damit fehlte auch noch diese Unterstützung. Das darf so nicht noch einmal passieren.« Schließlich seien Mediziner und Pflegekräfte auch während des Lockdowns mit ganzer Kraft weiterhin im Einsatz gewesen – das Wohl der Kinder wiege ebenso viel!
Die Präsidentin der DGKJ Ingeborg Krägeloh-Mann hofft vor allem darauf, dass Eltern mit ihren Kindern auch weiterhin zum Kinderarzt gehen, für Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen, zur Behandlung chronischer Erkrankungen, bei Auffälligkeiten. »Für Kinder ist das Gesundheitsrisiko, sich beim Kinderarzt mit Sars-CoV-2 anzustecken, deutlich geringer als das Risiko einer unzureichenden Versorgung«, so Krägeloh-Mann.
Die Tendenz aller Experten geht also vor allem hin zu mehr Eigenverantwortung: Familien sollen sich selbstständiger organisieren könne, Kinder in der Betreuung eigenverantwortlich die Abstands- und Hygieneregeln einhalten. Funktioniert das? Im Großen und Ganzen ja, davon ist Huppertz überzeugt. »Untersuchungen zeigen, dass vor allem Kinder ab zehn bis zwölf Jahren sich recht gut an Abstands- und Hygieneregeln halten«, sagt er. Besser als Erwachsene? Huppertz nickt. »Ich glaube, das Lehrerzimmer ist in Sachen Ansteckungsgefahr sogar gefährlicher als ein Klassenraum.«
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