Fortschritt durch Aufklärung : Philosophie im Praxistest

Am 12. Juli 1721 übergab der Philosoph und Universalgelehrte Christian Wolff (1679–1754) die Leitung der Universität Halle in einem feierlichen Akt an seinen Nachfolger. Zu diesem akademischen Hochamt hielt er einen Vortrag, der als »Chinesenrede« Geschichte machen sollte. Seine damals hochaktuellen Überlegungen trugen den Titel: »Oratio de sinarum philosophia practica«, »Rede über die praktische Philosophie der Chinesen«.
Wolff war zu seiner Zeit einer der einflussreichsten Philosophen. Er prägte das moderne deutschsprachige Vokabular der Philosophie maßgeblich und begründete die erste große deutschsprachige philosophische Schule, die im 18. Jahrhundert die Hochschulen dominierte und als Schulphilosophie bezeichnet wurde. In seiner folgenreichen Chinesenrede setzte sich der gebürtige Breslauer mit Fragen der Ethik und der Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens auseinander, also mit zentralen Themen der politischen Philosophie. Dabei stellte er auch theologische Bezüge her, schließlich war es 1721 kaum vorstellbar, eine Philosophie zu machen, die Gott nicht mitverhandelte.
Wolffs Ausführungen stützten sich auf die Vorstellung, dass das damalige China ein vorbildlicher Staat voller tugendhafter Menschen sei. Dieses rosige Bild war in jener Zeit weit verbreitet. Das uralte, innerlich offenbar geeinte, wirtschaftlich starke Imperium mit seinem Beamtenapparat, der nur durch ein strenges Examen zugänglich war, galt als das Gegenbild zu dem von Ämterkauf, Vetternwirtschaft und launischen Fürsten geprägten Europa.
Die Chinesen, die dem Hallenser Publikum vor Augen gemalt wurden, waren dabei selbstverständlich keine Christen. Wolff argumentierte sogar, sie hätten nicht nur keinen Zugang zur christlichen Offenbarung, sondern nicht einmal eine klare Vorstellung von Gott. Nach Wolffs Konzept verfügten sie somit nur über den niedrigsten Grad der Tugend und daher auch nur einen eingeschränkten Zugang zur Wahrheit. Umso bemerkenswerter war seine Schlussfolgerung: Dieses Volk mit seinen sozusagen schlechten moralischen Startchancen hatte seine Gesellschaft nahezu ideal organisiert, weit besser als die christlichen Europäer!
Wie sollten die Chinesen das erreicht haben? Wolff hatte ihre Philosophen, allen voran Konfuzius (zirka 551–479 v. Chr.) und Mengzi (372–289 v. Chr.), studiert und lieferte eine Antwort: Das chinesische Bildungssystem zielt darauf ab, vernünftige Einsicht in das eigene Handeln, dessen Motive und Folgen zu vermitteln. Zudem gilt in der gesamten Gesellschaft das Gebot, dass Höherstehende ihren Untergebenen ein tugendhaftes Beispiel geben sollen und jeder beständig nach weiterer Vervollkommnung streben muss.
Kann es moralisch vollkommene Atheisten geben?
Wolff löste damit nicht weniger als einen Skandal aus. Zahlreiche Streitschriften erschienen; der bereits schwelende Streit zwischen dem 42-Jährigen und den in Preußen tonangebenden Theologen eskalierte. Ein Denker, der argumentierte, dass es moralisch vollkommene Atheisten geben könne, galt als Gefahr für das Seelenheil der Studenten, ja aller Untertanen von König Friedrich Wilhelm I. – der in Personalunion auch evangelisches Kirchenoberhaupt war, eine Art kleiner protestantischer Papst in Berlin.
Ein Denker, der argumentierte, dass es moralisch vollkommene Atheisten geben könne, galt als Gefahr für das Seelenheil
Auf dem Höhepunkt der Ereignisse wurde Wolff am 8. November 1723 unter Androhung der Todesstrafe aus Halle verbannt. Das Ganze war ein unerhörter geistesgeschichtlicher Vorgang, den schon Zeitgenossen auf eine Stufe mit den großen philosophischen Konflikten der Antike stellten. Doch bis heute gilt die Chinesenrede als Schlüsselmoment der Aufklärung. Nur was war das Aufklärerische daran?
Erstens natürlich: die Loslösung von der Theologie. Eine Ethik und eine erfolgreiche politische Ordnung können, so Wolff, ohne den geringsten religiösen Einfluss auskommen.
Zweitens: die Ausdehnung empirisch-wissenschaftlichen Denkens. Wolff vertritt nicht nur die Auffassung, dass systematisches Denken eine plausible und leistungsfähige Ethik ohne religiöse Bezüge ermöglicht – und dass sich genau dies in den chinesischen philosophischen Schriften wiederfindet. Er sieht in der gesamten chinesischen Praxis einen Beleg für die These, dass in allen Bereichen, auch in der Ethik, rationales, methodisches und empirisch begründetes Vorgehen geboten ist. Man müsse »in die Zukunft schauen und den Wert der Handlungen und Dinge, welche die Menschen betreffen, von ihr her bestimmen […] eine gut ausgebildete Vernunft sieht aber die Veränderungen im voraus, die aufgrund der Handlungen, die man getan oder unterlassen hat, erfolgen.«
Menschen sollen nicht bloß Gutes tun, weil sie eine Autorität dazu zwingt, sondern aus eigener Einsicht. Das chinesische Schulwesen erziehe dazu in optimaler Weise.
Menschen sollen nicht bloß Gutes tun, weil sie eine Autorität dazu zwingt, sondern aus eigener Einsicht
Drittens: ein positiver Begriff von Fortschritt. Wolff plädiert für eine beständige Vervollkommnung der Vernunft, der daraus gewonnenen Einsicht und des darauf gegründeten Handelns. Das Streben nach Perfektion dürfe nie enden. Geradezu modern argumentiert er mit dem Vorbild der chinesischen Vergangenheit gegen die damals verbreitete Vorstellung, das Europa seiner Zeit sei der vorläufige Höhepunkt der Menschheitsentwicklung.
Fünf Kriterien für gelebte Aufklärung
Wolffs Gedanken werfen die Frage auf, wo und wann seit der Epoche der Aufklärung tatsächlich Aufklärung stattfand, ja wirksam wurde. An Wolff anknüpfend schlage ich hierfür fünf Kriterien vor:
2. Ethische und politische Überlegungen und Normen werden empirisch-praktisch geprüft und nicht allein aus Dogmen abgeleitet.
3. Wenn Menschen erzogen oder motiviert werden, beurteilt man ihre Handlungen danach, ob sie von eigener, erlernter, vernünftiger moralischer Einsicht geprägt sind.
4. Es ist ein anerkanntes Ziel der Gesellschaft, Vernunft und moralisches Handeln stets weiter zu vervollkommnen.
5. Zur Erziehung und Besserung des Menschen wendet man neueste wissenschaftliche Erkenntnisse aktiv an.
Im Folgenden möchte ich analysieren, ob diese Kriterien auf die 300-jährige Geschichte seit der Epoche der Aufklärung zutreffen und inwiefern die Philosophie daran beteiligt war und ist, das Erreichte zu bewahren, weiterzuentwickeln oder wenigstens als normatives Ideal hochzuhalten.
Neben dem Fortschritt durch die Philosophie möchte ich zudem den Fortschritt in der Philosophie selbst betrachten. Ob es einen solchen überhaupt gibt, ist heiß umstritten. Manche Philosophen sehen die Entwicklung der Disziplin analog zu anderen Wissenschaften. Fortschritt zeigt sich in immer mehr Spezialisierung, immer mehr Differenzierung, immer mehr Textproduktion. Eine beliebte Gegenposition dazu beklagt einen »Skandal der Philosophie«: In Wahrheit gebe es keinen echten Erkenntnisfortschritt und keinerlei unumstrittene Errungenschaften. Optimistisch gewendet lässt sich die Bedeutung der Philosophie dann immerhin darin sehen, dass sie jeder Epoche in ihrer eigenen Sprache und ihrem eigenen Stil dieselben Grundfragen neu vermittelt.
Ich möchte eine Mittelposition einnehmen: Fortschritt in der Philosophie lässt sich aus meiner Sicht nicht allein daran festmachen, dass immer mehr zu immer kleinteiligeren Themen publiziert wird. Gleichzeitig bin ich aber auch nicht der Meinung, dass es keine unumstrittenen Errungenschaften gibt. Bestimmte Innovationen – etwa die Formulierung des kategorischen Imperativs durch Immanuel Kant (1724–1804), die Formalisierung der Logik durch Gottlob Frege (1848–1925) oder die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System bei Jürgen Habermas (*1929) – haben im philosophischen Feld unauslöschliche Spuren hinterlassen, auch wenn sie bis heute kontrovers diskutiert werden. Philosophischen Fortschritt sehe ich in philosophischen Texten, die eine Epoche geprägt haben, nicht in der Produktion neuer, unumstößlicher philosophischer Erkenntnisse.
Einflussreich oder bedeutungslos?
Damit haben wir vier Analysehinsichten zusammen: Wie steht es um die von Wolff abgeleiteten Kriterien? Welche Verantwortung trägt die Philosophie dafür? Welchen Anteil hatte sie daran, dass wir uns geschichtlich auf den heutigen Stand entwickelt haben? Und wie sieht es innerhalb der Philosophie als Fachdisziplin selbst aus?
Zum ersten Kriterium: Was die Emanzipation von der Religion angeht, hat die Aufklärung innerphilosophisch ganze Arbeit geleistet. Es gibt natürlich Philosophie, die sich mit Religion beschäftigt. Aber dies geschieht in großer Unabhängigkeit. Und: Als Philosoph Atheist zu sein, ist kein Skandal mehr, sondern heutzutage eher die Regel als die Ausnahme.
Die Bedeutung von Religion für die Gesellschaft in Deutschland und andere westliche Länder ist seit Jahrzehnten rückläufig. Die verbliebenen Reibungspunkte für Atheisten, etwa der Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder die Vertretung der Kirchen in Rundfunkräten, sind Relikte aus einer vergangenen Ära. Auch global nimmt die Intensität religiöser Überzeugungen eher ab – selbst wenn der Anteil an bekennend Religionslosen aus demografischen Gründen zumindest zeitweise noch einmal sinken dürfte.
Dass heute ein Konsens darüber besteht, dass eine gottesfürchtige Bevölkerung kein Staatsziel mehr ist, ist gewiss ein philosophisches Verdienst
Die Philosophie kann sich all das mit auf die Fahne schreiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist eine Forderung, die in die Aufklärungsphilosophie zurückreicht. Dass heute ein Konsens darüber besteht, dass eine gottesfürchtige Bevölkerung kein Staatsziel mehr ist, ist gewiss ein philosophisches Verdienst.
Während die Berufung auf göttliche Offenbarung in den Wissenschaften irrelevant geworden ist, ist ein Einfluss religiös verbrämten Denkens in der machtpolitischen Realität freilich nicht zu verleugnen. Man mag bezweifeln, dass ein Donald Trump oder ein Wladimir Putin wirklich religiöse Menschen sind, aber dass die Ideologien, die sie verfechten, betont religiös grundiert sind, ist kaum abzustreiten. Seit Jahrzehnten ist beispielsweise unter amerikanischen Republikanern eine kompromisslose, religiös begründete Haltung gegen Abtreibung Voraussetzung für quasi jede Karriere.
Die Rolle der Empirie
Wie steht es nun um ethische und politische Überlegungen: Werden sie – gemäß dem zweiten Kriterium – empirisch-praktisch geprüft und legitimiert? Innerhalb der Philosophie geschieht dies nicht flächendeckend. Zwar ist in der praktischen Philosophie, die sich mit Fragen des Handelns, der moralischen Bewertung und der Gestaltung des Zusammenlebens beschäftigt, längst etabliert, auf empirische Ergebnisse zurückzugreifen. Doch bis heute gibt es einflussreiche Strömungen, die eine zu starke Orientierung an empirischen Befunden kritisch betrachten.
Dabei ist zu bedenken: Zu Wolffs Zeiten gab es weder von der Philosophie getrennte Naturwissenschaften noch etablierte empirische Sozialwissenschaften. Disziplinen wie Soziologie, Sozialpädagogik oder Erziehungswissenschaft, wie sie heute an fast jeder größeren Hochschule vertreten sind, hätte er wohl als Teil der Philosophie verstanden.
Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild: Im Wissenschaftsbetrieb werden normative Überlegungen vielfach praktisch geprüft. Dabei spielt Philosophie, wie sie heute als Fach verstanden wird, jedoch nahezu keine Rolle mehr. Das muss auch gar nicht negativ bewertet werden. Nach verbreitetem Verständnis ist Philosophie heute gerade der Ort, an dem nicht selbst empirisch geforscht wird, sondern an dem zum Beispiel die empirischen Grundlagen anderer Wissenschaften und gesellschaftlicher Praktiken verhandelt wird.
Doch wie stellt sich das Ganze im größeren Zusammenhang dar? Einerseits gilt es als selbstverständlich, dass Normen sich an ihren praktischen Auswirkungen messen lassen müssen. Zum Beispiel ist in der Geschäftsordnung der Bundesregierung seit dem Jahr 2000 die Folgenabschätzung für alle Gesetzgebungsvorhaben verankert. Andererseits darf bezweifelt werden, dass Wolff unserer heutigen Gesellschaft dieselbe praktische Legitimation von Regeln und Institutionen attestieren würde, die er im chinesischen Kaiserreich zu erkennen glaubte. In westlichen Ländern ist es weit verbreitet, Erfolg im Leben als Ergebnis kämpferischer Durchsetzung zu verstehen – und »Moral« als etwas, das man sich leisten können muss. Einen breiten Konsens darüber, dass man ein guter Mensch zu sein hat, gibt es nicht unbedingt.
Hat die Philosophie einen Anteil an diesem Manko? Wer hier einen großen Namen anführen will, könnte Friedrich Nietzsche (1844–1900) nennen, dessen Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral bis heute einen fragwürdigen Einfluss (vor allem auf leicht zu beeindruckende junge Männer) ausüben dürfte.
Aber so weit müssen wir gar nicht gehen. Schon auf höchster Ebene finden sich Hinweise darauf, dass manche Normen von der praktischen Überprüfung aus dogmatischen Gründen ausgenommen werden. Immerhin ist 2024 die Ampel-Regierung in Deutschland an einem Dogma zur Staatsfinanzierung zerbrochen, das sich empirisch nicht bewährt hat und von der Mehrzahl der Volkswirtschaftler eher kritisch gesehen oder sogar abgelehnt wird.
Zudem stehen wir vor dem Problem, dass in unserer Industriegesellschaft die Folgen von allem und jedem tendenziell immer in Geld abgeschätzt werden. Dadurch wird die Rationalität verschiedenster politischer und gesellschaftliche Prozesse verzerrt, weil ökonomische Motivationen sich stärker durchsetzen können als andere. Dass die Folgen der Klimaveränderung oder die Schäden des Ukrainekriegs überhaupt in Euro und Dollar beziffert werden müssen, um politisch Gewicht zu erhalten, kann als ein Defizit an Einsicht gewertet werden. Weiß nicht jeder Mensch, dass es nicht wünschenswert ist, wenn Menschen sterben und ganze Landstriche unbewohnbar werden?
Zum dritten Kriterium: Sind wir motiviert, durch Einsicht in Gut und Böse tugendhaft zu handeln? Was tragen staatliche und gesellschaftliche Institutionen dazu bei? Hierzu nur ein Schlaglicht: Ich bin fünf Jahre lang Jugendschöffe gewesen. Im Jugendstrafrecht gilt der Erziehungsgedanke – Auflagen, Maßnahmen und Strafen sollen den Angeklagten zu einem besseren Menschen machen –, und die Gerichte nehmen dies auch ernst. Das ist ganz sicher ein Verdienst der Philosophie, wenn man berücksichtigt, dass das deutsche Jugendstrafrecht auf den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949) zurückgeht und einer Tradition zuzuordnen ist, die sich ganz explizit auf Kant beruft.
Auch die Verwaltung des deutschen Staates heute ist an vielen Stellen, gerade im historischen Vergleich, erstaunlich menschenfreundlich, wenn auch nicht überall und nicht zu jedem. Die Neigung unserer Institutionen, im Menschen die moralische Einsicht zu entwickeln und ihn dadurch zum tugendhaften Handeln zu führen, hängt dennoch oft auch davon ab, wie man aussieht und wie gut man die Amtssprache spricht.
Nun zum vierten Kriterium: Vervollkommnung der Vernunft, des moralischen Urteilsvermögens und des Handelns. Die Vorstellung eines beständigen Fortschritts ist tief in der Popkultur verankert. Werbeslogans wie »Es gibt immer was zu tun« und »Immer besser« greifen dieses Motiv auf ebenso wie Fitnesstrainer, die ihre Klienten auffordern, nur ja kontinuierlich an sich zu arbeiten. Auch auf höchster politischer Ebene finden wir dieses Prinzip: »Lebenslanges Lernen« ist ein offizielles Ziel der Bundesregierung.
Die notwendige Reflexion der Fortschrittsvorstellungen
Die Philosophie der Gegenwart hingegen ist von Vorstellungen des Fortschritts und der Vervollkommnung eher abgekommen. Man kann sich einmal fragen, welche praktischen Auswirkungen es hätte, wäre das anders. Dass die vielfach geforderten positiven Zukunftsszenarien und optimistischen Leitbilder wirklich nötig sind, um »gesellschaftlichen Zusammenhalt« und ein gutes Leben zu sichern, bezweifle ich bereits. Selbst wenn man sie braucht, ist nicht klar, warum sie – in Anlehnung an Wolff – unbedingt aus der Philosophie kommen müssen. Vielleicht wird sogar umgekehrt ein Schuh draus: Die Philosophie kann einer der Orte sein, wo die teils erstaunlich unreflektierten Fortschrittsvorstellungen, wie sie beispielsweise in weiten Teilen der Wirtschaft florieren, kritisch hinterfragt werden. Doch notwendig ist sie auch dafür nicht – natürlich können das auch Ökonomen, Ingenieure und Physiker, wie schon der Club of Rome zeigte.
Auch wenn sie in der Philosophie nicht mehr sonderlich en vogue ist: In unserer Alltagskultur ist das Ideal der beständigen Vervollkommnung überall präsent. Aber ist sie gesamtgesellschaftlich verankert? Wenn man darauf schaut, dass die politischen Einstellungen der Deutschen sich seit der Nachkriegszeit erheblich verschoben haben, sich etwa die Demokratie viel größerer Beliebtheit erfreut und der Nationalsozialismus inzwischen viel weniger als »eine an sich gute Idee, bloß mit schlechter Umsetzung« beurteilt wird als noch vor 60 Jahren, dann kann man durchaus auf diese Idee kommen. Andererseits haben wir die bekannten Probleme mit Antisemitismus, Rassismus und latenter Zustimmung für demokratiefeindliche Umtriebe, und in anderen Ländern sieht es in dieser Hinsicht noch weitaus düsterer aus. Zwar kann man gruppendynamische Prozesse nicht bloß einem Mangel an individueller Tugend zuschreiben, aber wenn wir Wolff folgen, dann müssen die Institutionen in einem aufgeklärten Staat sich auch um die Tugendhaftigkeit der gesellschaftlichen Kollektive kümmern.
Das fünfte Kriterium ist schnell abgehandelt: dass wissenschaftliche Erkenntnisse zur Erziehung und Bildung herangezogen werden, steht außer Zweifel. Es gibt empirische Erziehungswissenschaften, Bildungsforschung, allerhand Fachdidaktiken – allesamt mit dem Ziel, das Lehren und Lernen zu verbessern. Allerdings sollten wir bedenken, dass auch jene, denen Vernunft und Tugend relativ egal sind – etwa die Betreiber von digitaler Desinformation –, ebenso wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Zwecke nutzen, vielleicht sogar in noch stärkerem Maß.
Philosophie als öffentliche Aufgabe
Wirkt die Aufklärung noch heute? In vielen Lebensbereichen kann man heute, gerade in liberalen Demokratien, konstatieren, dass sie erhebliche positive Effekte hatte, die Christian Wolffs Vorstellungen und den fünf Kriterien entsprechen. Gleichzeitig gilt aber: Zu all diesen Wirkungen gibt es bis in die Gegenwart auch mehr oder minder starke Gegentrends.
Es mag auffallen, was alles nicht erwähnt wurde: Emanzipation, Gleichheit, Freiheit, Demokratie – all das gab es bei Wolff nicht, der sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie die anderen zeitgenössischen Aufklärer auch, wohl kaum eine liberalere Staatsform vorstellen konnte als die aufgeklärte absolute Monarchie. Diese holte ihn in Gestalt von Friedrich II. von Preußen übrigens 1740 nach Halle zurück, nachdem Wolff nach seiner Verbannung 17 Jahre zuvor an der Universität Marburg in Hessen aufgenommen worden war.
Was den Liberalismus angeht, so sind wir heute erheblich weiter. Ich möchte den vielen Zeitdiagnosen zum Schicksal der Demokratie aber keine weitere hinzuzufügen. Wir kennen im Prinzip seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Philosophie den Gedanken, dass als Voraussetzung für Weltfrieden und geschichtliche Entwicklung erst einmal alle Menschen in republikanisch verfassten Staaten leben sollten. Dieses Ziel schien vor Kurzem noch beinahe zum Greifen nah, doch seit einigen Jahrzehnten entfernen wir uns wieder davon.
Welche Rolle spielt die Philosophie nun bei alledem? Ich bin der Ansicht: So wie sie heute dasteht, trägt sie durchaus zur Verwirklichung aufklärerischer Werte bei. Und dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass es hier und da auch ganz gut ohne sie ginge.
Das allerdings ist ein müßiger Gedanke. Das intellektuelle Geschehen ist so stark philosophisch geprägt, dass der Einfluss der Philosophie so oder so nicht wegzudenken ist. Wir könnten etwa fragen, ob die Justiz in Deutschland in ihrer Praxis stärker auf aktuelle Beiträge aus der philosophischen Forschung hören sollte. Aber selbst wenn sie das gar nicht täte – was Juristen tun, wenn sie mit Rechtstexten allein nicht mehr weiterkommen, ist immer Philosophie. Und auch wenn Wissenschaftler sich mit Wissenschaftstheorie beschäftigen, also über die Grundlagen, Methoden und Ziele ihrer Forschung nachdenken, dann betreiben sie Philosophie – ob sie es wollen oder nicht.
Was kann die Philosophie künftig dazu beitragen, dass die Aufklärung ihre Flugbahn fortsetzt? Sie sollte daran mitwirken, zur Vernunft und zur Tugend zu erziehen. Das heißt insbesondere, ernst zu nehmen, welche Wirkung philosophische Bildung in der breiten Öffentlichkeit und im Bildungssystem haben kann. Man könnte etwa zweierlei angehen: zum einen, dass Berufsphilosophinnen und -philosophen sich häufig nicht trauen, für die breite Öffentlichkeit zu schreiben. Zum anderen, dass an den Philosophieinstituten sowohl Kommilitonen als auch Lehrpersonal bis heute häufig etwas herablassend auf die Lehramtsstudierenden schauen.
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