Abbrechender Gipfel: Was hinter dem drohenden Bergsturz in Blatten steckt

Mehr als 300 Menschen mussten am Montag das Schweizer Dorf Blatten im Kanton Wallis verlassen, weil eine Gerölllawine, potenziell eine der größten der letzten Jahrzehnte, das Dorf bedroht. Bis zu fünf Millionen Kubikmeter Gestein sind an der Nordostflanke des Kleinen Nesthorns instabil geworden, eines Nebengipfels des 3706 Meter hohen Nesthorns, das durch einen Grat mit dem sehr steilen Bietschhorn verbunden ist. Unterhalb der bröckelnden Felswand droht eine weitere Gefahr: der Birchgletscher, eine einige hundert Meter lange Eiszunge, die sich hangabwärts in Richtung Blatten erstreckt. Bei einem großen Bergsturz könnte das Gestein den Gletscher mitreißen und dabei zum Schmelzen bringen, so dass dessen Wasser als Schlammstrom ins Tal stürzt. Durch das enthaltene Wasser sind Schlammströme meist deutlich länger und verheerender als »trockene« Bergstürze.
Bisher allerdings stellte sich das Wunschszenario der Schweizer Fachleute ein. Obwohl sich in der Bergflanke schon am Montag meterbreite Spalten öffneten, gab es statt eines großen Bergsturzes immer wieder kleinere Abbrüche. Ein kleinerer Schlammstrom, ausgehend von einem Felssturz auf den Birchgletscher, war rund 500 Meter oberhalb des Dorfs zum Erliegen gekommen. Bislang sind nach Angaben der Schweizer Behörden rund zwei Millionen Kubikmeter Gestein abgebrochen. Gebannt ist die Gefahr jedoch nicht. Weiterhin sind große Felsmassen am Berghang instabil; zusätzlich belasten die auf dem Gletscher abgelagerten Trümmermassen das Eis und erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Schlammströmen. Solches vom Berg strömende Material könnte auch den Fluss Lonza blockieren und zu einem See aufstauen. Derartige durch Erdrutsche entstandene Dämme können plötzlich brechen und eine verheerende Flutwelle durch das Tal schießen lassen.
Erdrutsche und Bergstürze sind in Hochgebirgen aber keineswegs selten oder unerwartet. Wasser und Eis erweitern Risse und Klüfte im Gestein, fallende Brocken reißen weiteres Material mit und Gletscher und Flüsse vertiefen die Täler. So beobachtete ein Forschungsteam des Geoforschungszentrums Potsdam im Herbst 2014 und im Frühjahr 2015 an einer Felswand nicht weit von Blatten binnen sechs Monaten insgesamt 49 kleine Felsstürze von bis zu zwei Kubikmeter Gestein. Solche Prozesse laufen seit Jahrmillionen in den Alpen ab und wirken dem langsamen Aufstieg des Gebirges entgegen. Fachleute gehen davon aus, dass kleinere Felsstürze durch den Klimawandel zunehmen. Höhere Temperaturen lassen Permafrost tauen und bringen stärkere Niederschläge und damit mehr Erosion.
Gefahr durch steile Granitflanken
Dagegen gibt es bisher keine Belege dafür, dass große Bergstürze mit Millionen Kubikmeter Gestein, wie der nun in Blatten drohende, durch die globale Erwärmung zunehmen. Sie sind schlicht nicht häufig genug, dass man die Veränderung über die Zeit bislang zuverlässig messen könnte. Allerdings sind sie auch keineswegs selten - immer wieder gefährden fallende Gesteinsmassen ganze Dörfer. Schlagzeilen machten zuletzt die Hänge des Piz Linard, an denen 2023 ein Schuttstrom erst kurz vor dem Dorf Brienz zum Stehen kam.
Zwischen diesem und dem aktuell drohenden Bergsturz gibt es jedoch einige Unterschiede, die die Situation in Blatten potenziell gefährlicher machen. So sind die rutschenden Gesteinsmassen über Brienz lange bekannt und unter Beobachtung; die Gesteine dort sind vergleichsweise weiche Sedimente wie Dolomit und Tonstein; dadurch sind die Hänge wesentlich flacher als am Nesthorn. Das nämlich ist Teil eines Massivs aus kristallinem Grundgestein, vor allem Granit, das der Erosion besser widersteht und schroffe Gipfel bildet. Erdrutsche gewinnen an den steilen Hängen mehr Energie, können größere Strecken ins Tal zurücklegen und dort zum Beispiel Flüsse aufstauen.
Die Situation in Blatten ähnelt vielmehr einem der größten und tödlichsten Felsstürze in der Schweiz der letzten Jahrzehnte. Acht Menschen starben am 23. August 2017, als von der Nordostflanke des Piz Cengalo rund drei Millionen Kubikmeter Gestein abbrachen und einen Schlammstrom auslösten, der das Dorf Bondo erreichte und mehrere Häuser zerstörte. Auch hier stürzten Felsmassen den steilen Hang eines Granitmassivs mit enormer Wucht auf einen darunterliegenden Gletscher hinab. Insbesondere hatten Fachleute hier nicht damit gerechnet, dass ein Schlammstrom entstehen könnte - der Fels sei dafür zu trocken, so die damalige Annahme. Allerdings schmolz entweder der Gletscher selbst durch den Aufprall, oder das Geröll schleppte wassergesättigtes Sediment von der Gletschersohle mit. Lediglich ein Auffangbecken im Ort selbst verhinderte schlimmere Zerstörungen.
Die Ereignisse von Bondo sind deswegen gleich eine doppelte Warnung für die Menschen von Blatten. Nicht nur erwies sich der Bergsturz als verheerender als erwartet - die Fachleute wurden damals trotz jahrelanger Vorwarnung und Vorbereitung vom Ausmaß der Lawine überrascht. Darum ist derzeit sehr schwer einzuschätzen, wie sich der Bergsturz in Blatten fortsetzt und welche Gefahren wirklich drohen. Nicht zuletzt könnte sich das bisherige Muster kleinerer Abbrüche fortsetzen. In dem Fall passiert womöglich einfach gar nichts.
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