Direkt zum Inhalt

Coronavirus: Was Mutationen für die Pandemie bedeuten

Immer mehr genetische Veränderungen sammeln sich im Erbgut des Virus. Wird Sars-CoV-2 dadurch gefährlicher – oder macht die Evolution Covid-19 zu einer harmlosen Erkältung?
Skizzenhafte Darstellung eines Coronavirus mit Membran, Spikes und einzelsträngiger RNA.

Das Coronavirus mutiert, und die genetischen Neuerungen können die Spielregeln der Pandemie ändern: Am 30. April berichtete ein Team um Bette Korber vom Los Alamos National Laboratory, eine einzelne Veränderung im Spike-Protein des Virus habe den Erreger ansteckender gemacht. Die als D614G bezeichnete Veränderung, schrieb das Team in seiner Vorabveröffentlichung, entstand im Februar in Europa und verdrängte danach weltweit andere Virusvarianten. Laut Laborstudien infizieren Viren mit dieser Mutation ihre Zielzellen effektiver.

D614G ist eine Punktmutation, bei der ein einzelner Baustein im Erbgut des Virus ausgetauscht wurde. Doch dieser Baustein veränderte das Spike-Protein, das aus der Oberfläche des Coronavirus herausragt und bestimmt, an welche Zellen das Virus andockt und sie infiziert. Aus dem kompakten Kern des Proteins ragen Molekülschleifen hervor, die an den ACE2-Rezeptor binden. Schon wenige solche Mutationen in diesen Schleifen können das Virus besser andocken lassen.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Allerdings sehen viele Fachleute diese Interpretation von D614G kritisch. Der Grund ist, dass Mutationen mit positiven Auswirkungen für das Virus äußerst rar sind, erklärt der Virologe Sébastien Calvignac-Spencer vom Robert Koch-Institut. »Die meisten Behauptungen über eine derartige Entwicklung neuer Viruseigenschaften, die sich innerhalb einer Epidemie schnell verbreiteten, haben sich nicht bestätigt«, sagt er. So zum Beispiel bei Ebola.

Zwei bleibende Mutationen pro Monat

Punktmutationen wie D614G sind nicht ungewöhnlich, und die meisten von ihnen haben keine Auswirkungen. Sie sammeln sich im Lauf der Zeit im Viruserbgut an, weil der Kopiervorgang des Viruserbguts fehleranfällig ist. Es gibt umgekehrt jedoch gleich mehrere Faktoren, die den Effekt solcher Mutationen einschränken. Zum einen besitzen Coronaviren einen speziellen Mechanismus zur Fehlerkorrektur. Dann ist ein Teil der verbleibenden Mutationen stumm: Welche Aminosäure im Protein durch eine bestimmte Dreiergruppe von Genbausteinen codiert wird, bestimmen in manchen Fällen nur die ersten beiden Basen. Die dritte ist dann austauschbar, eine Veränderung hier hat keinen Effekt.

Die meisten Mutationen allerdings beseitigt die Selektion. Eine zufällige Veränderung an einem funktionierenden Protein behindert mit überwältigender Wahrscheinlichkeit dessen Arbeit. Mutationen, die großen Schaden anrichten, verschwinden schnell wieder. Etwa ein bis zwei bleibende Mutationen sammeln sich pro Monat in dem 30 000 Buchstaben langen Erbgut von Sars-CoV-2, weit weniger als zum Beispiel bei HIV oder Grippe. »Der größte Teil dieser zufälligen Veränderungen hat keinen Effekt«, erklärt Calvignac-Spencer. Zwar gebe es auch Punktmutationen, die das Virus begünstigen. »Aber das ist sehr selten«.

Viren können jedoch auch größere genetische Sprünge machen, wenn sie ganze Teile ihres Genoms untereinander austauschen. Das passiert besonders leicht bei Grippeviren, die ein segmentiertes Genom aus mehreren getrennten Einzelteilen besitzen. Infizieren zwei unterschiedliche Stämme eines solchen Virus die gleiche Zelle, enthalten die neu gebildeten Viren eine zufällige Zusammenstellung ihrer Gensegmente; ein Prozess, den man als Reassortment bezeichnet.

»Der größte Teil dieser zufälligen Veränderungen hat keinen Effekt«Sébastien Calvignac-Spencer

Allerdings geht das bei Coronaviren nicht, aus einem ganz simplen Grund. Sie haben, wie viele andere Viren, kein segmentiertes Genom. Aber auch sie können ganze Erbgutsegmente austauschen. Das geschieht durch Rekombination, den gleichen Prozess, der auch bei der Bildung von Samen- und Eizellen stattfindet. Dabei tauschen die einzelnen Chromosomen untereinander ganze Teile ihres Erbgutstrangs aus.

Auch Viren können Gene tauschen

Bei Viren ist dieser Prozess insgesamt komplexer, erklärt der Virologe Luka Cicin-Sain vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. »Die Rekombination kann auch zwischen Virus und Wirtszelle passieren.« Außerdem können nicht zueinander passende Genstücke ebenfalls rekombinieren und unter Umständen Teile der Gene verloren gehen.

Solche Genaustausche modifizierten das Erbgut viel umfassender als Punktmutationen, sagt Calvignac-Spencer. »Allgemein kann man davon ausgehen, dass Reassortment und Rekombination die Eigenschaften deutlicher verändern als die meisten kleinen Mutationen, denn sie entsprechen einer plötzlichen Veränderung an sehr vielen Positionen gleichzeitig.« Bei Coronaviren kämen sowohl Rekombination als auch Punktmutationen relativ häufig vor, Letztere aber seltener als bei der Grippe.

Bisher gibt es keinen klaren Beleg dafür, dass Mutationen des Sars-CoV-2 den Verlauf der Pandemie beeinflussen. Rekombination hat man bisher noch nicht einmal beobachtet. Von einer Mutation mit dramatischen Auswirkungen wissen wir allerdings – jener, die den Erreger befähigte, vom Tier zum Menschen zu wechseln. Dabei erwarb das Spike-Protein eines Fledermausvirus die Fähigkeit, an den menschlichen ACE2-Rezeptor zu binden.

Für einen solchen »Glückstreffer« braucht man nicht nur sehr viele Mutationen. Sie muss auch zum Menschen gelangen und sich dort etablieren, ohne durch Zufall wieder auszusterben. Deswegen sind diese als »spillover« bezeichneten Ereignisse sehr selten. Genetische Indizien deuten darauf hin, dass die Vorläufer von Sars-CoV-2 mindestens 50 Jahre ohne grundsätzliche genetische Veränderungen in Fledermäusen kursierten, bevor es ihnen gelang, sich bei Menschen auszubreiten.

Warum Coronaviren oft auf Menschen überspringen

Trotzdem scheinen Coronaviren extrem gut darin zu sein, zwischen verschiedenen Arten zu wechseln. Allein in den letzten 20 Jahren sprangen drei neue Coronaviren auf Menschen über – in der Geschichte der Infektionskrankheiten beispiellos. Das Erfolgsgeheimnis dieser Viren scheint das Spike-Protein zu sein, mit dem sie an ihre Zielzellen andocken und in sie eindringen.

Wie sich zeigt, ist das Spike-Protein der Coronaviren perfekt dafür geeignet, den Zielrezeptor zu wechseln. An seiner Oberfläche findet sich nicht bloß ein Bereich, sondern gleich mehrere, die mit ihren variablen Proteinschleifen an Rezeptoren binden können. Schon wenige Mutationen in diesen Schleifen können verändern, an was für Rezeptoren das Virus bindet.

Vor allem aber können einige Bindungsstellen vor sich hin mutieren, ohne dass das Protein schlechter an sein ursprüngliches Ziel bindet. Denn daran sind nicht alle Bindungsstellen beteiligt. Tatsächlich können bei verschiedenen Viren unterschiedliche Bindungsstellen die gleiche Funktion übernehmen. So reagieren die Spikes des »Erkältungsvirus« HCoV-NL63 und der Sars-Coronaviren jeweils auf ACE2, allerdings mit Hilfe anderer Schleifen.

Zudem macht sich das Coronavirus das Überspringen der Artgrenze einfacher, indem es sich auf Rezeptoren spezialisiert, die eine bestimmte, in allen tierischen Zellen verbreitete Funktion haben – und deswegen in sehr vielen unterschiedlichen Tieren sehr ähnlich aufgebaut sind. Deswegen sind nur wenige Mutationen nötig, um die Wirtsspezifität zu ändern.

Am Anfang der Pandemie regiert der Zufall

Wie das Beispiel D641G zeigt, können das Spike-Protein und seine Mutationen auch für den weiteren Verlauf der Epidemie im Menschen durchaus entscheidend sein. Denn sie bestimmen, wie ansteckend der Erreger ist – und in den Bindungsstellen sammeln sich am leichtesten Veränderungen an. Zu Beginn einer Epidemie ist jedoch ein anderer Faktor viel wichtiger als Mutation und Selektion: der Zufall.

Das liegt vor allem an der sehr geringen Zahl der Infizierten zu diesem Zeitpunkt. »Hat man zwei Infizierte und einer davon trägt eine leichter übertragbare Variante, dann spielen die Umstände trotzdem eine sehr große Rolle«, sagt Calvignac-Spencer, »unabhängig von der theoretischen Fitness der Virusvariante in einer großen Population.« Beim Ausbruch ist außerdem die Zahl der genetischen Varianten sehr gering.

Den Zufall sehen einige Fachleute jedoch auch bei der auffällig großen Verbreitung der Mutation D614G zu Beginn der Pandemie am Werk. Im Mai 2020 analysierte eine internationale Autorengruppe die Verbreitungsmuster der Epidemie in Europa und Asien und kam zu dem Schluss, dass die Mutation so häufig auftritt, weil sie in drei sehr frühen unkontrollierten Ausbrüchen vertreten war.

»Meistens werden Mutationen bevorzugt, die eine schnellere Ausbreitung ermöglichen«Luka Cicin-Sain

Die bei solchen Epidemien wie in Norditalien oder New York auftretenden Genvarianten bekommen durch die hohe Zahl der Nachkommen einen Schub – ohne selbst ansteckender sein zu müssen. In den Worten der Arbeitsgruppe: »Diese Virenlinie scheint durch Glück verbreitet worden zu sein, nicht durch ihre Fitness.« Während definitive Belege noch ausstünden, sei klar, dass die besondere Bedeutung dieser Mutation übertrieben dargestellt wurde.

Dieser Gründereffekt ist bei Viren wie Sars-CoV-2, die sich überwiegend durch Superspreader und große Ausbrüche verbreiten, besonders wichtig. Er bestimmt auch zu einem großen Teil, welche Viruslinien in verschiedenen Regionen dominieren. Da ein großer Teil der Infizierten niemanden ansteckt, sterben viele andere Virenlinien aus und werden durch die Nachkommen der Superspreader-Linie ersetzt. Doch je länger die Epidemie dauert, desto geringer wird der Einfluss des Zufalls. Im Lauf der Zeit erzeugen die Mutationen immer mehr genetische Vielfalt, an der die natürliche Selektion ansetzen kann. Das kann durchaus sehr schnell gehen – zum Beispiel im Körper Infizierter.

So sieht man bei vielen RNA-Viren Fluchtmutationen, mit denen die Viren während der Infektion dem Immunsystem entkommen. Diese Mutationen verändern entscheidende Punkte in Virenproteinen, an denen Antikörper ansetzen, so dass die Viren nicht mehr erkannt werden – bei Sars-CoV-2 wurde das in Versuchen mit Antikörpern bereits beobachtet. Starker Selektionsdruck begünstigt solche Veränderungen, mit denen Viren auf direkte Angriffe reagieren. Deshalb sind sie im Vergleich zu anderen günstigen Mutationen sehr häufig. Derartige genetische Modifikationen können zum Beispiel dazu führen, dass Impfstoffe und Medikamente unwirksam werden, und sind der Grund, warum man sich mit vielen Viren mehrfach anstecken kann.

Die Zukunft von Sars-CoV-2

Aber auch größere Anpassungen, die die Eigenschaften der Epidemie allgemein verändern, sind denkbar. »Meistens werden Mutationen bevorzugt, die eine schnellere Ausbreitung ermöglichen«, sagt Cicin-Sain. Solche Mutationen könnten deswegen in einer eventuellen zweiten Welle häufiger sein. Dazu müssten sie jedoch erst einmal auftauchen, und das geschieht nicht zwangsläufig. »Die Mutationen entstehen aber durch Zufall«, erklärt der Forscher. Deswegen könne es genauso sein, dass das Virus in der nächsten Ansteckungswelle die gleichen Eigenschaften hat wie jetzt.

Langfristig allerdings wird das Virus evolvieren – sich also durch das Zusammenspiel von Mutation und Selektion an den Menschen anpassen. Das heißt auch, dass viele Mutationen, die sich am Anfang der Epidemie noch verbreiten, sich über längere Zeiträume als nachteilig erweisen und wieder verschwinden dürften. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass das Virus an Aggressivität verliert.

So gehen viele Fachleute davon aus, dass Epidemieviren dazu neigen, mit der Zeit harmloser zu werden. »Es ist tatsächlich eine sehr einleuchtende Idee, dass es im Interesse eines Krankheitserregers ist, seine Gefährlichkeit zu verringern, um seine Ausbreitung zu erhöhen und damit seine Chance, in der Bevölkerung zu bestehen«, sagt Sébastien Calvignac-Spencer. Ein extrem tödliches Virus könne zum Beispiel zu schnell töten, um sich effektiv zu verbreiten.

Es gibt eine ganze Reihe Beispiele von Viren, die mit ihren Wirten so lange gemeinsam evolvierten, dass sie nun mit ihnen koexistieren und sie nicht mehr krank machen. Einige Schlupfwespenarten kooperieren sogar mit bestimmten Viren und könnten sich ohne diese nicht mehr fortpflanzen. Auch bei Menschen scheinen einige Viren im Verdauungstrakt positive Auswirkungen auf das Immunsystem zu haben.

Doch das muss nicht so sein. »Vermutlich gibt es ein optimales Gleichgewicht zwischen Übertragbarkeit und Virulenz für Krankheitserreger«, erklärt Calvignac-Spencer, »aber es erscheint inzwischen klar, dass dieses Gleichgewicht auch schon erreicht sein kann, wenn das Virus noch gefährlich ist.« Dafür gibt es diverse Beispiele auch bei Viren, die schon Jahrtausende und länger unter Menschen kursieren – etwa Masern oder Pocken. Es gibt also keine Garantie, dass Sars-CoV-2 im Lauf der Zeit harmloser wird.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.