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Schlafstörungen: »Träume sind ein Fenster zur psychischen Gesundheit«

Spiegeln sich Krankheiten in unseren Träumen? Das erforscht Isabelle Arnulf an der Universität Sorbonne in Paris. Im Interview schildert die Neurologin, wie sich Depressionen, Psychosen und Hirnerkrankungen in der Traumwelt manifestieren.
Kleine helle Lichter in einem nächtlichen Wald
Was hat das wohl zu bedeuten? Diese Frage haben sich wohl die meisten schon einmal gestellt, nachdem sie aus einem unheimlichen Traum erwacht sind.

Träume können wertvolle Hinweise geben, sagt Isabelle Arnulf, Professorin für Neurologie an der Universität Sorbonne in Paris. Seit rund 30 Jahren erforscht sie, wie der Mensch träumt: Sie vermisst Lachmuskeln und Sorgenfalten, kommuniziert mit Träumenden und hilft, Albträume zu vertreiben.

»Spektrum.de«: Frau Professor Arnulf, unsere Träume können seltsam und verwirrend, manchmal sogar gruselig sein. Sollten wir sie als Warnsignal für psychische Krankheiten verstehen?

Isabelle Arnulf: Die Versuche, für bestimmte psychische Störungen charakteristische »Traumtypen« zu identifizieren, sind nicht sehr weit gediehen. Zwar träumen Menschen mit schizophrenen Psychosen ähnlich, wie sie bei Tag denken, also unlogisch und unzusammenhängend, und die Träume sind wenig abwechslungsreich, sie drehen sich meist um Alltägliches. Auch Menschen mit Autismus haben eine eher karge Traumwelt. Aber das lässt keinen Umkehrschluss zu: Nicht jeder, der nur mäßig spannend träumt, ist autistisch oder schizophren. Träume allein reichen nicht aus, um eine psychische Erkrankung zu diagnostizieren. Einige Dinge sollten uns allerdings aufhorchen lassen. Wer an psychischen Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, wird zum Beispiel häufiger von Albträumen geplagt.

Regelmäßige Albträume könnten demnach auf eine mögliche Gefahr hinweisen?

Ja, und besonders deutlich ist ein Zusammenhang mit dem Suizidrisiko bei jungen Menschen. In jedem zweiten Fall erkennen Ärzte Suizidalität nicht, das ist ein gravierendes Problem. Da wiederholte Albträume mit einem erhöhten Suizidrisiko korrelieren, werden seit Neuestem Träume in die Diagnostik mit einbezogen. Das ist ein Riesenfortschritt, denn so kann man die Betroffenen früher mit Präventionsmaßnahmen ansprechen.

Gibt es auch Träume, die auf Depressionen schließen lassen?

Isabelle Arnulf | Die Schlafforscherin ist Professorin für Neurologie an der Universität Sorbonne in Paris und leitet die Abteilung für Schlafstörungen am Pariser Hôpital La Pitié-Salpêtrière.

Die Träume depressiver Menschen sind auffallend oft von negativen Emotionen geprägt – ein Spiegelbild des Gemütszustands, in dem sich die Betroffenen tagsüber befinden. Das haben der Psychologe Dieter Riemann und sein Team an der Universität Freiburg in den 2000er Jahren herausgefunden. Sie haben die Träume von Patienten analysiert, die mit Antidepressiva behandelt wurden, und beobachteten, dass sich die Träume mit der Zeit besserten. Das konnte aber mehrere Wochen dauern. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der emotionale Grundton der Träume spiegle den Grad der depressiven Verstimmung des Patienten wider. Doch so einfach ist es nicht, denn in den ersten Wochen der Behandlung unterdrücken die Antidepressiva häufig den REM-Schlaf, also die Phase, in der man am meisten träumt. Deshalb dauert es in der Regel einen Monat, bis sich die Patienten überhaupt wieder an ihre Träume erinnern. Das macht es schwierig, den Zusammenhang von Traum und Depression zu verstehen und zu beurteilen, ob das eine das andere bedingt. Es kann helfen, sich zwei Arten von Träumen genauer anzusehen: Klarträume, also so genannte luzide Träume, und REM-Schlaf-Verhaltensstörungen.

Was ist das Besondere an diesen Träumen? Was kann man aus ihnen lernen?

Bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung setzen die Schlafenden ihre Träume in die Tat um: Manche essen im Schlaf ein imaginäres Butterbrot, andere wälzen sich im Bett hin und her und kämpfen gegen einen unsichtbaren Gegner. Dieses Ausagieren beruht gewöhnlich auf einer Schädigung des Hirnstamms, die dazu führt, dass die Motorik im REM-Schlaf nicht wie bei gesunden Menschen blockiert wird. Für Betroffene und ihre Partner bedeutet das ein erhöhtes Unfall- und Verletzungsrisiko. Allerdings gewährt es einen viel direkteren Zugang zum Traum als über die vagen Erzählungen gesunder Schlafender – sofern diese sich nach dem Aufwachen überhaupt an ihre Träume erinnern.

Und was verraten Klarträume?

Die Schlafenden werden sich bewusst, dass sie träumen, und wachen dadurch nicht auf, können aber mit der Außenwelt kommunizieren. Für ein Experiment hatten wir vorab vereinbart, dass sie während eines luziden Traums schwimmen gehen: Wenn sie ins Wasser eintauchen und wieder auftauchen, sollten sie mit den Augen zweimal nach rechts blicken. Das konnten wir messen und so feststellen, dass die Atempause im Traum – die unter Wasser verbrachte Zeit – sich in der realen Atmung spiegelte. In einem intensiveren Traum, etwa bei einer Verfolgungsjagd, sind solche Signale natürlich nicht so einfach umzusetzen. Wir versuchen inzwischen, noch einfachere Signale zu verwenden, beispielsweise angenehme Momente im Traum mit einem dreifachen Lächeln zu markieren und unangenehme mit dreimaligem Stirnrunzeln. Das messen wir dann mit Hilfe von Elektroden an den Muskeln des Jochbeins beziehungsweise der Stirn. So könnten wir den Zusammenhang zwischen Traum und Gemütslage genauer erforschen – sofern es uns gelingt, unter den Klarträumenden welche zu finden, die an Depressionen leiden. Damit beschäftigt sich derzeit Jean-Baptiste Maranci aus unserem Team.

Wie würde eine solche Forschung konkret aussehen?

Ein Merkmal depressiver Menschen ist, dass sie morgens nach dem Aufwachen trauriger sind als abends, während es bei Gesunden umgekehrt ist: Beim Aufwachen sind sie tendenziell fröhlicher als beim Einschlafen. Wir vermuten daher, dass Schlafen und Träumen dazu dienen, negative Emotionen zu dämpfen, und dass dieser Vorgang bei depressiven Menschen nicht richtig funktioniert. Das Forschungsprojekt von Jean-Baptiste Maranci besteht darin, unter allen im Schlaflabor erfassten Signalen jene Marker zu identifizieren, die positive oder negative Gefühle im Traum kennzeichnen. Plötzliche Freude könnte sich zum Beispiel in einer veränderten Hirnaktivität äußern, in Verbindung mit einer bestimmten Augenbewegung und einer Beschleunigung von Herzschlag und Atmung. Wir haben das untersucht, indem wir mit den Träumenden wiederum vorab bestimmte Signale verabredet haben. Die Daten werden wir mit künstlicher Intelligenz auswerten, um eine möglichst große Bandbreite von Faktoren zu berücksichtigen. Nach dieser ersten Phase versuchen wir die emotionalen Marker normaler Träume bei gesunden Versuchspersonen zu bestimmen, um zu verstehen, wie der Mensch im Schlaf Gefühle reguliert und negative Gefühle verarbeitet. Anschließend wollen wir dasselbe auch bei depressiven Menschen untersuchen, um zu klären, warum dieser Mechanismus bei ihnen nicht funktioniert.

»Träume sind eine Art Kopfkino, in dem wir schwierige Situationen noch einmal durchleben«

Was weiß man bislang darüber, wie wir Gefühle in Träumen verarbeiten?

Es gibt dazu eine These von Matthew Walker, Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der University of California in Berkeley. Ihm zufolge könnten Schlafen und Träumen dazu dienen, emotionale Erinnerungen zu bearbeiten. Die Amygdala, also jene Hirnregion, die Emotionen speichert, werde quasi wieder auf null gesetzt, so dass die mit den Emotionen verknüpften Erinnerungen erhalten bleiben, nicht aber die Emotionen selbst. Das ist die derzeit vorherrschende Theorie. Demnach sind Träume eine Art Kopfkino, in dem wir schwierige Situationen noch einmal durchleben, verpackt in mehr oder weniger verrückte Szenarien. Zwei Eigenheiten des Träumens scheinen diese Rückblenden erträglicher zu machen: Erstens werden unangenehme Erfahrungen ohne die körperlichen Begleiterscheinungen der Emotionen durchlebt; so können Schlafende von Grausamkeiten träumen, ohne dass sich ihr Herzschlag dabei beschleunigt. Und zweitens wird Unangenehmes im Traum oft mit lustigen oder bizarren Elementen aufgelockert. Zum Beispiel wird jemand von seinem Chef getadelt, während plötzlich ein Kätzchen anfängt, dessen Ohr abzulecken. Das Wiedererleben lässt die negativen Gefühle nach und nach verblassen, in einem Zusammenspiel von drei Hirnregionen: der Amygdala, die während des REM-Schlafs sehr aktiv ist, dem Hippocampus, der die Informationen des Tages speichert, und dem Neokortex, dem Sitz des Langzeitgedächtnisses. So kann das Gehirn die neue Information befreit von ihrer emotionalen Hülle dauerhaft im Neokortex hinterlegen.

Also tut es uns gut, schlecht zu träumen?

Ja, aber mit einem Vorbehalt: Bei Albträumen funktioniert der Mechanismus offenbar nicht. Denn wenn der Traum oder sogar der Schlaf unterbrochen wird, wird die emotionale Verarbeitung nicht abgeschlossen. Das Aufwachen kann verschiedene Gründe haben: Vielleicht hat die Person einfach nur einen leichten Schlaf, oder aber der Albtraum ist zu aufwühlend. Zum Beispiel bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach Ereignissen wie Folter, Krieg oder Vergewaltigung: Die Emotionen sind dann so extrem, dass das Gehirn mit der Regulierung überfordert ist. Es spult die traumatische Erinnerung wieder und wieder ab, bis der Betroffene irgendwann aus dem Schlaf hochschreckt.

Welche Ursachen können häufige Albträume noch haben?

Lange Zeit führte man wiederkehrende Albträume allein auf unbearbeitete Traumata zurück. Doch in Wirklichkeit wissen wir nicht, ob das der Grund ist. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung leiden von Geburt an unter Albträumen, ohne dass es dafür bislang eine Erklärung gibt. Bevor jemand deshalb in Psychotherapie geht, würde ich unbedingt empfehlen, sich zunächst medizinisch untersuchen zu lassen. Zu Beginn meiner Forschung suchte mich einmal ein Journalist von der Tageszeitung »Le Monde« auf. Im Lauf des Gesprächs erzählte er, dass er seit zehn Jahren immer wieder denselben Albtraum habe: Er steckte seinen Kopf in einen Flaschenhals und erstickte. Sein Psychoanalytiker und er waren zu dem Schluss gekommen, dass er seine Geburt noch einmal durchlebe. Doch wie sich dann herausstellte, hatte das Gefühl des Erstickens eine ganz reale Ursache: Er litt unter Atemstillständen. Wir schlugen ihm vor, beim Schlafen eine Maske mit Beatmungsgerät zu tragen, und daraufhin verschwanden die Albträume.

»Etwa fünf Prozent der Bevölkerung leiden von Geburt an unter Albträumen, ohne dass es dafür bislang eine Erklärung gibt«

Was allerdings nicht bedeutet, dass die Psyche nicht auch eine Rolle spielen kann. Wir träumen eher schlecht, wenn wir von Stress geplagt werden, weil das Gehirn dann viele negative Emotionen verarbeiten muss und alle Bedrohungen gleichzeitig zu simulieren versucht – eine weitere mögliche Funktion des Träumens. Es gibt viele Arten von Albträumen mit unterschiedlichen Ursachen, die eine individuelle Diagnose erfordern. Wenn Kinder nachts schreiend aus dem Bett aufspringen, liegt das eher am Pavor nocturnus, dem »Nachtschreck«. Das ist eine mit dem Schlafwandeln verwandte Schlafstörung, aber kein Hinweis auf eine psychische Erkrankung. Auch der Halbwachzustand einer Schlaflähmung wird gern als Albtraum bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine sehr unangenehme Situation, begünstigt durch Schlafmangel, in der der Schlafende aufwacht, sich aber nicht bewegen kann, oft begleitet von dem Gefühl, sein Brustkorb werde zerquetscht oder ein böses Wesen ergreife von ihm Besitz. Etwas anderes ist die schon erwähnte REM-Schlaf-Verhaltensstörung, die vor allem Ältere trifft: Sie wälzen sich im Bett hin und her, um sich gegen Angreifer zu verteidigen. Wieder andere Albträume können durch Medikamente verursacht sein. Bestimmte Arten von Träumen sind auch ein Anzeichen für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson. All diese Sonderfälle gilt es vor einer gezielten Therapie gegen Albträume auszuschließen.

Es gibt demnach wirksame Therapien?

Die Imagery Rehearsal Therapy kann sehr wirksam sein. Ihr Grundprinzip besteht darin, bedrohliche Teile des Albtraums umzuschreiben und sich das neue Szenario vor dem Einschlafen im Geiste bildlich vorzustellen. Beispiel: Eine Patientin träumte jede Nacht, ein Teufel in einer roten Soutane wolle sie vergewaltigen – sie war im Alter von elf Jahren von einem Priester missbraucht worden. Ich schlug ihr vor, sich vorzustellen, wie dem Teufel etwas dazwischenkommt, beispielsweise dass er über seine Soutane stolpert. Sie entschied sich dafür, dass er von einem großen Kruzifix erschlagen wird. Indem sie diese neue Szene abends wiederholt vor ihrem inneren Auge abspielte, konnte sie ihren Albtraum in einen harmloseren Traum umschreiben und zur Ruhe kommen. Aber wie gesagt: Vor solchen Therapieversuchen würde ich empfehlen, einen Schlafspezialisten aufzusuchen, um organische Ursachen auszuschließen.

Welche Träume deuten auf neurodegenerative Erkrankungen hin?

Unruhige Träume, in denen die Betroffenen das Traumgeschehen ausagieren, wie es für eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung charakteristisch ist. Mehr als 80 Prozent der Betroffenen entwickeln dann innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre eine neurodegenerative Erkrankung, in den meisten Fällen Parkinson. Dass während des Träumens die Bewegungsblockade nicht funktioniert, spricht dafür, dass der Hirnstamm bereits geschädigt ist. Das Ausagieren ist ein sehr deutliches Warnsignal. Allerdings darf man es nicht mit dem Schlafwandeln verwechseln. Bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung sind die Betroffenen in der Regel über 50 Jahre alt, sie werden eher gegen Ende der Nacht unruhig, stehen aber nicht aus dem Bett auf. Schlafwandelnde sind meist jünger und wandern oft im Haus umher. Das ist kein Hinweis auf eine versteckte neurologische oder psychiatrische Erkrankung. Studien zeigen lediglich, dass die Betroffenen etwas ängstlicher sein könnten als der Durchschnitt.

Sind die Trauminhalte von Parkinsonpatienten ebenfalls charakteristisch?

Laut einer Studie in Lissabon aus dem Jahr 2011 sollen sie gewalttätiger ausfallen und häufiger mit Tieren zu tun haben. Diese Inhalte scheinen eine Schädigung des Frontallappens zu begleiten, was demnach eine mögliche Ursache für die Auffälligkeiten wäre.

Und was ist mit den Träumen von Menschen mit Alzheimer?

Das Problem ist, dass die sich sehr schlecht an ihre Träume erinnern. Da ihre Großhirnrinde außerdem schon früh geschädigt ist, lassen sich die für Träume charakteristischen EEG-Muster nicht so eindeutig ablesen. Dass zudem viele von ihnen früh aufwachen, macht die Sache nicht einfacher. Wir wissen nur, dass sie ihre Träume nicht so ausagieren, wie es bei einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung der Fall wäre. Weitere Erkenntnisse wären aber wichtig, um Alzheimer von der Lewy-Körper-Demenz zu unterscheiden, der weltweit dritthäufigsten Ursache von Demenz nach der Alzheimererkrankung und der vaskulären Demenz. Die Lewy-Körper-Demenz trifft bis zu fünf Prozent der Gesamtbevölkerung und 30 Prozent aller Personen mit Demenz. Die kognitiven Einbußen sind ähnlich wie bei Alzheimer, womit sie oft verwechselt wird. Doch anders als im Fall von Alzheimer wird die Lewy-Körper-Demenz in der Regel von einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung begleitet. Das ist wichtig, um zwischen ihnen zu unterscheiden, zum Beispiel für die Medikation: Bei Alzheimerpatienten kann man gelegentlich Neuroleptika geben, während das bei einer Lewy-Körper-Demenz womöglich toxisch ist. Träume können uns also wertvolle Informationen liefern. Leider werden sie bisher noch nicht ausreichend genutzt, weil sie lange ausschließlich als eine Domäne der Psychoanalyse galten. Aber man sieht Fortschritte: Immer mehr Ärzte interessieren sich für Träume, weil ihnen das bei der Diagnostik helfen kann.

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