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Neuromedizin: Leid statt Schmerz behandeln

Wie sehr chronische Schmerzpatienten leiden, hängt nur unwesentlich von der Intensität ihrer Beschwerden ab. Wissenschaftler wollen genauer zwischen Schmerz und Leid unterscheiden und Letzteres gezielt lindern.
Mann hält sich den Bauch und krümmt sich vor Schmerzen
Verschiedene Faktoren können Schmerzen unerträglich machen – oder umgekehrt lindern.

Rund jeder fünfte Deutsche hat chronische Schmerzen. Die Lebensqualität der Betroffenen ist häufig schlecht – manchmal vergleichbar mit der von Krebspatienten in Palliativpflege. Würde man diese Patienten fragen, was so schlimm an ihren Schmerzen ist, würden sie das vermutlich für einen bösen Scherz halten; doch einige Forscher meinen die Frage ernst. Ihre Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf das Phänomen Schmerz und sollen helfen, das damit verbundene Leid zu reduzieren.

Bereits seit den 1920er Jahren kennen Mediziner das Phänomen der Schmerzasymbolie. Davon Betroffene nehmen teilweise selbst Elektroschocks oder starke Hitze ungerührt hin. Statt aufzuschreien und den Arm wegzuziehen, lächeln sie oder unterhalten sich angeregt mit den Forschern im Schmerzlabor. Allerdings können sie schmerzhafte Stimuli durchaus von nicht schmerzhaften unterscheiden. Es scheint also, als würden sie zwar Schmerzen spüren, aber nicht darunter leiden. Neuroanatomisch stieß man bei fast all diesen Menschen auf Läsionen der Insula, eines Hirnareals, das tief eingefaltet hinter dem Schläfenlappen liegt.

Eine ähnliche Leidresistenz zeigte sich häufig bei Patienten, denen Ärzte in den 1950er oder 1960er Jahren wegen chronischer Schmerzen den zingulären Kortex durchtrennten – eine Hirnregion, die als potenzielle Schaltzentrale für Gefühle galt. Diese Zingulotomien brachten die Schmerzen zwar oft nicht zum Verschwinden, die Patienten schienen aber nicht mehr darunter zu leiden. Auch Ultramarathonläufer, Chili-Enthusiasten oder Menschen mit masochistischen Vorlieben erleben manche Schmerzen nicht als unangenehm.

Sascha Fink, Philosoph an der Universität Erlangen-Nürnberg, findet diesen Umstand bedeutsam: »Schmerz, an dem niemand leidet, erscheint moralisch nicht besonders relevant. Leiden hingegen ist immer relevant, weil es untrennbar mit negativem Erleben einhergeht.« Anders gesagt: Um Menschen zu helfen, gilt es in erster Linie, ihr Leid zu reduzieren.

Muster in der Hirnaktivität erlauben Vorhersagen darüber, ob jemand Angst oder Schmerz verspürt

Doch Leidmedizin ist im Gegensatz zur Schmerzmedizin keine etablierte Fachdisziplin. Der Neurowissenschaftler Tor Wager vom Dartmouth College in New Hampshire könnte das ändern. Sein Team erkundet die neuronalen Grundlagen mentaler Zustände und entdeckte eine Reihe »neuronale Signaturen«, also Muster in der Hirnaktivität, die mittels Computermodellen errechnet werden und Vorhersagen darüber erlauben, ob jemand gerade Angst, Schuldgefühle oder Schmerz verspürt. »Wir wollten wissen, ob es ein Muster gibt, das die subjektive Bewertung aller negativen Erfahrungen repräsentiert – eine Art Leidnetzwerk, das immer aktiviert wird, wenn uns etwas unangenehm ist.«

Hierzu wurden den Probanden vier unangenehme Stimuli verschiedener Intensität präsentiert: ein unangenehmes Geräusch, ein abstoßendes Bild, eine heiße Sonde auf der Haut und eine Art Daumenklemme. Die Probanden bewerteten jeweils, wie negativ sie den Reiz fanden. Zugleich wurde per funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) ihre Hirnaktivität aufgezeichnet.

Je stärker die Signatur, desto negativer der Reiz

Wagers Gruppe stieß in den Hirnscans auf ein Muster, das alle vier Stimuli gleichermaßen hervorriefen. Je stärker diese Signatur sich zeigte, desto negativer wurde der jeweilige Reiz bewertet. Löste etwas hingegen nur erhöhte Aufmerksamkeit aus, aber keine negativen Gefühle, blieb die Signatur aus.

»Wir waren überrascht, so etwas zu entdecken«, erzählt Wager. Sein Modell berücksichtigt Signale aus gut 50 Hirnregionen. Sechs davon sind statistisch am stärksten beteiligt, darunter der anteriore mittlere zinguläre Kortex (aMCC), die vordere Insula und der orbitofrontale Kortex (OFC) – Regionen, die bei Schmerzasymbolie oder Zingulotomien betroffen sind. Auf die Frage, wie sich eine selektive Aktivierung dieser Regionen anfühlen würde, meint Wager: »Vermutlich hat man das Gefühl, etwas stimmt nicht und man muss weg – eine Art Beunruhigung oder Angst.«

Die Signatur für gemeinsamen negativen Affekt erklärt allerdings nur rund 30 Prozent der Bewertung der Probanden. Wagers Forschungsgruppe erstellte daher zusätzlich für jede Art von Stimulus eine eigene Signatur. Erst als die Fachleute diese mit heranzogen, konnten sie 70 bis 80 Prozent der Bewertung korrekt prognostizieren.

Stimulusspezifische Signaturen zeigen sich vorwiegend in sensorischen Hirnregionen, die Informationen der Sinnesorgane erhalten: etwa dem visuellen Kortex für abstoßende Bilder oder dem auditorischen Kortex für unangenehme Geräusche. Offenbar wird negativer Affekt – für viele das Kernelement des Leidens (siehe »Was ist Leid?«) – durch zwei neuronale Systeme vermittelt: ein generelles und ein spezifisches, das jeder Modalität eigen ist – quasi ein »Geräusch-Leid«, ein »Bild-Leid«, ein »Hitze-Leid« und ein »Kneif-Leid«.

Ob sich die Resultate auf chronische Schmerzen übertragen lassen, ist allerdings offen. »Chronische Schmerzen kann man nicht ein- und ausschalten. Deshalb lassen sich die Signale nicht so leicht von anderen mentalen Prozessen unterscheiden«, so Wager.

Bis vor wenigen Jahren schien ein zuverlässiges Modell für chronische Schmerzen auf Beiträgen dreier Nervenbahnen zu beruhen, die anatomisch getrennt sind. Zwei davon – der laterale und der mediale Pfad – verlaufen von der Peripherie über das Rückenmark bis in verschiedene Regionen der Hirnrinde. Die dritte, »inhibitorischer Pfad« genannt, führt in die entgegengesetzte Richtung vom Gehirn ins Rückenmark.

Der laterale Pfad übermittelt demnach sensorische Aspekte des Schmerzes: wo im Körper er sich befindet, wie intensiv er ist und ob er von pochender, stechender oder dumpfer Qualität ist. Er führt hauptsächlich zum somatosensorischen Kortex. Der mediale Pfad hingegen ist für die affektiven und motivationalen Komponenten zuständig: Wie schlimm ist es und wie sehr will ich es vermeiden? Dieser »Leid-Pfad« mündet in den aMCC und die anteriore Insula – Regionen, die laut Wager für den gemeinsamen negativen Affekt eine große Rolle spielen.

Diese eindeutige Trennung von Leid und Schmerz käme Forschenden gelegen, doch das zunächst klare Bild hat sich in den letzten Jahren getrübt. »Heute weiß man, dass wir zu simpel dachten«, sagt Prasad Shirvalkar, Schmerzforscher an der University of California, San Francisco. »Bei manchen Probanden reduziert eine Stimulation des aMCC das Kribbeln im Arm – das ist ein sensorisches und kein affektives Signal. Außerdem gelangen schmerzrelevante Informationen noch über andere Wege ins Gehirn.«

Eine klare Trennung von Leid und Schmerz käme Forschenden gelegen, doch das Bild hat sich getrübt

Shirvalkars Team ist auf tiefe Hirnstimulation spezialisiert. Dabei werden Regionen mittels magnetischer oder elektrischer Felder aktiviert respektive deaktiviert. Bei Patienten mit äußerst hartnäckigen chronischen Schmerzen werden die Elektroden direkt ins Gehirn implantiert. Mit der neuesten Generation lassen sich die Hirnströme sowohl verändern als auch über längere Zeit aufzeichnen. Das bietet den Vorteil, dass man Schmerzen nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt hervorrufen muss, sondern auf sie warten kann. Die Patienten füllen mehrmals täglich Fragebögen aus, deren Auswertung mit den Signalen der Elektroden abgeglichen werden. Genau wie Wager sucht auch Shirvalkar mit Hilfe von Klassifikationsalgorithmen nach Hirnaktivitätsmustern, die mit der Schmerzbewertung zusammenhängen.

Im Jahr 2023 wurde seine Arbeitsgruppe fündig. Bei vier Patienten konnte sie erstmals die Intensität der chronischen Schmerzen mit Hilfe der Hirndaten vorhersagen. Allerdings musste man für jeden Patienten ein eigenes Klassifikationsmodell erstellen. »Wir wollten eine generelle Signatur finden, doch die individuellen Unterschiede zwischen den Gehirnen waren zu groß«, erklärt Shirvalkar.

Das Modell ist nicht ohne Weiteres mit dem von Wager zu vergleichen. Es kann keine kontinuierliche Entwicklung vorhersagen, sondern nur, ob sich die Person aktuell auf einem hohen oder niedrigen Schmerzniveau befindet. Außerdem konnte man nur dort messen, wo die Elektroden implantiert waren. Trotzdem zeigten die Forscher, dass vermutlich der OFC für die Vorhersage der Bewertung chronischer Schmerzen wichtiger ist als der aMCC. Fügte man den gleichen Patienten akut Schmerzen zu, war es umgekehrt: Diese waren mit Signalen des aMCC besser vorherzusagen.

Akute und chronische Schmerzen unterscheiden sich in vieler Hinsicht

Shirvalkars Resultate bestätigten, worauf auch andere Untersuchungen hindeuteten: Akute und chronische Schmerzen unterscheiden sich in vieler Hinsicht. Tor Wager sagt: »Ich wäre überrascht, wenn wir eine einzige neuronale Signatur für alle Formen von Schmerzen finden. Dafür sind Erkrankungen des Bewegungsapparats, Reizdarmsyndrom, Arthritis, Migräne zu heterogen.«

Shirvalkar ergänzt: »Neuronale Schmerzmuster sind komplex, aber viele Hirnregionen korrelieren in ihrer Aktivität. Meist genügen sechs oder sieben nicht überlappende Netzwerke, um chronische Schmerzen zu erkennen.« Seine derzeit noch unveröffentlichten Experimente geben einen Vorgeschmack darauf, was die personalisierte Medizin in Zukunft leisten könnte.

Jedem seiner schwer betroffenen Probanden ließ Shirvalkar zehn bis zwölf Arrays mit jeweils 16 Elektroden implantieren. Während zehn Tagen füllten die Probanden Schmerzfragebögen aus und die Elektroden zeichneten ununterbrochen ihre Hirnströme auf. Mit den Daten stellten Computer Klassifikationsmodelle auf – eines für jede Person. Damit lässt sich laut Shirvalkar die Schmerzbewertung der Probanden präzise vorhersagen. Langfristiges Ziel sei die Entwicklung eines geschlossenen Regelkreises: Übersteigt die errechnete Schmerzbewertung einen Grenzwert, wechseln die Elektroden vom Mess- in den Stimulationsmodus und verändern die Aktivität von Hirnregionen, um den Schmerz oder das Leid wieder zu senken – ohne Zutun der Patienten.

Neue Ansätze für die Schmerzbehandlung werden dringend benötigt. Viele Methoden – ob manuelle Therapie, chirurgische Eingriffe oder medikamentöse Behandlung – haben eine vergleichsweise geringe Wirksamkeit. Selbst die stärksten Schmerzmedikamente, die Opioide, verlieren mit fortschreitender Behandlungsdauer an Effektivität. Sie rufen zudem Nebenwirkungen hervor und können abhängig machen.

Psychotherapie verfolgt vermehrt Ansätze, die nicht primär den Schmerz reduzieren, sondern das Leid

Fragt man Menschen mit chronischen Schmerzen, worunter sie am meisten leiden, ist die hohe Schmerzintensität oft nur eine von vielen Antworten. In einer Studie von Forschenden um Dennis Turk von 2008 gaben fast 1000 Probanden Auskunft darüber, welche Aspekte ihres Lebens eine Schmerztherapie verbessern sollte, damit sie sie wirksam fanden. Von 19 Faktoren waren den Probanden diese am wichtigsten: »das Leben genießen können« und »weniger müde sein«, knapp gefolgt von »emotionales Wohlbefinden« und »körperliche Aktivitäten«.

Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg, erklärt: »Für viele charakterisiert nicht die Schmerzintensität allein das Leiden, sondern noch andere Variablen.« Entsprechend verfolgt auch die Psychotherapie vermehrt Ansätze, die nicht primär den Schmerz reduzieren sollen, sondern das Leid. »Wir fragen zum Beispiel, was einmal auf dem eigenen Grabstein stehen soll: ›Er hat ein Leben lang gegen den Schmerz gekämpft‹ oder ›Er war seinen Enkelkindern ein toller Opa‹. Auf diese Weise lässt sich der subjektive Stellenwert des Schmerzes häufig senken.«

Konzepte aus der Angstbewältigung kommen ebenfalls zum Einsatz. Phobiker konfrontiert man schrittweise mit dem Objekt ihrer Angst, etwa einer Spinne oder einer hohen Brücke. Diese Exposition wirkt auch bei Schmerzen. »Vielen Patienten mit chronischen Schmerzen wird immer noch empfohlen, was eigentlich schädigend ist: Schonen, ja keine falsche Bewegung! Dies kann zur Chronifizierung beitragen«, so Rief weiter. Stattdessen sollen sich die Patienten bewegen, selbst wenn dabei (milde) Schmerzen auftreten. »In der Praxis tasten wir uns aktiv an den Schmerz heran. Was geschieht, wenn ich eine leere Getränkekiste hebe? Was, wenn sie ein paar Flaschen enthält? Die Patienten realisieren häufig, dass sie mehr können als gedacht, und finden so aus dem Angstkreislauf der Schmerzen heraus.« Die Schmerzen sind noch da, verlieren aber allmählich ihren Schrecken.

Mit der Behandlung auf das subjektive Leid abzuzielen, ist auch deshalb sinnvoll, weil es Schmerzen verursachen kann. Geläufiger ist uns die umgekehrte Kausalität: Chronische Schmerzen lösen Leid aus – etwa in Form von Ängsten oder Depressionen. Dass Ängste und Depressionen ihrerseits zu chronischen Schmerzen führen können, ist dagegen weniger bekannt. »Depressive haben eine andere Schmerzwahrnehmung. Sie halten Schmerz weniger gut aus und machen pessimistischere Prognosen. Die für Schmerz und für Depression zuständigen Netzwerke im Gehirn überlappen; manche Antidepressiva wirken daher auch gegen Schmerzen«, so Rief.

Die »Pain Reprocessing Therapy« (zu Deutsch etwa Schmerz-Neubewertungstherapie) macht sich das zu Nutze. Sie kombiniert Elemente der Expositionstherapie mit anderen verhaltenstherapeutischen Methoden. Ein zentrales Merkmal ist, dass man den Patienten (auch mittels bildgebender Daten) zu Beginn erklärt, dass ihr Schmerz nicht auf körperliche Schäden zurückgeht, sondern darauf, dass das Gehirn Botschaften des Körpers fälschlicherweise als gefährlich interpretiert.

In einer von Yoni Ashar und Tor Wager geleiteten Untersuchung waren zwei Drittel der Patienten nach einer achtwöchigen Behandlung praktisch schmerzfrei. »Die Patienten lernten, nicht mehr so stark unter den bestehenden Schmerzen zu leiden. Und wenn das Leid abnimmt, schwinden auch die Schmerzen.« Im fMRT-Scan waren es wiederum der aMCC und die anteriore Insula, deren Aktivität zurückging. »Die Areale scheinen Schmerz mit dem Gefühl des Leids und der Dringlichkeit zu verbinden«, so Wager.

Was ist Leid?

Der US-amerikanische Arzt Eric Cassell regte in den 1980er Jahren an, dass die Medizin nicht in erster Linie Krankheiten, sondern Leid behandeln sollte. Er beschrieb Leid als »Zustand schwerer Not im Zuge von Ereignissen, die die Unversehrtheit der Person bedrohen«. Diese Definition wird noch heute oft in der Medizin verwendet, doch sie wurde als zirkulär kritisiert, weil die Formulierung »schwere Not« kaum anders als mit »Leid« zu umschreiben ist.

Wissenschaftler schlugen deshalb Alternativen vor, darunter »negatives Befinden«, »beeinträchtigte Handlungsfähigkeit« oder »Drang, die Situation zu ändern«. In einem 2020 erschienenen Sammelband schreiben die Philosophen Jennifer Corns, Michael Brady und David Bain, dass der negative Affekt, also das unangenehme Erleben, vermutlich das fundamentalste Element der Leiderfahrung darstellt.

Wird ein negativer Affekt als einziges Kriterium für Leid herangezogen, lässt sich einwenden, dass der Patientenwunsch unberücksichtigt bleibt. Bittet etwa eine Person darum, die Dosierung eines narkotisierenden Schmerzmedikaments zu senken, um mental präsent zu sein, steigt der negative Affekt zwar, weil die Schmerzen zunehmen. Trotzdem erscheint es paradox zu behaupten, ihr Leid nehme zu, wenn sie sich selbst für die stärkeren Schmerzen und gegen die geistige Umnachtung entscheidet.

Brady schlug einen Ansatz vor, der diesen Einwand umgehen kann. Demnach beinhaltet Leid zwei Elemente: den negativen Affekt und den Wunsch nach Vermeidung. Der Wunsch, den negativen Affekt zu vermeiden, ist bei besagtem Patienten offensichtlich nicht so stark wie der Wunsch, mental anwesend zu sein. Bradys Theorie kann somit erklären, warum der Patient mehr Leid erfährt, wenn man die Medikamentendosis hoch belässt: weil das den stärkeren Wunsch nach geistiger Präsenz durchkreuzt.

Bain, D., Brady, M., Corns, J. (Hg.): Philosophy of suffering. Metaphysics, value, and normativity. Routledge, 2020

Die Philosophin und klinische Forscherin Smadar Bustan plädiert dafür, schmerzbezogenes Leid als unabhängige Messgröße einzuführen. Schmerz wird üblicherweise in zwei Dimensionen erfasst: Intensität und »unpleasantness« (zu Deutsch etwa Unannehmlichkeit). Laut Bustan decken diese Begriffe aber nicht alle relevanten Erfahrungen ab: »Das Empfinden, etwas Unerträgliches zu durchleben, die Überwältigung und die Verzweiflung, die manche Schmerzerfahrungen begleiten, können nicht einfach als intensiv oder unangenehm bezeichnet werden. Sie gehören einer dritten Kategorie an: der des Leids.« Daher, so Bustan, gäben Patienten bisweilen Schmerzintensitäten an, die über die vorgegebene Skala hinausgehen: zum Beispiel zwölf, obwohl die Skala nur bis zehn reicht.

Kontrolle lindert Schmerzen

Bustan und ihre Kollegen führten eine Reihe von Untersuchungen zu Schmerz und damit verbundenem Leid durch. In einer von Martin Löffler geleiteten Studie konnten Probanden einen Schmerzstimulus unterbrechen, sobald sie ihn als unerträglich empfanden. Entschied ein Computerprogramm und nicht die Probanden selbst über den Zeitpunkt des Abbruchs, war das erlebte Leid viel größer, selbst wenn der Computer den gleichen Zeitpunkt wählte.

Die Möglichkeit, Schmerz zu kontrollieren, kann also das Leid verändern, ohne notwendigerweise die Intensität oder dessen unangenehme Qualität zu beeinflussen. Obwohl die Studie klein ist und weiterer Bestätigung bedarf, könnte sie einen Erklärungsansatz für das scheinbar paradoxe Verhalten von Ultramarathonläufern oder Masochisten liefern: Bei ihnen sind die Schmerzen (und deren Dauer) selbst gewählt. Dazu passt, dass Schmerzstimuli die Insula und umliegende Hirnareale bei Masochisten weniger stark aktivieren, wenn der Stimulus gleichzeitig mit einem Bild aus einem masochistischen Kontext gezeigt wird.

All diese Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen zeigen, dass Leid infolge chronischer Schmerzen im Kopf stattfindet und dort behandelt werden kann. Die Zerstörung von Hirngewebe wie bei der Zingulotomie ist glücklicherweise nur selten nötig. Medizinern stehen immer präzisere Werkzeuge zur Hirnstimulation oder Therapie zur Verfügung. Das ist Grund zur Hoffnung für Menschen, die nicht nur Schmerzen haben, sondern auch darunter leiden.

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  • Quellen

Ashar, Y. K. et al.: Effect of pain reprocessing therapy vs placebo and usual care for patients with chronic back pain: A randomized Clinical trial. JAMA Psychiatry 79, 2022

Čeko, M. et al.: Common and stimulus-type-specific brain representations of negative affect. Nature Neuroscience 25, 2022

Lamé, I. E. et al.: Quality of life in chronic pain is more associated with beliefs about pain, than with pain intensity. European Journal of Pain 9, 2005

Lerman, S. F. et al.: Longitudinal associations between depression, anxiety, pain, and pain-related disability in chronic pain patients. Biopsychosocial Science and Medicine 77, 2015

Löffler, M. et al.: Impact of controllability on pain and suffering. Pain Reports 3, 2018

Shirvalkar, P. et al.: First-in-human prediction of chronic pain state using intracranial neural biomarkers. Nature Neuroscience 26, 2023

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