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Leben in Armut: Was vernünftig ist, ist relativ

Warum in Armut lebende Menschen nicht so kurzsichtig handeln, wie es aus Sicht der Wohlhabenden erscheint.
Eine Schnapsflasche in den Händen eines alten Mannes

Wenn sich die Forschung der Armut annimmt, dann meist mit Blick auf damit verbundene Defizite. Ein niederländisch-britisches Forscherduo fordert, das Verhalten von in Armut lebenden Menschen umzubewerten: als Versuch, aus ihren Möglichkeiten das Beste zu machen. Was für diese Sichtweise spricht, stellen Willem Frankenhuis und Daniel Nettle in einem Übersichtsartikel in »Current Directions of Psychological Science« dar.

Arm zu sein bedeutet der Weltbank zufolge, grundlegende eigene Bedürfnisse nicht befriedigen zu können, wenig Kontrolle über die Umwelt zu haben sowie ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Der daraus resultierende Stress fordere seinen Tribut in Form von Krankheiten und vorzeitigen Todesfällen, erläutern der Psychologe Frankenhuis und der Verhaltensforscher Nettle. Deshalb würden sich Ärmere zu Recht stärker auf die Gegenwart als auf die ferne Zukunft konzentrieren. Beispielsweise sparen sie weniger und investieren auch weniger in ihre Bildung und Gesundheit, wie die Autoren in eigenen Studien zeigten.

Menschen ziehen kurzfristige Vorteile vor allem dann den langfristigen vor, wenn sie an letztere nicht glauben. Ob das klug sei oder nicht, komme darauf an, wie die Zukunftsaussichten aussehen: Scheinbar kurzsichtige Entscheidungen könnten sich auszahlen, so das Ergebnis von Computersimulationen. »Wenn die Not groß ist und die Zukunft unsicher, kann es vorteilhaft sein, Geld gleich auszugeben«, schreiben Frankenhuis und Nettle.

So erklären die Autoren auch, warum Frauen in Armut früher Kinder bekommen. Nicht fehlende Informationen oder mangelnde Vorausplanung seien schuld; vielmehr schätzten die Frauen ihre Aussichten unter den gegebenen Umständen richtig ein. Wer in Armut lebe, habe schlicht weniger Zeit, vor der Familiengründung in die eigene Bildung und Zukunft zu investieren. Krankheiten drohen schon im mittleren Erwachsenenalter, wenn die Kinder noch nicht auf eigenen Füßen stünden. Und jüngere Großeltern könnten womöglich noch helfen, während sie später selbst Hilfe bräuchten.

Laut Berechnungen einer britischen Studie ist es deshalb für Frauen aus bescheidenen Verhältnissen sinnvoll, ihre Kinder zirka acht Jahre früher zu bekommen als Frauen aus reichem Hause. Frankenhuis und Nettle schließen daraus, die Armutsforschung habe bislang durch die Brille der Privilegierten geblickt und solle die Definitionen von »normalem« und »funktionalem« Verhalten überdenken.

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