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Wasserkraft: Neue Chance für alte Dämme

Hunderttausende alte Dämme könnten mit Wasserkraftanlagen ausgestattet werden und umweltfreundlichen Strom produzieren, ohne weitere Natur zu zerstören. Doch es gibt einen Haken.
Überlauf eines kleinen Staudamms.
Kleine Staudämme produzieren oft keinen Strom, sondern haben andere Funktionen. Kann man sie aufrüsten, um Energie zu erzeugen?

Weltweit bewässern Staubecken Felder, speichern Trinkwasser, verhindern Hochwasser oder erhalten Strände in küstenfernen Erholungsgebieten. Diese Reservoirs könnten zusätzlich zur Stromgewinnung genutzt werden, schlagen Forschende in der Zeitschrift »Environmental Research Letters« vor. Man müsste sie lediglich mit Turbinen und Generatoren ausstatten sowie bestehenden Wasserkraftwerken ein entsprechendes Update zur Verfügung stellen, schreiben Kayla Garrett und Ryan McManamay von der Baylor-University in Waco im US-Bundesstaat Texas gemeinsam mit Jida Wang von der Kansas State University in Manhattan. Das klingt einfach. Ist das ein Königsweg zu mehr nachhaltiger Energie ohne weitere Umweltzerstörung? Oder wurde in der Kalkulation etwas übersehen?

Der Bedarf für eine Lösung der Energieproblematik ist riesig, nicht nur, weil die Weltbevölkerung wächst – die Vereinten Nationen rechnen für die 2050er Jahre mit zehn Milliarden Menschen auf dem Globus –, sondern auch, weil der Strombedarf unabhängig davon steigt: Unter anderem haben viele Regionen in Afrika, Asien und Südamerika noch immer einen erheblichen Nachholbedarf in puncto Elektrifizierung. Zudem treiben Elektromotoren auf der ganzen Welt mehr Fahrzeuge an, und die Industrie soll ihren Energiebedarf ebenfalls zunehmend mit Strom oder mit elektrisch produzierten Energieträgern wie Wasserstoff decken. 2019 wurden noch 63 Prozent des weltweit produzierten Stroms durch Verbrennen von Kohle, Gas und Öl hergestellt. Auch diese gewaltigen Mengen müssen in absehbarer Zukunft durch nachhaltige Quellen ersetzt werden.

Große Hoffnung liegt hierbei auf der Wasserkraft, die bereits 2019 rund 17 Prozent des global produzierten Stroms erzeugte. Weltweit produzierten Wasserkraftwerke 2020 ähnlich viel Elektrizität wie Atom- und Windkraftwerke zusammen. Diesen Anteil wollen die Betreiber deutlich vergrößern. Bereits 2014 waren 3700 neue Wasserkraftwerke geplant oder im Bau. Zusammen werden sie die Kapazität der Stromerzeugung aus Wasserkraft um 73 Prozent erhöhen. Die allermeisten solcher Projekte laufen in Ländern, die auf der Rangliste der Volkswirtschaften eher mittlere und niedrigere Plätze halten, aber gerne weiter nach oben wollen. In Mitteleuropa dagegen gibt es bereits so viele Staudämme, dass für neue Wehre praktisch kein Platz mehr ist. Die Gewässer Österreichs werden zum Beispiel im Durchschnitt alle 900 Meter von einem Damm am Weiterfließen gehindert.

Gar nicht so klimafreundlich

Allerdings gibt es auch einige sehr umstrittene Projekte. In Brasilien staut das Belo-Monte-Kraftwerk – das derzeit viertgrößte Wasserkraftwerk der Welt – im Amazonasgebiet vor einer rund 100 Kilometer langen Schleife des Xingu-Flusses das Wasser mit einem Damm auf. Einen Teil davon leitet es durch zwei Kanäle über eine Abkürzung unterhalb der Schleife wieder in den Fluss zurück. Davor staut ein weiterer Damm die Kanäle und schickt deren Wasser durch 18 Turbinen, die zusammen mit 11,2 Gigawatt die Leistung von acht bis neun großen Kernkraftwerken in Deutschland haben. Da die Wasserstände des Xingu im Laufe des Jahres schwanken, liefern die Generatoren natürlich nur einen Teil der Leistung. Trotzdem ist der Beitrag dieser 2016 gefluteten Stauseen zur Energieversorgung Brasiliens erheblich.

Aber auch ihr Beitrag zur Umweltzerstörung im Amazonasgebiet ist nicht zu übersehen: So bedecken die entstandenen Seen mit 516 Quadratkilometern eine Fläche von der Größe des Bodensees. 122 Quadratkilometer Regenwald und 175 Quadratkilometer Weiden und anderes Agrarland sind dort in den Fluten versunken. Ständig sinken abgestorbene Pflanzenteile auf den Grund des Gewässers. Die Verwertung dieser Reste übernehmen Mikroorganismen im Boden, die dabei das Klimagas Methan freisetzen. Die Klimabilanz solcher Wasserkraftwerke ist schlechter, als es auf den ersten Blick wirkt.

Obendrein fehlt das über die Kanäle und durch die Turbinen fließende Wasser den ungezählten Wasserfällen und Stromschnellen der 100 Kilometer langen Schleife des Xingu, die mit ihren Tausenden von Inseln als eine der größten Naturschönheiten des Amazonasbeckens galt. »Vor dem Bau der Staudämme verbuddelten 30 000 Schildkröten ihre Eier in den Sand der Inseln dieser Schleife des Xingu-Flusses«, erklärt der Geschäftsführer der Fluss-Schutzorganisation Riverwatch in Wien, Ulrich Eichelmann. Heute hält der oberhalb gelegene Staudamm den Sand zurück, und die Insellandschaft verändert sich ständig. Mit der Zeit könnten die Schildkröten also weniger Sandbänke für ihre Nachkommen finden, weil das Wasser weiterfließt und dabei den Sand an ihren Brutplätzen wegschwemmt. Auch von den vielen Fischarten, von denen etliche nur in der Flussschleife des Xingu lebten, könnten einige verschwinden.

Oft übersehene Nebenwirkungen

Zudem wurden 20 000 Menschen umgesiedelt, die einst in den heute überschwemmten Gebieten lebten und die damit Heimat und Lebensunterhalt verloren haben. Ähnliches passiert bei vielen anderen Wasserkraftwerken auf der Welt: Menschen verlieren ihr Zuhause, Arten werden vertrieben oder sterben ganz aus, einst fließende Gewässer werden zu öden Stauseen und eine ständig von Flüssen veränderte Landschaft erstarrt und verliert wichtige Lebensräume wie ihre Sandbänke.

Deshalb wächst der Widerstand nicht nur gegen solche Mammutprojekte, sondern auch gegen kleine Vorhaben. Riverwatch und viele weitere Naturschutz- und Menschenrechtsorganisationen kämpfen gegen den Bau neuer Staudämme auf dem Balkan, in Südamerika, in Asien und in anderen Weltregionen. Gleichzeitig benötigen die Stromversorger dringend Speicheranlagen wie Staudämme, die das schwankende Angebot von Windkraftanlagen und Solarenergie relativ rasch und zuverlässig ausgleichen können.

Längst aufgestaute Gewässer, die entweder noch gar keine Elektrizität liefern oder deren Stromproduktion verbessert werden kann, könnten hier eine Lösung sein. Dazu zählen etwa alte Wasserkraftwerke, die mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts aufgerüstet werden können, um so mehr Strom als bisher zu liefern. Aber auch Stauseen, die Trinkwasser speichern, für das Bewässern von Feldern eingesetzt werden, als Fischteiche dienen, Seglern eine Fläche für ihr Hobby liefern oder bei starken Regenfällen die Fluten speichern, könnten zusätzlich zu diesen Funktionen noch Strom erzeugen.

Alte Dämme, neues Potenzial

Fragt sich nur, ob sich solche Maßnahmen rentieren und wie viel Strom sie liefern können. Um solche Fragen zu beantworten, durchforsteten Ryan McManamay und sein Team bereits vorhandene Datenbanken und fanden 28 746 Dämme auf dem Globus, von denen knapp 72 Prozent nicht zur Stromproduktion verwendet werden. 31 Prozent dieser 20 574 Dämme dienen zur Bewässerung von Feldern, 17 Prozent sind Trinkwasserspeicher, 14 Prozent regulieren den Wasserstand und schützen vor Hochwasser, acht Prozent sind für Erholung und Freizeit vorgesehen, ein Prozent erhöht den Wasserstand und verbessert so die Schiffbarkeit von Gewässern und weniger als ein Prozent dient der Fischzucht. Bei 29 Prozent ist der Verwendungszweck nicht bekannt.

Würde man diese längst vorhandenen Dämme, Stauseen und -becken zusätzlich mit Turbinen ausstatten und ältere Wasserkraftwerke mit neuer Technik upgraden, kämen nach Berechnungen der Forscher weltweit 78 Gigawatt Leistung dazu. Die bereits vorhandene Leistung der Wasserkraft könnte also um sieben bis neun Prozent vergrößert werden, ohne dabei Natur zu zerstören, Arten zu gefährden oder Menschen zu vertreiben. Weltweit könnte man so den Neubau von sieben Wasserkraftwerken von der Dimension des Belo-Monte-Kraftwerks und die damit verbundenen Schäden an der Natur und die Vertreibung von Menschen vermeiden. Allein im Mekong-Becken Südostasiens könnten mit solchen Upgrades und zusätzlicher Stromgewinnung alle bereits geplanten Wasserkraftwerke entfallen.

»Die Idee, bestehende Wasserkraftwerke besser zu nutzen, klingt in der Theorie besser, als sie in der Praxis ist«
Ulrich Eichelmann, Aktivist und Gründer von Riverwatch

Flussschützer Ulrich Eichelmann, Gründer von Riverwatch, ist nicht überzeugt: In Deutschland seien beinahe 90 Prozent aller bestehenden Wasserkraftanlagen Kleinwasserkraftwerke, die zusammen gerade einmal 10 bis 15 Prozent des Stroms aus Wasserkraft liefern. Ein Upgrade dieser 7300 kleinen Wasserkraftwerke wäre ein Riesenaufwand und würde nur minimale Mengen zusätzlichen Stroms bringen.

Die allermeisten der bisher nicht für die Stromgewinnung genutzten Anlagen würden sich ebenfalls nicht rentieren, so die Sorge des Aktivisten, weil sie wie zum Beispiel alte Mühlwehre das Wasser nur wenig aufstauen und daher auch kaum elektrischen Strom liefern können. Außerdem verpflichtet die Wasserrahmen-Richtlinie der Europäischen Union die Mitgliedsländer dazu, bis 2027 ihre Gewässer in guten Zustand zu bekommen. Die EU-Kommission will zudem bis 2030 rund 25 000 Flusskilometer renaturieren und das vor allem durch den Rückbau bestehender Stauanlagen erreichen. »Der Upgrade bestehender Querbauwerke würde dieses Ziel konterkarieren«, erklärt Ulrich Eichelmann.

»Auch die Idee, bestehende größere Wasserkraftwerke besser zu nutzen, klingt in der Theorie besser, als sie es in der Praxis ist«, sagt der Chef von Riverwatch. »Vor allem bei kleineren Anlagen wird dabei nämlich häufig auch der Staudamm erhöht, weil sonst kaum zusätzlicher Strom gewonnen werden kann.« So soll das rund 100 Jahre alte Kraftwerk Rosenburg am Kamp in Niederösterreich renoviert und an Stelle der alten eine zwei Meter höhere neue Staumauer gebaut werden. Ähnliches ist ebenfalls in Niederösterreich am Kraftwerk Ferschnitz an der Ybbs geplant.

Die höhere Staumauer sorgt dafür, dass mehr Wasser gestaut wird – was im Gegenzug dazu führt, dass der Stausee vergrößert und das Wasser im Fluss verringert wird. »Am Kamp in Niederösterreich würden durch die Erhöhung der Staumauer die letzten intakten Weichholzauen vernichtet und typische Flussfische würden ein weiteres Stück Lebensraum verlieren«, erklärt Ulrich Eichelmann. Statt mehr gibt es also weniger Natur.

Aber auch auf anderen Kontinenten lässt sich die Idee nicht so einfach umsetzen, warnt der Aktivist. Schließlich werden die Seen unter anderem für die Bewässerung von Feldern oder als Trinkwasserreservoir aufgestaut. Verwendet man dieses Wasser zur Stromgewinnung, fehlt es auf den Feldern oder in den Wasserleitungen. »Es kommt also zu Interessenkonflikten zwischen der Energiewirtschaft und den Bauern oder Trinkwassernutzern«, vermutet Ulrich Eichelmann. »Stattdessen wäre es besser, Solar- und Windenergie sowie Erdwärme zu nutzen.« Und da Elektrizität aus Geothermie gleichmäßig fließt, können damit auch die Schwankungen der Windkraft- und Solaranlagen ausgeglichen werden.

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