Talsperren: Das Sterben der Stauseen
Stauseen sind die Schweizer Taschenmesser der Technikgeschichte: Als gigantische Multifunktionstools sollen sie das Leben der Menschheit leichter, sicherer und nachhaltiger machen. Stauseen schützen vor Fluten und helfen über Dürren hinweg. Sie sind Quelle klaren Trinkwassers und sichern den Bedarf von Landwirtschaft und Industrie. Die Reservoire sind Fischgründe, und sie werden nach einiger Zeit des Einpendelns im Ökosystem vielleicht einmal sogar Naturreservate oder Naherholungsgebiete; Orte, an denen Ruderer die Boote und Windsurfer die Bretter auspacken können. Außerdem produzieren sie elektrische Energie: Riesige Turbinen wirbeln tief im Bauch der Dämme, um den Strom des Wassers in Strom für die Zivilisation zu verwandeln.
Den Stauwehren geht es schlecht
Doch viele Stauseen sind in einem desolaten Zustand: Sie drohen vollzulaufen, nur eben nicht mit Wasser. Das liegt daran, dass die Flüsse unserer Erde nicht nur Wasser-, sondern auch Materialströme sind. »Ein Reservoir ist eine Unterbrechung eines Flusses. Doch was wir für ein statisches Flussbett halten, ist eigentlich eine geologische Transportzone – ganz ähnlich einem Fließband, das Sediment von den Gebirgen zu den Ozeanen transportiert«, sagt Mathias Kondolf, Professor für Umweltplanung an der US-amerikanischen University of California in Berkeley und einer der großen Namen in der Stauseeforschung.
Geröll, Sand, Schlick, Silt, Steine vom mikroskopisch kleinen Korn bis hin zum hausgroßen Felsbrocken: Sie alle wandern über die Wasseradern von den Gebirgen zu den Ozeanen und fallen unter die Kategorie »Sedimente«, sobald sie sich neben oder in den Flussbetten ablagern. Wenn der Strom mit einem Damm gekappt wird, »akkumulieren wir oberhalb das Sediment; und unterhalb schaffen wir ein Sedimentdefizit«, sagt Kondolf. Ein Unterlauf, der eben noch andauernd mit Erdreich und Sand versorgt wurde, wird plötzlich vom beständigen Steinchennachschub abgetrennt.
Ein Schnitt durch das fluviale Transportband
Das hat dramatische Auswirkungen auf die Küsten der Welt, und zwar überall. Egal ob Mexiko, Brasilien, die USA, Griechenland oder Japan: Stauseen bringen die Balance aus Sedimentzufuhr und Küstenerosion ins Ungleichgewicht, Flora und Fauna durcheinander und manchen Siedlungen gar wortwörtlich den Untergang. Das geschieht etwa, wenn sich das Meer jene Streifen von Land nimmt, die nicht mehr mit Sediment versorgt werden. Das Problem verschärft sich, weil der Meeresspiegel durch den Klimawandel steigt.
Aber was die Küsten nicht erreicht, muss irgendwo hängen geblieben sein – und oft ist dies ein Reservoir. Die Wissenschaft beschreibt mit »trap efficiency« den Grad, mit dem ein Stausee die Sedimente aus dem Flusssystem filtert. »Riesige Stauseen wie das Shasta-Reservoir in Kalifornien können 99 Prozent des einströmenden Sediments abfangen«, sagt Kondolf. Wenn man diesen dynamischen Aspekt verstehe, werde klar, dass der weit verbreitete Glaube falsch sei, Reservoire und ihr Stauvolumen würden ewig halten. Kondolf forscht seit Jahren in diesem Bereich und macht sich wenig Illusionen: Änderungen im Verhalten der verantwortlichen Personen seien kaum zu beobachten. »Wir verstehen das Problem insgesamt schon ziemlich gut. Das Wissen wird beim Dammdesign nur zu oft links liegen gelassen. Features, die Sediment am Damm vorbeiführen, werden nicht inkludiert.«
Man kann gar nicht so schnell bauen, wie die Seen versanden
Ein Blick auf die Karten des Forscherkollegen Günther Grill von der kanadischen McGill University zeigt, dass so gut wie jeder große Fluss der Welt massiv vom Sedimentstopp betroffen ist. Dabei haben Sedimente im Stausee ähnliche Folgen wie Eis im selten abgetauten Tiefkühlfach: Das Volumen sinkt, es passt weniger rein. Was beim Eisfach weniger ernste Konsequenzen hat, ist bei Reservoiren kritisch; ihr Stauvolumen soll im Ernstfall ja auch Fluten oder Dürren abpuffern können.
Das Ausmaß des Problems hat der Wasserentwicklungsbericht der UN 2021 in erschreckenden Zahlen umrissen: Seit dem Jahr 2000 wächst das globale Stauvolumen effektiv nicht mehr; und das, obwohl derzeit in allen Ecken dieser Welt mehr als 3500 Stauwehre von mehr als einem Megawatt geplant und errichtet werden. Das sind so viele Neudämme wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Schon in den bestehenden Reservoiren sammelt sich aber zu viel Material, und dagegen lässt sich nicht mehr anbauen. Während die Stauseen der Welt mit Sediment zulaufen, wächst die globale Bevölkerung. Es steht uns daher so wenig Stauvolumen pro Kopf zu Verfügung wie zuletzt in den 1970er Jahren.
Eine falsche Verlässlichkeit
Die naturgegebenen Schwierigkeiten ließen sich mit einem guten Management und sinnvoller Projektplanung zumindest begrenzen, doch hier hapert es oft. Die Sedimentation geht unsichtbar vonstatten, auf den Grund des Stausees kann man nicht blicken, und die meisten Betreiber schenken sich eine bathymetrische Messung, so der Fachterminus – mangels Equipment, Personal, Kapital oder der Einsicht in die Notwendigkeit. Wozu das führt, sieht man am Stausee El Mansour Eddahbi in Marokko.
Der liegt südostlich des Atlas, nahe der Stadt Ouarzazate, dort, wo die Wüste beginnt und die Flüsse zu ephemeren Strömen vertrocknen. Der El Mansour Eddahbi wurde in den 1970er Jahren errichtet, stellt die größte Süßwasserquelle der Region dar und sorgte seinerzeit für einen Boom in der regionalen Landwirtschaft. Nur bedachte niemand den stetigen Sedimentzustrom. Heute ist fast die Hälfte des Volumens versandet.
Geblieben ist der Wasserbedarf der seit Jahrzehnten gewachsenen Landwirtschaft: Sie verlässt sich auf ein Süßwasserreservoir, das unter der Oberfläche deutlich geschrumpft ist. Und deswegen gibt es im friedlichen Ouarzazate bereits jetzt Verteilungskonflikte und -debatten.
Das Totvolumen wird es schon richten?
Nicht gemanagte Stauseen sind fatal. Aber selbst wenn Ingenieure und Staudammkonstrukteure die Sedimentation berücksichtigen: »In der Regel gehen sie davon aus, dass Sedimente sich in den tiefsten Teilen des Stausees, im so genannten Totvolumen, für die ersten 100 Jahre absetzen werden«, sagt Kondolf. Er spricht aus Erfahrung, nachdem er bereits einige Großprojekte begleitet und untersucht hat. Dazu zählt auch die Lancang-Mekong-Staukette, wo die Sichtweise vom hinreichenden Totvolumen im großen Stil zum Problem werden könnte: Seit 1994 sind über 50 Dämme von mehr als 15 Megawatt im Mekong und seinen Nebenflüssen emporgewachsen. »Und für besonders große Dämme zieht man dort Sedimentation nicht einmal in Betracht.«
Das Totvolumen – ein magisches Wort im traditionellen Management gegen Sedimente. Gemeint ist damit jener Teil des Wassers unterhalb des Dammauslasses, der technisch ohnehin nicht genutzt werden kann. Er wird als Puffer gegenüber der beständigen Sedimentation gesehen, der verhindert, dass das eigentliche Nutzvolumen sich reduziert.
Nur gibt es da zwei Haken: Zum einen hält sich die Sedimentation nicht an den Totvolumenbereich; sie reduziert oft auch schon einmal am Stauseebeginn das Nutzvolumen. Zum anderen, das zeigen Untersuchungen in Japan, sammeln sich Sedimente in Stauseen fast immer deutlich schneller als ursprünglich vorhergesagt. Das Totvolumen ist also oft auch früher ausgelastet. Und daher dürften die Staudämme am Mekongstrom in Zukunft ähnliche Totvolumenerfahrungen machen wie der El Mansour Eddahbi in Marokko. Das wäre vermeidbar gewesen.
Sedimentlabor Nippon
Als zumindest moderater Vorreiter im modernen Management gegen die Sedimentation gilt Japan. Dort »laufen eine Menge Projekte, um Sediment durch Dämme hindurch- oder um sie herumzuführen«, sagt Kondolf. So findet sich auf der japanischen Südinsel Kyushu, nicht weit des Surferstädtchens Miyazaki, eines der berühmtesten Antisedimentlabore der Welt: am Fluss Mimi, der sich durch enge, tiefe Täler des bergigen steilen Nippon zieht.
Die Topografie Japans hat das Land dazu prädestiniert, sich schon früh mit Sedimentproblemen auseinanderzusetzen. Unter großflächigen Zedern- und Fichtenmonokulturen, die den Zusammenhalt des Erdreichs schwächen, erodiert dank des vom Klimawandel zunehmend verstärkten Regens an schroffen Hängen eine Menge Staub und Erdreich in die Flüsse.
So auch beim Taifun Nabi im Jahr 2005, einem der regenreichsten Stürme in Nippons Geschichte. Am Mimi versanken damals ganze Siedlungen im Wasser – an Orten, wo man das nicht erwartet hätte. Die Pegel waren höher gestiegen als prognostiziert, weil sich zu viel Sediment in den Seen abgelagert hatte.
Warum nicht alle Dämme tieferlegen?
Im Nachhinein entschied man sich in Japan für einen in der Welt der Stauseen ungewöhnlichen Weg: Man passte zwei der sechs Mimi-Dämme für aktives Management an. Der Saigou- und der Yamasubaru-Damm wurden tiefergelegt; sie haben jetzt zusätzlich tiefere Auslässe. Bei Starkregen öffnen sie sich und festgesetztes Sediment wird gen Meer gespült. Sluicing nennt man das. Könnte man das nicht bei allen Dämmen machen?
Hier lauern Schwierigkeiten, denn jedes Stauprojekt ist einzigartig und verlangt nach individuellen Strategien. Das zeigt sich etwa am Kami-Shiiba-Damm, der obersten Talsperre am Mimi-Strom, wie Irie Mitsuteru erklärt: »Beim Kami-Shiiba liegt der Auslass nicht auf einem niedrigen Niveau, da er keine Hochwasserschutzfunktion hat«, so der Inhaber des Lehrstuhls für Wasseringenieurwesen an der Universität Miyazaki.
Doch die Staufläche des Kami-Shiiba-Sees ist im Verhältnis zum Reservoirvolumen gering. Das sorgt dafür, dass es bei Regenwetter einen Unterwasser-Partikelstrom gibt. Diese Schicht setzt sich weder im Stausee ab, noch verschwindet sie durch den Auslass im Damm – der Partikelstrom trifft den Auslass schlicht und ergreifend nicht. »Stattdessen verteilen sich die Partikel an ruhigen Tagen vor dem Damm«, so Irie. Von dort aus gelangt das Sediment dann langsam, aber stetig über den Ausfluss zum nächsten Damm, dem Iwayado.
Die Ruhe bedeutet einen Sedimentsturm
Dort wird es nun problematisch. Der Iwayado hat keinen tiefergelegten Ablass und kann von daher nicht sluicen. Doch selbst wenn es so wäre: Bei ruhigem Wetter, also dann, wenn der Kami-Shiiba sein Sediment liefert, funktioniert das Sluicen gar nicht. »Die Wassermenge, die an solchen Tagen in den Iwayado fließt, ist gering. Deswegen ist die Verweilzeit so lang, dass sich feine Partikel ablagern«, sagt Irie.
»80 Prozent des Iwayado waren zuletzt komplett verschlammt. Und das liegt eben am Kami-Shiiba«, sagt Irie. Doch den Auslass am Kami-Shiiba einfach tieferlegen, das funktioniert nicht: Der Kami-Shiiba ist ein Bogendamm, und der ist für ein solches Umrüsten nicht designt.
»Ich habe der betreibenden Firma empfohlen, auf halber Höhe der Staumauer die Trübwasserschicht mittels eines Tunnels am Damm vorbeizuführen«, sagt Irie. Das wäre ein so genannter Bypass. Doch war schon das Tieferlegen am Saigou und Yamasubaru teuer, so würde ein Bypass-Unterfangen das noch toppen. Die Firma reagierte, gelinde gesagt, zurückhaltend.
Hätte man nicht alles besser machen können?
Alternativ könnte man versuchen, regelmäßig das Sediment mit langen Unterwasserkränen abzubuddeln – auch das macht man heutzutage häufig, es nennt sich Dredging. Damit bekämpft man aber nur das Symptom und unterbricht überdies den laufenden Betrieb. Besonders bei großen Stauseen wie dem Kami-Shiiba wäre das horrend teuer und unpraktisch.
Hätte man die Dämme nicht von Anfang an besser designen können? Zumindest bei den Stauwehren am Fluss Mimi nicht, denn die wurden zwischen den 1920er und 1960er Jahren erbaut. »Wir haben erst jetzt umfangreiche Erfahrung mit Sedimentation. Damals gab es kaum Daten«, sagt Irie. »Nun beobachten wir viele Dämme mit Sedimentation – und darauf basierend könnten wir uns vorbereiten.«
Derselben Meinung ist auch Kollege Mathias Kondolf. »Man könnte – und manchmal tut man das sogar – den Sedimenteintrag langfristig messen, bevor man einen Staudamm errichtet.« Und damit ließe sich dann eine probate Taktik planen und einbauen: Das würde beispielsweise Optionen wie eben Sluicing, einen Bypass oder angepasste Landnutzung für einen geringen Sedimenteintrag umfassen.
»Es ist eine Schande!«Mathias Kondolf, Stausee-Experte
Die Aufgabe von Forschern wie Irie und Kondolf ist, die Effizienz dieser und weiterer Antisedimentmaßnahmen zu beweisen – und die Gefahr zu dokumentieren, die droht, wenn man die Sedimentmühlen unbeobachtet weiter mahlen lässt. Das ist mangels bathymetrischer Messungen eine schwierige Aufgabe. Und so bemüht man sich, mit Satellitendaten oder dem Output von neuronalen Netzwerken dem versteckten Stausee-GAU in den Seen beizukommen.
Doch die Botschaften der Wissenschaftler stoßen häufig auf taube Ohren, wie die neuen Dämme am Lancang-Mekong-Strom zeigen, wo Sedimentation noch immer nicht ernst genommen wird. Wenn sich Politik und Management bestehender Dämme nicht ändern und neue Talsperren anders designt werden, verwandeln sich die Seen in ein paar Dekaden oder Jahrhunderten in Sandgruben – und in unbehebbare Infrastruktur- und Nachhaltigkeitskatastrophen.
»Es ist eine Schande«, resümiert Kondolf. »Ein paar Investitionen heute würde in einigen Dekaden kommenden Generationen einen Haufen Geld – und Managementprobleme ersparen – und sie könnten die Wasserversorgung der Zukunft garantieren. Das Ignorieren dieser Frage, wie es heute geschieht, spart vielleicht ein wenig Geld auf kurze Dauer. Auf lange Sicht aber wird das definitiv sehr ernsthafte Probleme verursachen.«
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