Direkt zum Inhalt

Drogenabhängigkeit: Trauma und Sucht – eine folgenreiche Verbindung

Viele Suchtkranke haben in ihrer Kindheit oder Jugend schwere Traumata erfahren, so auch unsere Autorin. Neuere Therapieansätze behandeln beides zugleich.
Eine Frau in einem dunklen Raum hält ihre Hände vor der Brust und blickt nach unten. Der Gesichtsausdruck wirkt nachdenklich oder besorgt.
Manche Personen machen im Lauf ihres Lebens Erfahrungen, die ihr Suchtrisiko stark erhöhen. Dazu zählen traumatische Erlebnisse in Kindheit und Jugend sowie Nahtod-, Katastrophen- oder Kriegserfahrungen in jedem Lebensalter.

Nachdem ich mit 23 in eine Entzugsklinik gekommen war, begann ich zu verstehen, dass im Leben der meisten Suchtkranken Traumata eine Rolle spielen. Viele der Menschen in meiner Therapiegruppe beschrieben Episoden aus ihrer Kindheit, in denen sie vernachlässigt, misshandelt oder gar sexuell missbraucht worden waren. Nur wenigen von ihnen war klar, wie einschneidend solche Erfahrungen für die junge Seele sind. Auch mir waren die Nachwirkungen meiner Traumata lange nicht bewusst gewesen – vielleicht, weil mir klar war, dass meine Eltern so viel Schlimmeres erlitten hatten.

Als mein Vater ein kleiner Junge war, pferchten die Nazis ihn mit seiner Mutter in Ungarn in einen Zug, der nach Auschwitz fahren sollte. Die beiden standen zwischen Tausenden von hungernden Verschleppten, als die Lok auf der Strecke stehen blieb. Die Soldaten hatten die Waggons zurückgelassen, als die Alliierten die Kontrolle übernahmen. Mein Vater sprach danach ein Jahr lang nicht mehr; den größten Teil seines weiteren Lebens kämpfte er mit Depressionen. Das Trauma meiner Mutter war ein verbreiteteres: Sie verlor einen Elternteil an Krebs, als sie noch ein Teenager war. Ich wuchs in einer liebevollen Familie auf, doch ich konnte nie das Gefühl abschütteln, nicht gut genug zu sein. Sensorische Reize und soziale Interaktionen überforderten mich schnell. Ich weinte oft, was dazu führte, dass ich in der Schule gemobbt wurde.

In meiner Jugend in den 1980er Jahren stellte ich fest, dass mir Drogen – zuerst Marihuana, dann diverse Psychedelika und schließlich Kokain – dabei halfen, soziale Kontakte zu knüpfen. Doch erst Heroin vermittelte mir ein Gefühl von Ruhe, Zufriedenheit und Sicherheit. Im Jahr 1986 spritzte ich es mir mehrmals täglich und musste deswegen mein Studium an der Columbia University in New York City abbrechen. Zwei Jahre später wog ich weniger als 40 Kilogramm und war bereits etliche Male daran gescheitert, auf eigene Faust von den Drogen loszukommen. Endlich erkannte ich, dass mein regelmäßiger Konsum von Koks und Heroin definitiv bedeutete, dass ich süchtig war. Ich brauchte Hilfe.

Das Konzept der meisten amerikanischen Entzugskliniken – auch derjenigen, in der ich mich damals behandeln ließ – basiert auf dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA). Die Organisation wurde 1935 von einem Börsenmakler und einem Arzt gegründet. Die beiden waren davon überzeugt, Alkoholsucht (inklusive ihrer eigenen) sei auf »Charakterschwäche« wie Egoismus und Verantwortungslosigkeit zurückzuführen. Heutzutage gibt es ein entsprechendes Zwölf-Schritte-Programm praktisch für jede Art von Abhängigkeit, von Kokain- über Glücksspielsucht bis hin zu ungezügeltem Essen. In den Gruppentreffen bekommen Betroffene soziale Unterstützung. Millionen von Menschen halfen solche Angebote bereits, auch mir.

Dennoch können manche Aspekte des Programms Schaden anrichten. So wird Suchtkranken üblicherweise suggeriert, der einzige Weg zur Genesung bestehe darin, die Regeln strikt einzuhalten. Eine höchst problematische Ansicht ist, dass man nur gesund werden könne, wenn man das eigene Fehlverhalten als Ursache des Problems betrachte. Man wird hingegen nicht dazu ermutigt, nach Gründen zu suchen, warum man besonders anfällig dafür war, Rauschmittel als Trostspender zu nutzen.

Die Macht der Gruppe | In Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern bekommen Menschen mit Suchterkrankungen Halt und Unterstützung durch Personen, die Ähnliches durchgemacht haben wie sie selbst. Vielen hilft das bei der Bekämpfung ihrer Abhängigkeit.

Negative Kindheitserlebnisse begünstigen Suchtverhalten

Wie zahlreiche Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben, können einschneidende Erfahrungen in der Kindheit zu einer Substanzabhängigkeit beitragen. Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2021 ergab etwa, dass mehr als 40 Prozent der Menschen mit Opioidabhängigkeit von irgendeiner Form von Vernachlässigung oder Kindesmisshandlung berichtet hatten. 41 Prozent der abhängigen Frauen waren in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden: ein Wert, der weit über dem Anteil in der Allgemeinbevölkerung liegt. Laut einer anderen Untersuchung hatten mindestens 85 Prozent der Teilnehmenden mit einer Abhängigkeit als Kind eine oder mehrere sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Jedes zusätzliche negative Erlebnis erhöhte das Suchtrisiko. Bei Personen, denen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) attestiert worden war, war dieser Zusammenhang am stärksten ausgeprägt. Ein Drittel der Teilnehmer einer Studie, die wegen einer Substanzabhängigkeit behandelt wurden, litten an einer aktiven PTBS. Und bei 58 Prozent der in einer weiteren Arbeit befragten Menschen mit PTBS war ihr Konsum von Drogen oder Medikamenten als bedenklich einzustufen.

Sucht und Trauma sind also eng miteinander verwoben. Diese Erkenntnis führte zu neuen Behandlungsstrategien, die sich gegen beide Probleme zugleich richten. Getestet hat man sie hauptsächlich bei Menschen mit PTBS, die zusätzlich an einer Suchterkrankung leiden. Die Erfahrungen bei solchen Personen bestätigen die Hypothese, dass Traumata den Substanzkonsum antreiben. Die Ergebnisse beschreibt Teresa López-Castro, Professorin für Psychologie am City College of New York in den USA, als bemerkenswert. »Wenn die Symptome der PTBS zurückgehen, lassen auch die Probleme mit der Substanzabhängigkeit nach«, erläutert sie. Das Gegenteil sei seltener der Fall.

Leidvolle Erfahrungen, die jemanden für eine Sucht prädisponieren, müssen nicht immer offensichtlich sein. Sie können so banal wie bei mir sein: depressive Eltern oder Mobbing in der Schule. Sind Bezugspersonen abhängig oder psychisch krank, macht das ein Kind anfälliger für eine Suchterkrankung. Daneben gibt es etliche weitere Umstände, die das Krankheitsrisiko erhöhen. Dazu zählen beispielsweise der Verlust eines Elternteils, Gewalterfahrungen, eine lebensbedrohliche Krankheit, ein Unfall, schwere Konflikte oder Katastrophen. Eine Analyse der schwedischen Gesamtbevölkerung ergab, dass bereits eine einzige solche Erfahrung das Risiko für Substanzgebrauchsstörungen stark erhöht.

Frühe Traumata prägen wichtige Hirnschaltkreise

Mittels bildgebender Verfahren lassen sich die neurobiologischen Pfade ergründen, die Trauma und Sucht miteinander verknüpfen. Beide Erfahrungen verändern das Belohnungssystem im Gehirn. Dieses dient Menschen dazu, sie zu motivieren, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, etwa nach Nahrung, Wasser, Sex und vor allem Sicherheit. Allerdings sind Hirnprozesse kompliziert, und viele scheinbar getrennte Systeme beeinflussen einander. So sind Netzwerke, die bei positiven Erlebnissen aktiv werden, eng mit der Stressmodulation verwoben. Deshalb tragen viele Neurotransmitter und Hirnregionen, die uns nach Vergnügen und Sättigung streben lassen, auch dazu bei, uns bei Stresssignalen vor gefährlichen Situationen zu schützen.

Der Botenstoff Dopamin treibt Menschen dazu an, nach Gelegenheiten zu suchen, ihr Überleben zu sichern und sich fortzupflanzen. Zugleich hilft er dabei, Bedrohungen zu vermeiden. Er wirkt auf zwei Regionen im Vorderhirn, das Striatum und den präfrontalen Kortex. Dort bestimmt er mit, ob eine Erfahrung als lohnend oder unangenehm bewertet wird. Er tut dies, indem er ein Gefühl des Verlangens erzeugt – entweder nach mehr Vergnügen oder weniger Schmerzen.

Bei beängstigenden oder stressigen Erlebnissen setzen der Hypothalamus und die Hypophyse körpereigene Opioide frei, die sogenannten Endorphine und Enkephaline. Hormone aus den Nebennieren steuern ihre Ausschüttung. Sie sind Teil des klassischen Stressreaktionssystems, das dazu dient, Schmerzen zu lindern und Fluchtreaktionen zu unterstützen. Zugleich sorgen sie dafür, dass uns Essen, Sex und Geselligkeit ein gutes Gefühl vermitteln. Dank ihnen fühlen wir uns satt und wohl, und sie signalisieren uns auch, wenn wir etwas oder jemanden mögen.

Wie Widrigkeiten in der Kindheit Substanzabhängigkeiten begünstigen | Sucht geht mit Veränderungen im Belohnungssystem im Gehirn einher, das untrennbar mit Stressnetzwerken verbunden ist. Der enge Austausch der beiden ist deshalb nötig, weil Menschen stets potenzielle Belohnungen einer Handlung – etwa Geselligkeit, Essen und Sex – gegen die möglichen Kosten abwägen müssen, die durch Gefahren wie Ablehnung oder Gewalt entstehen. Ist ein Kind dauerhaft solchen Stressoren ausgesetzt, kann das dazu führen, dass seine Impulskontrolle und die Freude an natürlichen Belohnungen zurückgehen. Zugleich verstärken sich negative Gefühle wie Traurigkeit und Angst. Solche Veränderungen in den Hirnschaltkreisen machen Betroffene anfälliger für Drogen, weil diese die Stressachse dämpfen und die Person beruhigen oder Glücksgefühle in ihnen auslösen.

Wächst ein Kind in einer bedrohlichen und nervenaufreibenden Umgebung auf, kann sich das auf zentrale Schaltkreise in seinem Gehirn auswirken. Studien an Menschen und Tieren zeigten etwa: Widrigkeiten in der Kindheit verändern die Stressachse nachhaltig. Kortisol und andere beteiligte Hormone beeinflussen Hirnregionen wie die Amygdala, die durch starke Emotionen aktiviert wird – vor allem durch Angst und Verzweiflung. Frühkindlicher Stress wirkt sich außerdem auf den Nucleus accumbens aus. Das Kerngebiet spielt bei Sucht eine entscheidende Rolle, denn es macht Lust auf mehr von dem, was sich gut anfühlt. Auch Gedächtnisareale wie der Hippocampus sind maßgeblich betroffen, was dazu führen kann, dass sich bestimmte Erinnerungen zu stark und andere zu schwach einprägen.

Traumata lassen die Welt düsterer erscheinen

Untersuchungen zufolge nehmen Menschen, die in jungen Jahren ein Trauma erlebt haben, potenzielle Bedrohungen stärker wahr und reagieren sensibler darauf. Ein Kind mit cholerischem Vater interpretiert demnach selbst neutrale Gesichtsausdrücke eher als wütend. Betroffene neigen aus diesem Grund dazu, selbst dort Gefahren zu sehen, wo keine sind. Treten derart belastende Reize häufig wiederholt auf, stärkt das Hirnareale, die mit Emotionen verknüpft sind. Zugleich nimmt der Einfluss des präfrontalen Kortex ab, der impulsive Handlungen bremst. Ein Leben unter ständiger Angst beeinträchtigt also mitunter die Impulskontrolle. Wer traumatisiert ist, tendiert in der Folge eher dazu, umgehend auf eine vermeintliche Bedrohung zu reagieren, ohne die Folgen zu berücksichtigen. In tatsächlichen Gefahrensituationen kann dieses Verhalten lebensrettend sein. Macht das Gehirn jedoch aus einer Mücke einen Elefanten, werden solche impulsiven Reaktionen zum Problem. Denn sie hindern Kinder daran, zu lernen, dass sie sicher sind. So festigen sich Verhaltensweisen, die von anderen als aggressiv wahrgenommen werden.

Die Veränderungen bleiben lange nach Ende des Traumas weiter bestehen. »Unsere Fähigkeit, umzuschalten und zu merken: ›Oh, jetzt ist alles sicher‹, ist dann stark beeinträchtigt«, sagt López-Castro. Das kann dazu führen, dass eine Person sofortige Erleichterung sucht – beispielsweise durch Drogenkonsum –, statt langfristige, gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

»Wenn ein Trauma früh im Leben auftritt, ist das sehr destabilisierend – aber wir passen uns an«Teresa López-Castro, Psychologin

Eine weitere mögliche Auswirkung negativer Erfahrungen in der frühen Lebensphase ist die sogenannte Anhedonie. Wer sie entwickelt, dem fällt es schwer, Freude oder andere positive Emotionen zu empfinden. Das verstärkt die Antriebslosigkeit der Betroffenen. Bei mir äußerte sich die Anhedonie als anhaltende unterschwellige Angst und innere Abgestumpftheit.

»Unsere Belohnungs- und Stresssysteme sind darauf ausgerichtet, unser Bedürfnis nach möglichst wenig Gefahr zu erfüllen«, erklärt López-Castro. »Wenn ein Trauma früh im Leben auftritt, ist das sehr destabilisierend – aber wir passen uns an.« Entsprechende Änderungen in den neuronalen Schaltkreisen helfen Betroffenen zwar dabei, zu überleben. Zugleich beeinträchtigen sie jedoch deren Emotionsregulation. Im schlimmsten Fall kann intensiver frühkindlicher Stress dann in Angst und Anhedonie münden. Wenn traumatisierte Jugendliche Drogen nehmen, die Opioid- oder Dopaminsignalwege im Gehirn aktivieren, sind sie deshalb sehr anfällig dafür, süchtig danach zu werden. Die Drogen schenken ihnen nämlich jenes Glücksgefühl und die Behaglichkeit, die ihnen sonst verwehrt bleiben.

Die Erbanlagen haben ebenfalls einen starken Einfluss auf das Suchtrisiko. Sie bestimmen gewissermaßen die individuelle Ausgangslage: Manche Säuglinge sind beispielsweise schnell gestresst, während andere eher gelassen bleiben. Solche Unterschiede spiegeln die angeborene Reaktions- und Widerstandsfähigkeit der Stress- und Belohnungssysteme wider. Tatsächlich ist rund die Hälfte des Risikos für Suchterkrankungen genetisch bedingt. Die Veranlagung äußerst sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Einige Gene setzen Menschen einem erhöhten Suchtrisiko aus, indem sie gewisse Persönlichkeitsmerkmale verstärken: Die Betroffenen neigen zum Beispiel dazu, den Nervenkitzel zu suchen, oder es fällt ihnen schwer, ihre Impulse zu kontrollieren. Andere Erbanlagen begünstigen Konzentrationsschwierigkeiten, schlechte Laune oder Angstzustände. Auch Gene, die mit dem Alkoholstoffwechsel zusammenhängen, können eine Rolle spielen. Traumatischer Stress führt dann möglicherweise dazu, dass solche Tendenzen in eine Suchterkrankung münden. Die Abhängigkeit entsteht häufig erst dadurch, dass die Betroffenen versuchen, ihre Probleme auf eigene Faust zu »behandeln«. Für eine Heilung könnte es zumindest in manchen Fällen deshalb unerlässlich sein, das zugrunde liegende Trauma zu überwinden.

Sich dem Trauma stellen – und die Sucht überwinden

Michael (Name geändert) ist ein Veteran in seinen Dreißigern. Er lebt sowohl mit PTBS als auch mit einer Sucht. Im Rahmen einer Studie unter der Leitung von Sudie Back, Professorin für Suchtforschung an der Medical University of South Carolina, USA, konnte er beide Leiden zugleich bekämpfen. Das Programm umfasste eine Psychotherapie namens COPE, bei der PTBS und Substanzgebrauchsstörungen gleichzeitig durch Exposition behandelt werden. COPE erwies sich in mehreren klinischen Studien als sicher und wirksam.

Michael wuchs auf einer Farm auf, auf der Strafgefangene arbeiteten, sein Vater war im Strafvollzug tätig. Schon in jungen Jahren wurde er von einem älteren Verwandten misshandelt, der ihn verprügelte und ihm immer wieder mit sexuellen Übergriffen drohte. Gleich nach der Highschool trat er der Luftwaffe bei und meldete sich in Afghanistan freiwillig für risikoreiche Einsätze. »Ich war 18 und wollte Geschichten erzählen können«, sagt er. Doch als seine Einheit angegriffen wurde, verschlief er die ersten Minuten. Das verleitete ihn dazu, Stimulanzien zu nehmen. Nie wieder wollte er unvorbereitet erwischt werden. Die folgenden Schlachten und das dabei erlebte Leid und Töten mündeten bei ihm in einer PTBS. Im Kriegseinsatz, so Michael, fühlte sich alles »surreal« an; seine Gefühle konnte er nicht wirklich verarbeiten. Stattdessen trank er regelmäßig Alkohol und konsumierte große Mengen an Speed – ein Amphetamin, das wach macht und in hohen Dosen Paranoia verursachen kann.

»Die Leute in meiner Befehlskette bemerkten, dass ich meine Wut nicht unter Kontrolle hatte«, sagt er – ein häufiges Symptom von PTBS. 2007 erkannte Michael, dass er ein Problem mit Aufputschmitteln hatte, und hörte auf, sie einzunehmen. Zusätzlich begann er eine Therapie, um zu lernen, mit seiner Wut umzugehen. Als er nach sechs Jahren Einsatz heimkehrte, hatte er Schwierigkeiten, sich an das zivile Leben anzupassen. Er trank wieder viel. 2023 nahm er schließlich an der Studie teil.

COPE umfasst zwölf 90-minütige Sitzungen, die wöchentlich mit einem speziell ausgebildeten Therapeuten stattfinden. Da das Verlangen nach Drogen oft durch Stress verursacht wird, lernt man in den Therapieeinheiten, wie man seine Gefühle besser reguliert. Die Programmteilnehmer schildern wiederholt an einem sicheren Ort ihre traumatischen Erfahrungen. Das hilft ihnen, belastende Erinnerungen zu verarbeiten und Umgebungen und Erlebnisse, die sie auslösen könnten, nicht mehr zu meiden. Dabei setzen sie sich nach und nach immer fordernderen Situationen aus, denen sie normalerweise aus dem Weg gehen würden. Die Geschwindigkeit der Therapie bestimmen sie selbst.

Schwere Nachwirkungen | Viele Menschen, die Traumata erlitten haben, konsumieren Drogen, um den negativen Auswirkungen ihrer Erfahrungen zu entkommen. Die Traumata haben ihr Gehirn dafür prädestiniert, in eine Abhängigkeit zu rutschen.

Der Abhängigkeit den Boden entziehen

»Im Zentrum von Traumata – und den damit zusammenhängenden Problemen – steht die Vermeidung«, erläutert López-Castro. Eine Expositionstherapie hilft dabei, sie zu überwinden, und schult das Gehirn darin, sichere Situationen wieder als solche wahrzunehmen. Einerseits steigert diese Strategie mit der Zeit die Fähigkeit, Stress zu ertragen. Andererseits kann man bei Begebenheiten, die mit vergangenen Traumata verbundene Angst, Trauer oder Wut hervorrufen, viel gelassener bleiben. Durch COPE erlernen Betroffene alternative Methoden, mit Stress umzugehen, und müssen nicht mehr Alkohol und Drogen einzusetzen, um ihre starken Emotionen zu bändigen. Dazu zählen etwa Atemtechniken oder die Suche nach Unterstützung durch andere.

Traumata schüren ein Gefühl der Hilflosigkeit. Deshalb versuchen Therapeuten, Betroffenen zu mehr Kontrolle, Sicherheit und Autonomie zu verhelfen. Dazu muss die Behandlung stark strukturiert und vorhersehbar sein, damit der Patient weiß, was ihn erwartet. So kann er sich zurückziehen, wenn es ihm zu viel wird. »Wir sprechen mit ihnen über die Intention dahinter. Das ist extrem wichtig«, weiß Sudie Back.

Stellen Suchtkranke Fragen zum Behandlungsablauf, wird das vielerorts noch als Widerstand gegen die Therapie angesehen. Neuankömmlinge in Zwölf-Schritte-Programmen bekommen mitunter zu hören, sie sollten »die Klappe halten und zuhören«, denn ihre »beste Idee war es, hierherzukommen«. Eine solche abschätzige Haltung seitens der Berater kann Misstrauen erzeugen – insbesondere dann, wenn jemand es als Bestrafung und nicht als Unterstützung empfindet, dazu gedrängt zu werden, sich seinen Ängsten zu stellen. Im Gegensatz dazu begründet ein erfolgreicher Trauma- und Suchttherapeut genau, warum er Patienten bittet, sich den schmerzhaften Situationen auszusetzen, denen sie am liebsten entkommen würden. Wird die Intensität nämlich langsam und kontrolliert gesteigert, verlieren die Traumata kontinuierlich an Macht.

Traumatische Geschehnisse werden im Gehirn oft anders als normale Erlebnisse abgespeichert. Das erklärt möglicherweise, warum Menschen mit PTBS sie immer wieder als Flashbacks erleben. Die Betroffenen haben dann das Gefühl, das schreckliche Ereignis im Hier und Jetzt erneut durchzumachen. COPE kann dem Gehirn dabei helfen, diese Erinnerungen wieder angemessener zu verarbeiten. Das Programm linderte bei den Probanden die PTBS-Symptome und reduzierte das Verlangen nach den Drogen. Auch Michael ging es besser. Für ihn war die Beziehung zu seiner Therapeutin entscheidend für den Erfolg der Behandlung. Die regelmäßigen Sitzungen und die emotionale Sicherheit halfen ihm, seine Erfahrungen zu verstehen und sie hinter sich zu lassen. Er ist nun in der Lage, Alkohol in Maßen zu konsumieren, ohne erneut in sein früheres zwanghaftes Trinkmuster zu verfallen.

Einen klareren Blick auf die Welt schulen

Ein weiterer vielversprechender Ansatz, der sich mit einer Suchtbehandlung kombinieren lässt, ist die kognitive Verhaltenstherapie. Dabei geht es weniger darum, Traumata zu verarbeiten. Vielmehr zielt das Verfahren darauf ab, die verzerrte Wahrnehmung der Patienten zu korrigieren. Das kann besonders für Menschen hilfreich sein, deren Angst vor ihren traumatischen Erinnerungen sie an einer Konfrontation damit hindert – was das größte Hindernis für den Erfolg von COPE und anderen Expositionstherapien darstellt.

Sandra begann im Alter von 15 Jahren, mit Freunden zu trinken. »Ich erinnere mich, dass ich schon in sehr jungen Jahren Angstgefühle hatte«, erzählt sie. »Der Alkohol hat dieses Gefühl bei mir gelindert.« Erst wurde sie von Alkohol und später auch von Ketamin abhängig, das sie auf Raves konsumierte. Ab Anfang 20 ließ Sandra ihre Suchterkrankung im Center for Motivation and Change in New York behandeln. Kurz darauf wurde sie von ihrem Freund, von dem sie sich trennen wollte, als Geisel genommen und sexuell bedrängt. Ein Trainer der Organisation half ihr, ihren Expartner verhaften zu lassen und eine einstweilige Verfügung gegen ihn zu erwirken. Schließlich begann Sandra eine kognitive Verhaltenstherapie.

Die Behandlung soll falsche Vorstellungen auflösen, die eine Person aufgrund des Traumas hat. Sandra war etwa davon überzeugt, dass sie nie einen neuen Partner finden würde. Ihr Ex hatte ihr wiederholt gesagt, er wäre der Einzige, der sie jemals akzeptieren würde. In der kognitiven Verhaltenstherapie werden solche Annahmen einem Realitätscheck unterzogen. Betroffene lernen langsam, Katastrophenszenarien zu hinterfragen und sie gegen realistischere und gesündere Ausblicke einzutauschen.

Sandra hat immer wieder Methoden der Zwölf-Schritte-Programme ausprobiert. Einige nutzt sie weiterhin, gleichwohl ist ihr Verhältnis zu dem Ansatz zwiegespalten. Das liegt in erster Linie an ihren schlechten Erfahrungen mit einem Mentor der Anonymen Alkoholiker. Er hatte sie dazu gedrängt, sich auf eine bedenkliche Variante des vierten Schritts einzulassen. Hierbei sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine »moralische Inventur« durchführen. Sie müssen dabei ihre eigenen Charakterfehler beleuchten, die gemäß der Lehre des Programms der Abhängigkeit zugrunde liegen. In der schriftlichen Fassung wird man bei diesem Schritt aufgefordert, die eigene Rolle bei wichtigen Ereignissen im Leben zu akzeptieren. Nur so könne man Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Dementsprechend hielt Sandras Mentor sie an, nach ihrem Anteil an dem erlebten sexuellen Übergriff zu suchen. Damit war sie nicht einverstanden und brach die Zusammenarbeit ab.

  • Kurz erklärt: Das Zwölf-Schritte-Programm

    Das Zwölf-Schritte-Programm entstand ursprünglich in den 1930er Jahren als Werkzeug der Anonymen Alkoholiker. Es sollte Betroffenen dabei helfen, ihre Abhängigkeit in der Gruppe zusammen mit anderen zu überwinden. Ursprünglich waren die zwölf Schritte stark religiös geprägt, mittlerweile werden sie jedoch häufig säkular gelebt, um sie auch nicht religiösen Menschen zugänglich zu machen. Heute gibt es für zahlreiche Suchterkrankungen auf dem Schema aufbauende Programme – vom Missbrauch harter Drogen bis hin zu Nikotin- und Glücksspielsucht. Die einzelnen Punkte sind unterschiedlich formuliert, doch generell ähneln sich die Schritte. Im Groben widmen sich die einzelnen Schritte den folgenden Aufgaben:

    1. Problembewusstsein: sich eingestehen, dass man ein Problem hat
    2. »Höhere Macht«: an eine höhere Macht glauben, die einem helfen kann
    3. Vertrauen: sich dieser höheren Macht anvertrauen
    4. Moralische Inventur: die eigene Rolle an der Erkrankung anerkennen
    5. Fehlverhalten eingestehen: sich selbst und anderen Fehler gestehen
    6. Änderung: bereit sein, schädliche Verhaltensweisen zu ändern
    7. Demut: mithilfe der höheren Macht schädliches Verhalten überwinden
    8. Leidtragende: eine Liste erstellen, wen man durch die Sucht verletzt hat
    9. Wiedergutmachung: diese Menschen um Verzeihung bitten / entschädigen
    10. Inventur fortsetzen: lernen, Unrecht weiterhin zuzugeben
    11. »Gebet und Besinnung«: Bindung zur höheren Macht verstärken
    12. Missionierung: die Botschaft an andere Betroffene weitergeben

Wenn Hilfe zusätzlichen Schaden anrichtet

Für Menschen, die vergewaltigt oder misshandelt wurden, ist die Überzeugung zutiefst schädlich, dass die Ereignisse irgendwie ihre eigene Schuld seien. Es ist einer derjenigen Glaubenssätze, die man sowohl in COPE als auch in der kognitiven Verhaltenstherapie aufzulösen und nicht zu verstärken versucht. Noch heute besucht Sandra zwar zur gegenseitigen Unterstützung Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie lässt sich aber nicht mehr auf Menschen ein, deren Ansichten über die jeweiligen Schritte sie als problematisch betrachtet.

Meine eigene Erfahrung mit dem vierten Schritt war positiver. Das lag vor allem an der Person, mit der ich zusammenarbeitete. Sie erkannte, dass mein Problem nicht war, dass ich mich der Verantwortung entziehe, sondern dass ich mich selbst hasste und mir Vorwürfe machte.

»Diese Menschen haben in ihrer Kindheit Traumata erlebt, und dann bekommen sie eine Behandlung, die selbst traumatisch ist. Das verstärkt das Gefühl der Ablehnung und Abwertung«Nzinga Harrison, Psychiaterin

Die meisten Suchtberatungen distanzieren sich mittlerweile von dem Ansatz der »strengen Fürsorge« bei den Zwölf-Schritte-Programmen. Allerdings ist es schwierig, ihn vollständig auszurotten. Viele Suchtberater haben einst erfolgreich ein solches Zwölf-Schritte-Programm absolviert und glauben, dass das, was für sie funktioniert hat, für alle funktionieren muss. So tragen sie dazu bei, dass veraltete Ansichten noch lange in der Suchthilfe bestehen bleiben.

Nzinga Harrison ist Mitbegründerin und leitende Medizinerin des ambulanten Suchtbehandlungsprogramms Eleanor Health, das in sieben US-amerikanischen Bundesstaaten evidenzbasierte Verfahren für rund 30 000 Patientinnen und Patienten anbietet. Die überwältigende Mehrheit habe bereits negative Erfahrungen mit Therapieangeboten gemacht, sagt sie. »Diese Menschen haben in ihrer Kindheit Traumata erlebt, und dann bekommen sie eine Behandlung, die selbst traumatisch ist. Das verstärkt das Gefühl der Ablehnung und Abwertung.« Die vermeintliche Hilfe kann so schnell zum Stressfaktor werden, der in eine neue Abwärtsspirale mündet. Um die Sucht nachhaltig zu überwinden, brauchen viele Betroffene einen Ansatz, der besser auf ihre Leidensgeschichte abgestimmt ist.

Abhängigkeit erfordert vielschichtige Therapieansätze

Sowohl Sucht als auch PTBS sind komplexe Erkrankungen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass dieselbe Behandlungsmethode jedem Betroffenen gleichermaßen helfen wird. Glücklicherweise gibt es inzwischen mehrere unterschiedliche Optionen, was die Heilungschancen steigert. Menschen mit einer Suchterkrankung sollten diejenigen Therapien wählen können, die am besten zu ihren Bedürfnissen passen. Da traumatische Erfahrungen unter Abhängigen derart weit verbreitet sind, sollten alle Programme darauf ausgelegt sein, diese ebenfalls zu adressieren – und gleichzeitig sicherstellen, dass die Methoden keinen zusätzlichen Schaden anrichten.

Ich hatte das Glück, nicht mit traumatischen Behandlungsformen konfrontiert zu werden, als ich verzweifelt und verletzlich war. Dennoch war ich einigen fragwürdigen Praktiken ausgesetzt, zum Beispiel einer Behandlung in einem autoritären Umfeld. Letztlich konnte ich aber das wählen, was mir half, und den Rest bleiben lassen, wie es sinngemäß bei den Anonymen Alkoholikern heißt. Eine mitfühlendere Suchtbehandlung, die sensibel mit den Traumata umgeht, ist nicht bloß der richtige, sondern auch der einfachste Weg, um die Situation der Betroffenen schnell zu verbessern. Und nur mit solchen Angeboten bringt man sie dazu, eine dringend notwendige Therapie wahrzunehmen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Back, S.E. et al., Contemporary Clinical Trials 10.1016/j.cct.2023.107084, 2023

Lookatch, S.J. et al., Substance Use & Misuse 10.1080/10826084.2019.1638406, 2019

McLauglin, K.A. et al., BMC Medicine 10.1186/s12916–020–01561–6, 2020

Simpson, T.L. et al., Journal of Anxiety Disorders 10.1016/j.janxdis.2021.102490, 2021

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.