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Weibliche Sexualität: Der geheimnisvolle Orgasmus

Viele streben ihn an, doch für manche bleibt er unerreichbar: Der weibliche Orgasmus ist so komplex, dass er bis heute ein Rätsel ist. Nicht nur Männern, auch vielen Frauen und all denen, die den vermeintlichen Höhepunkt erforschen.
Nach dem Orgasmus

Es ist alles andere als leicht, die weibliche Lust durch eine Analyse subjektiver Empfindungen zu charakterisieren. Tatsächlich ist bis heute ungeklärt, warum es den Orgasmus denn gibt. Aus physiologischer Sicht lässt sich der Orgasmus als eine Reflexreaktion auf einen Reiz definieren, »ein bisschen wie Niesen«, sagt die Sexologin Roberta Rossi, die der weiblichen Sexualität im Jahr 2019 den Aufsatz »Vengo prima io« gewidmet hat. »Das Gehirn reagiert auf den Reiz, und die Reaktion ist das, was wir einen Orgasmus nennen.« Sicherlich hätten sich auch unsere Vorfahren voneinander angezogen gefühlt, was den Weg zur Paarung ebnete, sagt Rossi. »Aus evolutionärer Sicht könnte man die weibliche Lust als eine Art Einladung zur Penetration betrachten, die dann von einem so angenehmen Gefühl begleitet ist, dass die Vorstellung, sich zu paaren, attraktiver wird.« Allerdings ohne die Komplexität, die wir heute erleben.

Eine daran anknüpfende Theorie: Die Funktion des weiblichen Orgasmus besteht darin, die Befruchtung zu erleichtern. Auf das Wesentliche konzentriert, brauchen Männer einen Orgasmus demnach zur Ejakulation und Frauen für vaginale Kontraktionen, die den Spermien helfen, zum Ei aufzusteigen und es zu befruchten. Eine Studie an Mäusen und Kaninchen an der Abteilung für Kinderheilkunde der University of Cincinnati soll diese Hypothese stützen: Den US-Forschern zufolge sind es die mit dem Orgasmus einhergehenden Hormonspitzen, die die Freisetzung von Eiern durch die Eierstöcke auslösen.

Doch können solche Tierversuche ernsthaft dazu beitragen, die Komplexität der menschlichen Sexualität zu erklären? Schließlich ist nicht einmal klar, ob Nager überhaupt so etwas wie einen Orgasmus haben. Und ganz grundsätzlich lassen sich Erkenntnisse aus Tierstudien nicht einfach auf Menschen übertragen.

Orgasmen sind individuell und wandelbar

Fast ebenso schwer wie die Suche nach dem Grund fällt die Beschreibung. »Es gibt zwar ein paar feste Parameter, mit denen man den Orgasmus von Menschen und Tieren vergleichen kann«, sagt Rossi, »ein Wärmegefühl, eine verstärkte Lubrikation und unwillkürliche Kontraktionen der Muskeln, die die Vagina umgeben« zum Beispiel. Zugleich gibt es jedoch eine große Variabilität, wie Forschende seit Jahrzehnten wissen.

Der Biologe Alfred Kinsey hatte in den 1940er Jahren als erster Forscher überhaupt versucht, das Sexual­verhalten des Menschen im großen Stil sta­tistisch zu erfassen. Erste umfassende Labordaten zu sexuellen Reaktionen bei Männern und Frauen folgten dann von William Masters und Virginia Johnson, die sie unter anderem in ihrem bis heute bedeutenden Werk »Human Sexual Response« zusammenfassten. Das Team hatte in den 1950er und 1960er Jahren Paare zum Sex befragt und dabei beobachtet, Männer vor dem Masturbieren verkabelt und im Detail erforscht, wie beispielsweise Finger, Dildos oder Zungen Frauen stimulieren.

Masters und Johnson veröffentlichten daraufhin diverse Publikationen über vorgetäuschte Orgasmen von Frauen. Zudem berichteten sie, dass Frauen zu multiplen Orgasmen fähig sind, und analysierten den unterschiedlichen Charakter der Höhepunkte bei Mann und Frau.

Reaktionszyklen und Erregungskurven

Während des Sex verändert sich der Erregungszustand. Das Auf und Ab der Lust folgt dabei einem gewissen Muster, auch sexueller Reaktionszyklus genannt. Nach William Masters und Virginia Johnson lässt dieser sich in vier Phasen einteilen: Erregung, Plateau, Orgasmus, Rückbildung. Die Orgasmusphase ist dabei die kürzeste. Die Sexualtherapeutin Helen Singer Kaplan ergänzte dieses Modell später um eine Phase des sexuellen Verlangens. Diese ist dem sexuellen Reaktionszyklus vorangestellt.

Nun braucht es aber weder einen Orgasmus, um lustvollen Sex zu haben, noch muss ein solcher bei Frauen das Ende sein. Drei Erregungskurven sind im Wesentlichen möglich:

  1. Gipfel-Orgasmus: Die Frau kommt gezielt und rasch, der Orgasmus ist der klare Höhepunkt, der Körper kurz darauf wieder im Normalzustand.
  2. Anhaltende Erregung: Es kommt nie zum Orgasmus, stattdessen verweilt die Frau über einen längeren Zeitraum in der Plateauphase. Puls und Blutdruck sind erhöht, die Klitoris und Schamlippen angeschwollen und besonders empfindlich für Berührungen.
  3. Anhaltende Erregung mit mehreren Orgasmen: Einige Frauen können mehrfach kommen. Nicht jede ist dazu in der Lage, nicht jede findet das erstrebenswert, doch manche eben schon. Wer es versuchen möchte, sollte sich Zeit nehmen – bei Sex, der länger als eine Stunde dauert, ist es deutlich wahrscheinlicher, das Ziel zu erreichen. Sexspielzeug hilft Studien zufolge ebenfalls dabei.

(Autorin: Alina Schadwinkel)

»Bei Männern sind Ejakulation und Orgasmus in der Regel zwei sich überlagernde Phänomene, auch wenn sie sich unterscheiden«, sagt Rossi. Nur selten ejakulieren Männer, ohne zum Orgasmus gekommen zu sein. Die weibliche Lust gilt dahingehend als komplexer, es gibt unterschiedliche Erregungskurven – bei denen ein Orgasmus eben nicht der Höhepunkt sein muss.

Für die meisten Frauen ist der Orgasmus eine ganz individuelle Erfahrung. Für viele ist er ein mehr oder weniger intensives Vergnügen, einige schreien dabei, wieder andere verlieren das Gefühl für Zeit und Raum und sind in einer Art Trancezustand. Aus diesem Grund fragen sich manche Frauen, ob sie gerade einen Orgasmus hatten oder nicht, »wobei die Antwort dann wahrscheinlich ›Nein‹ ist«, sagt Rossi.

Die Faktoren der weiblichen Lust

Der weibliche Orgasmus hat seinen Ursprung im Gehirn. So kann er auch während eines Traums auftreten, ohne dass Geschlechtsverkehr oder gar körperlicher Kontakt nötig wäre. »Es kommt sehr auf das Setting an«, sagt Rossi. »Manchmal reicht als Auslöser der Druck eines engen Slips oder der Kontakt mit der Matratze. In vielen Fällen reicht auch allein die Fantasie.«

»Der Orgasmus hat eine belebende Wirkung, fördert die Durchblutung, versorgt das Gewebe mit Sauerstoff und verstärkt die Ausschüttung von Endorphinen«
Roberta Rossi, Sexologin

Selbst bei ein und derselben Frau sind nicht alle Orgasmen stets gleich, der eine kann explosiv sein, der nächste sanft. »Es hängt von der Gesundheit, dem Geisteszustand, Ermüdungs- oder Entspannungsgrad und der Situation ab, in der sie sich befindet«, sagt Rossi. Es gibt also interne und externe Kontextfaktoren, die die Orgasmuserfahrung beeinflussen, und selbst mit demselben Partner kann eine Frau ganz verschiedene Orgasmen erleben.

Eines aber haben alle gemein: Sie sind wohltuend. »Studien zeigen, dass der Orgasmus eine belebende Wirkung hat, die Durchblutung fördert, das Gewebe mit Sauerstoff versorgt und die Ausschüttung von Endorphinen verstärkt, was stimmungsaufhellend wirkt«, sagt Rossi.

Um Lust zu empfinden, hilft es, gelassen zu sein und dem eigenen Körper vertrauen zu können. »Wir bestehen halt nicht nur aus Hormonen und Nervenenden«, sagt Rossi, »deshalb sollten wir erkunden, was uns Freude bereitet.« Das ist sowohl für ältere Generationen, die mit einem gewissen Rollenbild groß geworden sind, als auch für die jüngeren Generationen wichtig, die wegen fehlender Sexualerziehung an Schulen und durch einen leichten Zugang zu Pornografie ein durchaus verzerrtes Bild von Sexualität entwickeln.

Wie kann ich kommen?

Sex hat weit mehr zu bieten als das Streben zum vermeintlichen Höhepunkt. Gleichzeitig ist ein Orgasmus ein besonderes Erlebnis und für viele daher erstrebenswert. Wer lernen möchte, seine Erregung besser zu kontrollieren und so häufiger oder intensiver zu kommen, kann einiges ausprobieren:

  • Was ist die Vulva? Wo liegt die Klitoris? Wo überall lassen sich Frauen mit Berührungen erregen? Wer diese Fragen beantworten kann, hat größere Chancen, zum Orgasmus zu kommen. Entsprechend ratsam ist es, sich mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen und dann klar zu kommunizieren, was gefällt und was nicht.
  • Wichtig ist es aber auch, sich mit dem Körper des jeweils anderen zu beschäftigen. Jede und jeder reagiert auf unterschiedliche Reize. Das, was gefällt, unterscheidet sich beispielsweises je nach Gemüt, Stresslevel oder Zeitpunkt des Zyklus.
  • Schon mal versucht, sich nicht erst um den einen und dann um den anderen zu kümmern – sich also gegenseitig zu verwöhnen? Sich aufeinander zu konzentrieren und dabei Zeit zu lassen, sind zwei Faktoren, die von Frauen, die Umfragen zufolge häufiger kommen, auffallend oft genannt wurden.
  • Dabei lässt sich manches erst bei der Selbstbefriedigung und dann gemeinsam ausprobieren. Man kann sich auf unterschiedliche Weise berühren – mit den Fingerkuppen streicheln, der Zungenspitze leicht kitzeln oder dem Penis drücken. Intensiv oder sanft. Die Klitorisspitze lässt sich kreisend streicheln, in die Brustwarzen zwicken.
  • Je mehr man sich dabei selbst spürt, desto klarer lässt sich sagen, was gefällt. Es gibt verschiedene Techniken, mit denen sich die Körperwahrnehmung schärfen lässt: Meditation, Achtsamkeit, Feldenkrais.
  • Helfen können auch Online-Tutorials. Zum Beispiel auf der Schweizer Seite Lilli – hier geht es vor allem um das Training des Beckenbodens. Oder OmgYes (kostenpflichtig) – hier können Frauen lernen, wie sich die Vulva stimulieren lässt und welche Penetration besonders angenehm ist – oder Self:Cervix, ebenfalls kostenpflichtig, bei dem der Fokus auf dem Gebärmutterhals, der Zervix, und den Brüsten liegt.

Wer sich Orgasmen wünscht, aber sie nicht erreichen kann – oder sich bei Berührungen arg unwohl fühlt, gar Schmerzen verspürt, könnte körperliche oder psychische Probleme haben, die Lust verhindern. Auch das soziale Umfeld kann einen Einfluss haben. Die Gründe zu hinterfragen, kann anstrengend sein. Nicht immer findet man allein die Lösung. Helfen können ein Arztbesuch, um bei wiederkehrenden Problemen den Körper checken zu lassen, oder eine Psycho- oder Sexualtherapie.

(Autorin: Alina Schadwinkel)

Gibt es einen vaginalen Orgasmus?

Doch nicht zuletzt deshalb, weil die weibliche Physiologie noch immer nicht ausreichend verstanden ist, fällt es schwer, Orgasmen zu ergründen. »Denken Sie nur daran, wie jung die Studien über die Klitoris sind«, sagt Rossi. Sie sei nach wie vor ein Mysterium, »obwohl sie das einzige Organ des weiblichen Körpers ist, das nur der Lust dient«.

Das Lustorgan der Frau ist weniger sichtbar als ihr männliches Gegenstück. Die Klitoris ist nämlich weit mehr als die von außen sichtbare Perle, auch Kitzler genannt. Sie besteht aus empfindlichen Schwellkörpern und Nerven, die unter der Oberfläche der Vulva liegen.

Entsprechend schwieriger ist es, sich mit dem Lustorgan vertraut zu machen. »Die Klitoris existiert nicht, bis diejenigen, die eine haben, entdecken, dass es sich gut anfühlt, sie zu berühren«, sagt Rossi. Erst seit wenigen Jahren erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren inneren, verborgenen Teil und ihre Ähnlichkeiten mit männlichen Genitalien – etwa das Vorhandensein von Schwellkörpern – und ihre Verbindung zur Vagina.

Warum Frauen Orgasmen vortäuschen

Nicht selten täuschen Frauen bloß vor, zu kommen. Statistiken zufolge ist das in fast jeder zweiten heterosexuellen Beziehung der Fall. Menschen verstellen sich aus verschiedenen Gründen: um sich nicht als andersartig zu empfinden, um es schnell hinter sich zu bringen, etwa weil sie Schmerzen haben, um ihren Partner nicht zu enttäuschen. Einige Frauen sehen darin tatsächlich die Möglichkeit, ihrem Partner gegenüber Zuneigung und Intimität zu zeigen, wie aus einer kleinen Studie an der University of Connecticut hervorgeht.

Darüber hinaus gibt es diejenigen, die überzeugt sind, Lust vorzutäuschen verhelfe zu mehr Vergnügen. Ein Gedanke, der unter anderem von einer Studie an der University of Texas gestützt wird. »Früher dachte man, dass ein vorgetäuschter Orgasmus schlecht für die Beziehung sei, aber vielleicht wurde übersehen, dass Frauen, die sich dafür entscheiden, sich durch das Vortäuschen eines Orgasmus wohler fühlen können«, sagt Studienleiter Michael Barnett. Ganz zu schweigen davon, dass allein schweres Atmen und Stöhnen – Zeichen dafür, dass ein Höhepunkt nah ist – dazu beitragen kann, innere Blockaden so weit zu überwinden, dass der Orgasmus unvermeidlich wird. (asw)

Es habe immer eine Reihe von Tabus gegeben, die die Forschung gebremst haben. »Außerdem werden anatomische Studien weitgehend an Leichen durchgeführt«, sagt Rossi. »Das macht es schwer, Mechanismen der weiblichen Lust zu verstehen.« Man denke etwa an die Verwirrung um den so genannten G-Punkt. Erst in jüngster Zeit hat man erkannt, dass es sich dabei nicht um einen Punkt, sondern um einen Bereich handelt, die so genannte CUV-Zone, in der ein Teil der inneren Klitoris und ein Teil der Harnröhre sowie die Oberfläche der Innenwand der Vagina aufeinandertreffen.

Um auf den Orgasmus zurückzukommen: Der von der Sexualtherapeutin Helen Singer Kaplan in den 1970er Jahren beschriebene Reiz-Reaktions-Mechanismus ist immer noch gültig. »Auf den Reiz an der Klitoris folgt die motorische Reaktion, das heißt die Kontraktionen der Vagina«, sagt Rossi. Bei der Penetration werde die Klitoris aber zusätzlich stimuliert. Dabei kämen auch weitere Bereiche ins Spiel, wie der Beckenboden, der, wenn er zu stark angespannt ist, die Wahrnehmung von Kontraktionen verhindert. Mit anderen Worten: Es gibt keinen klitoralen und keinen vaginalen Orgasmus, »es gibt bloß eine Art von Orgasmus, der durch direkte oder indirekte Stimulation der Klitoris erzeugt wird«.

Das ist jedoch eine Botschaft, die nur schwer durchdringt: Noch immer ist der Glaube weit verbreitet, ein »echter« Orgasmus müsste stets mit Penetration verbunden sein. »Das führt leider dazu, dass Schwierigkeiten, ohne klitorale Stimulation zum Orgasmus zu kommen, als pathologisch empfunden werden«, sagt Rossi. Dabei sei das völlig normal.

Heterosexuelle Frauen kommen seltener als homosexuelle

Die Tatsache, dass heute offener über weibliche Sexualität gesprochen wird als früher, macht es leichter, sich Inspiration und Hilfe zu suchen. Dieselbe Freiheit birgt aber paradoxerweise die Gefahr, dass Frauen, die keine Lust empfinden oder keinen Orgasmus erleben können, als andersartig und dafür verantwortlich gelten.

Dabei ist es normal, mal keine Lust auf Sex zu haben oder nicht zu kommen. Eine Studie, die 2018 von Forschenden der Universität Valparaíso durchgeführt wurde, zeigt, dass Frauen, die beim Geschlechtsverkehr Schwierigkeiten haben, einen Orgasmus zu haben, das Problem eher auf ihre eigene Unzulänglichkeit schieben denn auf die Umstände oder die Unerfahrenheit ihres Partners. Dabei sind die letzten beiden Punkte nicht zu unterschätzen.

Vor allem, wenn Frauen Sex mit Männern haben, sind Orgasmen für viele die Ausnahme. Sie kämen nie oder nur selten beim Geschlechtsverkehr, sagte jede fünfte bis sechste heterosexuelle Frau in einer Umfrage aus dem Jahr 2018. Zum Vergleich: Nur jeder 25. heterosexuelle Mann berichtete dasselbe.

»Es hängt von der Art und Dauer der Stimulation ab«
Roberta Rossi

Lesbische Frauen wiederum kommen beim Sex doppelt so oft immer zum Orgasmus wie heterosexuelle und dreimal weniger nie oder selten. Auch das geht aus der Umfrage hervor. Dies lässt darauf schließen, dass weniger biologische Unterschiede für die Orgasmuslücke zwischen Frauen und Männern sorgen als vielmehr mangelnde Skills. Oder, wie Rossi sagt: »Bei der Autoerotik gibt es keinen Unterschied zwischen hetero- und homosexuellen Frauen, was klar zeigt, dass es von der Art und Dauer der Stimulation abhängt.«

Und nicht selten von der Frage, wen es zuerst zu befriedigen gilt. So manche Frauen sind nämlich aus kulturell-historischen Gründen sowie in einer von Pornos geprägten Gesellschaft der Ansicht, es gelte zunächst den Partner zufrieden zu stellen. Weitere empfinden den Orgasmus des anderen wichtiger als ihren eigenen.

Was, wenn es nicht klappt?

Aus dem DSM-5 ist Nicht-kommen-Können – in der Fachsprache die koitale Anorgasmie – von der Krankheitsliste gestrichen worden. Doch wenn es öfter nicht so läuft wie gewünscht, kann das körperliche oder psychische Ursachen haben. Das gilt sowohl für die Lust allgemein als auch für Orgasmen im Speziellen.

»Es gibt Frauen, die sich vor starken Gefühlen fürchten und sich nicht trauen, sich fallen zu lassen«, erklärt Rossi. Solche Frauen würden sich zwar oft als lustvoll beschreiben, kämen mit ihrer Lust beim Sex jedoch nicht weiter, auch dann nicht, wenn sie allein sind. Zu Grunde lägen häufig Schwierigkeiten, anderen oder sogar sich selbst zu vertrauen. Das kann auf eine rigide Erziehung zurückzuführen sein, die das Konzept des Vergnügens beim Sex ablehnt oder die Misstrauen fördert – »Männer sind Schurken«, »Man darf niemandem vertrauen«. Manchmal sind es aber auch Gewalt oder Belästigungen – früher oder in der Gegenwart erlebt –, die nicht nur Erregung verhindern, sondern jegliche Lust auf Sex nehmen.

Mögliche Ursachen für Orgasmusprobleme

Nicht zum Orgasmus kommen zu können, auch Anorgasmie genannt, kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen körperliche, also physische. Krankheiten wie Diabetes, Traumata oder neurodegenerative Erkrankungen wie multiple Sklerose können sich auf die Erregungsfähigkeit auswirken. Auch Medikamente wie Antidepressiva oder chirurgische Eingriffe zur Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken beeinflussen, ob und wie eine Frau kommt. Ebenso eine beängstigende oder schmerzhafte Geburt.

Zum anderen gibt es psychologische Ursachen. In Stresssituationen fällt es vielen oft schwerer, zu kommen, als wenn sie entspannt sind. Auch die Sorge, der Partner oder die Partnerin könne einen verlassen, wenn das mit der Lust nicht bald besser wird, kann hemmen. Menschen, die in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben – sich etwa zu viel Druck ausgesetzt fühlten oder anderen zuliebe Dinge getan haben, die sie selbst gar nicht so mögen –, kann es ebenfalls schwerfallen, Sex zu genießen und erregt zu sein. Erst recht, wenn jemand Gewalt ausgesetzt war oder ist.

Nur wenn man beim Sex in seinem Wohlfühlbereich bleibt, kann er Freude machen. Daher ist es wichtig, die eigenen Grenzen herauszufinden und zu benennen.

(Autorin: Alina Schadwinkel)

Wie fühlt Sex sich für Sie gut an?

Frauen empfinden die Schwierigkeit, zum Orgasmus zu kommen, oft als Mangel. Daher sei es wichtig, ihnen den Leistungsdruck zu nehmen, sagt Rossi. Er sei es, der das Gefühl der Unzulänglichkeit hervorruft und so das Vergnügen zu beeinträchtigen droht.

Auch wenn Frauen im Gegensatz zu Männern multiple Orgasmen haben können, haben sie nicht unbedingt das Bedürfnis danach. Dasselbe gilt für den gleichzeitigen Orgasmus, »der oft als wichtiges Ziel dargestellt wird, was Stress erzeugen kann, aber nicht unbedingt mehr Lust hervorruft«, sagt Rossi. Oder für die weibliche Ejakulation, oft auch Squirting oder Gushing genannt. Dabei handelt es sich um verschiedene Dinge: »Bei der weiblichen Ejakulation wird eine dicke Flüssigkeit von den Skene-Drüsen abgesondert, der weiblichen Version der Prostata«, erklärt Rossi. Allerdings hat nach jetziger Erkenntnis nicht jede Frau solch eine Drüse, weshalb auch nicht jede auf diese Weise spritzen könnte.

Squirting wiederum meint, dass eine oftmals geruchlose, klare Flüssigkeit in größeren Mengen aus der Blase austritt. Außerdem kann durch den Orgasmus mehr Feuchtigkeit nach außen gepresst und sichtbar werden. All das kann vorkommen, muss aber nicht. Und ist damit »nicht unbedingt notwendig für ein gutes sexuelles Erlebnis«, wie auch Rossi sagt.

Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Ein befriedigendes Sexleben braucht Zeit. Es ist daher ratsam, die Reise zu genießen, ohne an das Ziel zu denken. Und so zu reisen, wie es für einen selbst am schönsten ist.

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