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News: Weibliche Systemverweigerer

Seit Linnés Zeiten versuchen die Systematiker, alle Lebewesen in ihre passende Schublade zu stecken. Immer wieder tauchen jedoch neue Pflanzen und Tiere auf, welche die mühsam aufgebaute Klassifikation wieder zunichte machen. Dänische Wissenschaftler fanden jetzt ein kleines Tier, das nicht nur eine neue Art, sondern gleich eine neue Klasse begründet.
Carl von Linné räumte auf: Er teilte die chaotische Vielfalt des Lebens in zwei Reiche auf – Pflanzen und Tiere – und untergliederte diese in weitere Kategorien wie Stamm, Klasse, Ordnung, Familie und Gattung bis hinunter zur Art. Seit Darwin versuchen die Wissenschaftler ein natürliches System aufzubauen, also eines, das die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse widerspiegelt. Da die Forschung jedoch ständig weitergeht – man denke nur an Molekularbiologie und Genetik – wird dieses System zum Leidwesen aller Biologiestudenten immer wieder umgestoßen. Ab und zu entdecken Forscher auch neue Arten, die sich beharrlich weigern, in das bestehende System eingegliedert zu werden.

In kaltem Quellwasser von Grönland wurden jetzt die beiden Zoologen Reinhardt Kristensen von der University of Copenhagen und Peter Funch von der University of Aarhus fündig. Sie entdeckten hier ein bisher unbekanntes, nur einen zehntel Millimeter kleines Tierchen, dem sie den Namen Limnognathia maerski gaben. Die neue Art ließ sich zunächst nicht einordnen. Verschiedene morphologische Merkmale, insbesondere der kompliziert gebaute Kiefer, deuteten auf die Zugehörigkeit des Tieres zu dem kleinen Stamm der Gnathostomulida, zu deutsch Kiefermünder. Weitere Eigenschaften wie das Nierensystem ließen die Wissenschaftler jedoch vermuten, dass es sich um ein Rädertier handelt. Die Klasse der Rädertiere oder Rotatoria, mikroskopisch kleine Süßwasserbewohner, pflegten die Systematiker bisher zu den Nemathelminthes (Rundwürmer) zu stellen. Zu diesem Stamm gehören so angenehme Zeitgenossen wie der Spulwurm des Menschen und andere Parasiten.

Die Wissenschaftler machten aus ihrer Not eine Tugend und begründeten mit Limnognathia gleich eine neue Klasse mit dem Namen Micrognathozoa ("Kleinkiefertiere") (Journal of Morphology vom 30. Oktober 2000, Abstract). Doch wohin gehört die neue Klasse? Bereits 1995 tauchte der Vorschlag auf, die Rotatoria aus dem Stamm der Nemathelminthes auszugliedern und zusammen mit den Gnathostomulida zu einem neuen Stamm namens Gnathifera ("Kieferträger") zu vereinen. Die neue Klasse Micrognathozoa passt laut Kristensen und Funch genau in diesen neuen Stamm hinein.

Unabhängig von seinen systematischen Umsturzversuchen hat das kleine Tierchen aber noch mehr Überraschungen parat. So fanden die Wissenschaftler trotz intensiver Suche keine Männchen. Sie vermuten daher, dass es nur Weibchen von Limnognathia gibt, die sich parthenogenetisch fortpflanzen. Diese Form der eingeschlechtlichen Fortpflanzung ist zwar aus anderen Gruppen, wie beispielsweise den Rotatorien, bekannt, tritt jedoch normalerweise im Wechsel zur geschlechtlichen Fortpflanzung auf. Ob Limnognathia wirklich ganz ohne Männer auskommt, wollen die beiden Wissenschaftler jetzt im Labor testen. Eine kleine Kolonie wartet dafür schon im Kühlschrank.

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