Trauma: »Alle schweren Erkrankungen können zu einer PTBS führen«
Bei einem kleinen Teil der Covid-19-Infizierten ist die Erkrankung lebensbedrohlich und sie müssen intensivmedizinisch behandelt werden. Viele der Überlebenden werden noch monatelang mit den körperlichen Folgen von Covid-19 zu kämpfen haben. Die traumatische Erfahrung kann aber auch Spuren in der Psyche hinterlassen, wie die Psychologin Jenny Rosendahl vom Universitätsklinikum Jena berichtet.
»Spektrum.de«: Frau Rosendahl, es ist bestimmt sehr belastend, wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt oder sogar beatmet werden zu müssen. Kann das zu einer PTBS, einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen?
Jenny Rosendahl: Ja. Grundsätzlich können alle schweren Erkrankungen und deren Behandlung zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen. Man spricht auch von einer medizinischen Traumatisierung.
Gibt es denn schon konkrete Zahlen dazu, wie häufig das unter Covid-19-Patienten auftritt?
Erste Studien dazu stammen vor allem aus dem asiatischen Raum, der uns da zeitlich voraus ist. Zusätzlich haben Forscher auch Studienergebnisse aus vorherigen Epidemien wie Sars oder Mers herangezogen. Eine systematische Auswertung von Juli 2020 hat ergeben, dass etwa ein Drittel aller an Sars-CoV-2 Erkrankten unter posttraumatischen Stresssymptomen leiden.
Sind das ähnlich viele wie bei anderen schweren Erkrankungen, zum Beispiel nach einem Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung?
Ja, bei vielen Erkrankungen bewegen sich die Zahlen in diesem Bereich. Laut größeren Metastudien zeigen etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Patienten Symptome einer medizinischen Traumatisierung. Bei Krebserkrankungen ist die Häufigkeit etwas geringer, weil sie in vielen Fällen nicht so plötzlich und akut das Leben bedrohen wie zum Beispiel ein Herzinfarkt. Da spielen meist eher Ängste eine Rolle, etwa davor, dass der Krebs wiederkommt, oder auch Depressionen.
Wovon hängt es ab, ob man ein Trauma bekommt?
Ein wesentliches Kriterium ist, dass die Krankheit mit einer akuten, lebensbedrohlichen Situation einhergeht. Auch durch die Behandlung können sich Stressoren ergeben, die ihren Teil dazu beitragen.
Beispielsweise eine künstliche Beatmung?
Genau. Es ist bekannt, dass Menschen nach intensivmedizinischer Behandlung ein Trauma erleiden können. Eine Metastudie von 2019 kam zu dem Ergebnis, dass etwa jeder fünfte Patient, der auf einer Intensivstation behandelt wurde, an klinisch relevanten PTBS-Symptomen leidet. Oft ist es also nicht die Grunderkrankung per se, sondern der Kontext, der zu einer Traumatisierung führt. Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gibt es einige Faktoren, die das Risiko dafür erhöhen können.
Welche zum Beispiel?
Die Erkrankten dürfen auf Grund der hohen Ansteckungsgefahr keinen Besuch empfangen und werden von ihren Bekannten und Verwandten isoliert. Die aufwändige Schutzausrüstung des medizinischen Personals verdeutlicht permanent die Gefährlichkeit der Situation. Hinzu kommt eine kollektive Angst in der Gesellschaft: Die Menschen fürchten, sich mit einem tödlichen Virus anzustecken. Das erhöht die Anfälligkeit, sowohl physisch als auch psychisch krank zu werden.
Woran erkennt man eine PTBS?
Zu den klassischen Symptomen zählt das Wiedererleben der traumatischen Situation. Das kann sich in so genannten Flashbacks äußern oder in sich spontan aufdrängenden, unkontrollierbaren Gedanken. Viele Betroffene leiden unter Albträumen, sind ungewöhnlich schreckhaft und wie in einem permanenten Alarmzustand. Sie reagieren auf alles, was sie mit der traumatischen Situation verbinden. Etwa das Geräusch eines Hubschraubers, weil es sie an den Transport ins Krankenhaus erinnert. Oder den Geruch von Desinfektionsmittel, den sie mit ihrem Aufenthalt auf der Intensivstation assoziieren. Vermeidungsverhalten ist ebenfalls typisch. Oft hält auch eine allgemeine negative Stimmung an. Die Gedanken kreisen um Fragen wie: Warum konnte ich das nicht verhindern? Gefühle von Schuld und Scham spielen häufig eine große Rolle.
Ist das so ähnlich, wie wenn man einen Unfall hatte oder Opfer eines Verbrechens wurde?
Ja, die Symptome der PTBS sind unabhängig von der Art des Traumas. Nur die Inhalte, etwa der Albträume oder Erinnerungen, sind andere.
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Wie lange nach dem konkreten Ereignis tritt eine PTBS üblicherweise auf?
Ein Teil der Patienten zeigt schon im Krankenhaus Symptome. Mit der Rückkehr nach Hause in die gewohnte, sichere Umgebung klingen diese häufig ab. Bei manchen treten sie aber erst verzögert auf. Im Krankenhaus war noch alles okay. Wenn sie dann wieder zu Hause sind, die körperliche Genesung womöglich nicht so schnell voranschreitet und die Erinnerungen wiederkommen, wird es schlimmer. Eine dritte Gruppe, zum Glück sehr wenige Patienten, sind konstant sehr stark psychisch belastet.
»Oft reagiert das Umfeld mit wenig Verständnis, nach dem Motto: Du hast es doch überstanden, warum geht es dir denn immer noch nicht besser?«
Welche davon zählen dann zu dem Drittel bis Fünftel, das Sie vorhin genannt haben?
Alle, die ich eben aufgezählt habe. Meist werden die Patienten aber erst nach einem gewissen Zeitraum befragt oder untersucht, typischerweise nach sechs Monaten. Das heißt: Die, die sich schon wieder erholt haben, tauchen in manchen Studien gar nicht mehr auf.
Wie viel Zeit sollte man sich geben? Gibt es eine »typische« Regenerationszeit nach schweren Krankheiten?
Nein. So individuell verschieden, wie Menschen sind, können auch die Reaktionen und Verläufe sein. Außerdem muss man zwischen der psychischen Symptomatik und der körperlichen Regeneration unterscheiden – das sind zwei verschiedene Dinge, obwohl sie oftmals miteinander einhergehen. Gerade was Covid-19 betrifft, scheint es Fallberichten zufolge eine Art Post-Covid-Syndrom zu geben, das körperliche und psychische Komponenten hat. Es kann sogar bei Patienten auftreten, die gar nicht so schwer erkrankt waren. Aber gerade unter denen, die intensivmedizinisch behandelt werden mussten, hat ein erheblicher Teil danach noch mit psychischen Symptomen zu kämpfen. Wie lange man braucht, um sich davon zu erholen, ist bisher wenig untersucht. Es hängt sicherlich von den Voraussetzungen ab, etwa Alter und Vorerkrankungen.
Wie findet man nach einer solchen Belastung wieder ins Leben zurück?
Das ist eine große Herausforderung und kann sehr lange dauern. Erst einmal muss die Symptomatik überhaupt erkannt werden. Oft reagiert das Umfeld mit wenig Verständnis, nach dem Motto: »Du hast es doch überstanden, warum geht es dir denn immer noch nicht besser? Es muss doch langsam mal aufwärtsgehen.« Viele verstehen nicht, dass es abseits der körperlichen auch eine psychische Belastung geben kann, wie Schlafstörungen, Erschöpfung oder Konzentrationsschwierigkeiten. Das ist immer ein Signal, dass etwas nicht stimmt. Das sollte man abklären lassen.
Wo?
Der Hausarzt ist sicherlich ein guter Ansprechpartner, er sollte darüber Bescheid wissen. Dass Krankheiten und medizinische Behandlungen eine Traumatisierung hervorrufen können, ist mittlerweile unter Ärzten und Therapeuten etwas bekannter. Leider sind psychische Erkrankungen in vielen Bereichen der Gesellschaft noch immer mit Stigmatisierung verbunden. Übrigens: Eine PTBS ist zwar eine häufige Traumafolge, es gibt aber auch andere, zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen.
Dass lebensbedrohliche Erlebnisse die Psyche belasten, ist ja zu einem gewissen Grad normal. Wann braucht man Hilfe?
Dass man unmittelbar danach Angst hat oder gewisse Dinge in Frage stellt, gehört zum normalen Verarbeitungsprozess. Wenn aber ein erheblicher Leidensdruck besteht, der längere Zeit anhält und die Lebensführung beeinträchtigt, ist das nicht mehr normal.
Was bedeutet längere Zeit?
Nach den Diagnosekriterien gilt: wenn die Symptome länger als einen Monat anhalten.
Was sollte man dann tun?
Auf jeden Fall therapeutische Hilfe suchen. Eine klassische Psychotherapie kann stationär oder ambulant erfolgen. Es gibt außerdem spezielle Traumatherapien. Wir selbst arbeiten an einer Online-Schreibtherapie. Die wurde ursprünglich für Sepsis-Überlebende konzipiert, wir wollen sie aber auf Covid-19-Patienten übertragen.
Wie funktioniert das?
Der Patient soll über die traumatischen Inhalte schreiben und sie dadurch verarbeiten. Ein Psychotherapeut liest das und gibt dem Patienten Rückmeldung. Der Vorteil: Die Methode ist barrierefrei, zeit- und ortsunabhängig. Wenn man körperlich eingeschränkt ist, kleine Kinder hat oder auf dem Land lebt, hat man vielleicht nicht die Möglichkeit, regelmäßig zu einem Psycho- oder Traumatherapeuten zu gehen. Die Menschen, die im Rahmen unserer Forschungsprojekte bisher an solchen Schreibtherapien teilgenommen haben – zum Beispiel Sepsis-Patienten, Gewaltopfer oder traumatisierte Flüchtlinge –, haben die Methode als sehr hilfreich erlebt.
Anlaufstellen für Betroffene
- Das Deutsche Institut für Psychotraumatologie (DIPT) in Köln hilft telefonisch bei der Suche nach einer Fachklinik oder einer ambulanten Psychotherapie. Auf der Homepage gibt es eine nach Postleitzahl sortierte Liste von Fachleuten mit Zusatzqualifikation in Psychotraumatologie.
- Der Verband Pro Psychotherapie listet, sortiert nach Orten, mehr als 2600 Fachleute auf, die eine Traumatherapie anbieten.
- Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) bietet eine Suche nach Traumakategorie und Therapieverfahren an.
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