Nahostkonflikt: Forschen zwischen den Fronten
Es ist drei Uhr morgens, als dem israelischen Molekularbiologen Eldad Tzahor dämmert, dass sich so die Schockwelle eines sehr nahen Raketeneinschlags anfühlt. Der 60-Jährige sitzt mit seinen zwei Enkelkindern in einem schützenden Bunker, rund 400 Meter von seinem Forschungslabor entfernt, als er ein Foto geschickt bekommt: Das Institut, in dem er seit zwei Jahrzehnten untersucht, wie Herzzellen wiederhergestellt und somit Menschenleben gerettet werden können, ist zerstört. Von iranischen Raketen getroffen und in Flammen aufgegangen. »Ich glaube, wir haben kein Labor mehr«, schreibt Tzahor in dieser Nacht über Whatsapp seiner Forschungsgruppe.
Seit zwei Jahren zwingt Israels Konflikt mit der palästinensischen Hamas im Gazastreifen die Welt in zwei Lager: Die einen sind überzeugt, dass Israel nach dem brutalen Überfall durch die radikalislamische Miliz am 7. Oktober 2023 keine andere Wahl hat, als die Terroristen auszulöschen – und damit Opfer in der palästinensischen Zivilbevölkerung hinnehmen muss. Die anderen sprechen von Völkermord – oder glauben, dass Israels Regierung die Situation ausnutzt, um den nationalistischen Traum von Großisrael zu verwirklichen. Das mag der Grund dafür sein, dass der vom iranischen Militär ausgehende Raketenangriff auf das renommierte und international angesehene Weizmann-Institut in Rehovot öffentlich kaum diskutiert wurde.
Hinzu kommt: Es handelte sich dabei um einen Gegenschlag. Nur drei Tage zuvor hatte Israel seinerseits iranische Atomanlagen angegriffen und am Atomprogramm beteiligte Wissenschaftler sogar gezielt getötet. Eines der wenigen Urteile zu dem Vorfall stammt vom Präsidenten des Weizmann-Instituts selbst. In der Zeitschrift »Nature« schreibt der Neurowissenschaftler Alon Chen: »Wir werten es als gezielten Angriff auf die israelische Wissenschaft und die globale wissenschaftliche Gemeinschaft, deren Erkenntnisse der Menschheit zugutekommen.« Wie aber geht es den dort forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern damit?
Als am frühen Morgen des 15. Juni 2025 zwei Raketen auf dem Gelände des Instituts in Rehovot bei Tel Aviv einschlagen, wird glücklicherweise niemand verletzt. Es grenzt an ein Wunder, denn die meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wie auch die Studierenden wohnen auf dem Campus. Direkt getroffen wird ein Gebäude der Biowissenschaften, in dem sich auch das Zentrum für Krebsforschung befindet. Die Druckwellen der beiden Sprengkörper beschädigen insgesamt 112 der rund 250 Institutsgebäude, etwa die Hälfte davon sind Labore. Fünf Gebäude müssen komplett abgerissen werden, 52 Forschungsgruppen sind unmittelbar betroffen. Der materielle Schaden wird auf eine halbe Milliarde Euro geschätzt. Nicht in Geld bemessen lässt sich der Verlust von tausenden organischen Präparaten aus der biowissenschaftlichen Grundlagenforschung.
In Israel hat jedes Museum für den Kriegsfall ein Protokoll, wie bei Raketenangriffen vorzugehen ist. So wurden im Tel Aviv Museum of Art die wichtigsten Kunstwerke schon nach dem Hamas-Überfall in ein sicheres Depot gebracht. Das Notfallprotokoll des Weizmann-Instituts jedoch bezieht sich nur auf Gefahrenstoffe. Noch in der Nacht des Raketeneinschlags wagen sich viele Forscher und Forscherinnen in die Trümmer und versuchen, Proben und Präparate aus den Kühlschränken zu retten. Einige davon enthalten die Arbeit von Jahrzehnten.
Wissenschaft in Krieg und Katastrophen
In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, wie Kriege und Konflikte mühsam erarbeitetes Wissen auslöschen. Eines der bekanntesten Ereignisse ist die Zerstörung der antiken Bibliothek von Alexandria – auch wenn heute vermutet wird, dass die Schriften nicht im römischen Feuer aufgingen, sondern schlicht aufgrund von Budget-Problemen nicht mehr gepflegt wurden. Die Überreste fielen dann möglicherweise frühen Christen zum Opfer, denen das »heidnische« Kulturgut ein Dorn im Auge war. Weitere Beispiele: Rund um den Globus waren immer wieder indigene Kulturen Zielscheibe kolonialistischer Plünderungen. Im Zweiten Weltkrieg gingen in Europa Dutzende Archive, Bibliotheken und Museen in Flammen auf.
Das Weizmann-Institut ist mehr als nur ein Symbol für die technologische Entwicklung des Landes: Es steht für die Hoffnungen, die das jüdische Volk nach Ende der Schoah in einen unabhängigen Staat setzte
Man muss aber gar nicht weit zurückblicken: Bis heute ist ungeklärt, wer für den Brandanschlag auf die Nationalbibliothek in Bagdad während des Irakkriegs 2003 verantwortlich war. In Syrien wurden seit 2011 nicht nur antike Stätten zerstört, sondern ebenfalls Bibliotheken und Archive. Und auch im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gerät die Wissenschaft immer wieder ins Visier. Die Folgen reichen weit über nationale Grenzen hinaus: Deutsche Forschungseinrichtungen haben ihre Zusammenarbeit mit Russland bis auf Weiteres ausgesetzt, laufende Kooperationsprojekte wurden eingefroren, russische Wissenschaftler mussten Deutschland verlassen.
Dass Menschen gerade der Verlust von Wissen als Kulturgut tief berührt, zeigte der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar vor gut 20 Jahren. Tagelang regnete es verkohlte Buchseiten über der thüringischen Stadt. Zwar hatte kein Krieg das Feuer ausgelöst, sondern ein banaler Kabelbrand. Doch an der Rettung der Bücher beteiligte sich damals eine lange Menschenkette aus Bürgerinnen und Bürgern. Ein speziell entwickeltes Restaurationsverfahren, mit dem 25 000 Aschebücher wieder lesbar gemacht werden sollen, setzt seitdem international Maßstäbe. Der Umgang mit der Katastrophe gilt als beispielhaft: In Weimar wird das Feuer bewusst nicht aus der Geschichte getilgt, sondern soll als Wegweiser dienen für den künftigen Erhalt von Kultur und Wissen.
In Rehovot verbrannten keine jahrhundertealten Schriften. Doch wenn man sich die Geschichte des verhältnismäßig jungen israelischen Staats anguckt, ist das Institut mehr als nur ein Symbol für die technologische Entwicklung des Landes: Das Weizmann-Institut steht für die Hoffnungen, die das jüdische Volk nach Ende der Schoah in einen unabhängigen Staat setzte. Und es sollte immer auch ein Ort der Zuflucht sein, für die in Europa verfolgten und von dort geflohenen Forscher. Es wurde 1934 vom Biochemiker Chaim Weizmann aufgebaut, lange vor der Gründung des Staats Israel am 14. Mai 1948. In Wissenschaftskreisen gilt Weizmann als Entdecker des industriellen Gärungsverfahrens zur Herstellung von Azeton. Darüber hinaus aber wurde er als der Mann bekannt, der 1917 die Briten davon überzeugte, auf dem Gebiet des historischen Palästinas eine nationale Heimstatt für Jüdinnen und Juden zu errichten. Weizmann wurde schließlich Israels erster Staatspräsident. Für sein Institut hatte er schon zuvor eine klare Vision: »Ich bin überzeugt, dass die Wissenschaft diesem Land Frieden bringen und hier die Quellen eines neuen geistigen und materiellen Lebens schaffen wird.«
Dass Erkenntnisse aus den Forschungstätigkeiten des Instituts, zumindest indirekt, im aktuellen Krieg eingesetzt werden könnten, machte es aus iranischer Sicht zu einem strategischen Ziel. Ein heikles Thema, besonders jetzt. Vor Ort jedoch weist man den Verdacht von sich, dass unter dem Deckmantel der Grundlagenforschung Militärprojekte vorangetrieben würden.
Immerhin in einem sollte Chaim Weizmann Recht behalten: Israel mit seinen Einwanderern aus aller Welt wurde im Lauf der Jahrzehnte zur angesehenen Forschungsnation. Allein das nach ihm benannte Institut brachte bislang sechs Nobelpreisträger hervor. Hier wurden wichtige Medikamente für die Behandlung von Krebs und Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose entwickelt. International bekannte Diagnosemethoden wie die Amniozentese, bei der Fruchtwasser entnommen wird, um das ungeborene Kind auf genetische Erkrankungen zu testen, stammen aus Rehovot. Dass sich das Institut trotz aller Kriege und Konflikte im Nahen Osten den Ruf wahren konnte, ein Hort der freien Wissenschaft zu sein, liegt auch an seiner herausragenden finanziellen Ausstattung. Ein großer Teil des Budgets stammt von jüdischen Philanthropen und Gönnerinnen. Zudem sind die Forscherinnen und Forscher dafür bekannt, jedes Jahr eine hohe Zahl an internationalen Förderungen und Stipendien abzuräumen. Rund 100 Millionen Dollar sollen den laufenden Projekten damit jährlich zur Verfügung stehen. Einige der nun zerstörten Labore wurden mithilfe der begehrten Stipendien des Europäischen Forschungsrats ausgestattet.
Ein Schlaraffenland für Forscher
Inzwischen liegt der große Knall zwar etliche Wochen zurück, doch die zerfetzte Fassade des neuen Chemiegebäudes versteckt sich noch immer hinter einem Bauzaun. Eigentlich sollte es im Winter 2025 eingeweiht werden. Die evakuierten Forscher aus den anderen Gebäuden haben fürs Erste in Abstellkammern oder den Laboren und Büros von Kolleginnen und Kollegen Unterschlupf gefunden. So auch Tamar Geiger. Die Biochemikerin sitzt auf einer Parkbank vor ihrem alten Institut. »Alle haben sich ins Zeug gelegt, schnell wieder so etwas wie Normalität zu schaffen«, sagt sie.
»Bis zum Iran-Angriff war das Institut für uns als Familie eine heile Welt. Hier konnten wir die Kinder abschirmen«Tamar Geiger, Biochemikerin
Abgesehen von den sichtbaren Spuren des Angriffs wirkt es friedlich auf dem Campus. Vögel zwitschern in den Ficus-Kronen. Forschende spazieren herum oder plaudern beim Kaffee. Einen »Kibbuz« nennen die Leute das Gelände, weil das Leben und Arbeiten sich anfühlt wie in Israels ländlichen Kollektivsiedlungen. Während die Kinder auf dem Spielplatz toben, diskutieren ihre Eltern Versuchsanordnungen. Sind die Kinder größer, besuchen sie die institutseigene Schule. »Bis zum Iran-Angriff war das Institut für uns als Familie eine heile Welt. Hier konnten wir die Kinder abschirmen.« Als sie nach dem Hamas-Angriff und den Raketen aus Gaza einige Wochen im Bunker übernachten mussten, habe sich das für die Kinder fast wie eine Pyjama-Party angefühlt. »Das ist das Besondere am Institut. Alle streben nach Exzellenz. Aber man kümmert sich auch menschlich umeinander.«
Geiger zeigt in den Himmel. Die immer noch futuristisch wirkende Kuppel des alten Koffler-Teilchenbeschleunigers aus den 1970er Jahren ist von weither sichtbar. »Hätten sie mal die getroffen.« Das Wahrzeichen des Instituts dient längst nur noch als skurriler Partyraum. Es hat nicht einen Kratzer abbekommen.
Ihre Postdoc-Zeit hat die Biochemikerin am Max-Planck-Institut in München verbracht. Dort wurde sie zur Expertin für Massenspektrometrie. In Israel analysiert sie mit der Methode Tumorproben, die ihr Kliniken zur Verfügung stellen. »Die Proteine sind die aktiven Einheiten. Wir glauben, dass sie uns verraten, wie sich die Krebszellen verhalten.« Basierend auf ihren Studien entwickelt ein Start-up in Jerusalem gerade einen Biomarker-Test, mit dem sich voraussagen lassen soll, auf welche Therapie ein Patient am besten ansprechen wird. Damit ließe sich den Erkrankten nicht nur ein langer Leidensweg ersparen, sondern auch dem Gesundheitssystem viel Geld. »Es ließen sich viele Leben retten«, hofft Geiger.
Als sie vor ein paar Jahren von der Universität in Tel Aviv ans Weizmann-Institut wechselte, habe sie sich gefühlt wie ein Kind im Süßigkeitenladen. »Das Institut investiert hohe Summen in neue Technologien, die dann allen Disziplinen offenstehen«, sagt Geiger. Statt sich selbst erst mit einem Instrument auseinandersetzen zu müssen, gibt es eigens geschultes Fachpersonal. »Man beginnt, ganz anders zu denken. In alle Richtungen.« Auch ein großer Teil dieser Hilfslabore wurde zerstört.
Geiger lässt sich von einem der Bauarbeiter, die immer noch dabei sind, die Gebäude zu sichern, einen Schutzhelm geben. Sie seufzt, als sie sich auf ihren alten Arbeitsweg macht. Eingangsbereich und Cafeteria des Ullmann Building for Life Sciences wirken noch recht intakt. Lediglich von der Decke hängende Kabel und geborstene Fenster erinnern hier an den Einschlag. Auch das Treppenhaus steht noch. Doch im Flügel dahinter erblickt man nur noch Schutt und Asche. Drei Etagen sind eingestürzt und verkohlt. »Hier war nichts zu retten«, sagt sie. Keine Spur mehr ist zu sehen von ihren Instrumenten: Zwei Massenspektrometer im Wert von je einer Million Dollar samt Robotern sind dahin. Mehr als der Geldwert schmerzt sie die monatelange Tüftelei, die sie in den Aufbau des Labors gesteckt hatten. »Es lief gerade richtig rund«, sagt sie.
Immerhin: Alle Daten werden automatisch im Rechenzentrum gespeichert. Auch einige ihrer Tumorpräparate lassen sich wohl ersetzen. Doch ein Verlust breche ihr das Herz. Wenige Tage vor dem Raketenangriff vertraute ihr die Mutter einer jungen Hirntumorpatientin eine Probe an. Geigers Labor war ihre letzte Hoffnung. Diese ist nun zerstört.
Zwischen allen Fronten
Die Raketennacht erlebte Geiger ähnlich wie ihr Labor-Nachbar Eldad Tzahor. In ihrem Fall folgte auf die Detonation jedoch ein zweiter Schock. »Ich erfuhr kurze Zeit später, dass einer meiner Studenten noch im Gebäude ist.« Ein deutscher Doktorand – so eifrig, dass er nachts noch vor sich hin werkelte. Die Stunden bis zur Entwarnung seien quälend langsam verstrichen, sagt Geiger. »Er hat im Schutzraum überlebt, mit einer heftigen Rauchvergiftung.«
Die Sorge um die mentale Gesundheit ihres Teams begleitet Geiger seit dem äußerst brutalen Hamas-Überfall vor zwei Jahren. Eine ihrer ausländischen Studentinnen schickte sie damals für ein paar Monate an ihr altes Institut nach München. Auch nach dem Iran-Angriff sei sie wieder überschwemmt worden von Angeboten aus Deutschland, den Niederlanden, Italien oder den USA, mit Stellen oder Laborplätzen für ihre Doktoranden. Sie rechne es ihrem Forschungsnetzwerk hoch an, dass man ihr in einer solchen Krise beistehe, sagt Geiger. »Natürlich liegen wir wissenschaftlich im Wettstreit, aber es ist doch allen klar, dass wir dasselbe Ziel haben.«
»Schmerzhafter als die Zerstörung von Gebäuden ist für mich, dass es bei uns in Israel Menschen gibt, denen es egal zu sein scheint, dass dieser Krieg über unseren Köpfen ausgetragen wird«Tamar Geiger, Biochemikerin
Von dem internationalen Boykott gegen Israel, den viele Forschende seit dem Krieg mit Gaza beklagen, habe sie bisher recht wenig gespürt. Das mag auch daran liegen, dass sie ihre politische Meinung nicht für sich behält. Schon vor dem Krieg spaltete die Regierung mit ihren rechtsextremen und ultrareligiösen Ministern das Land. Auch Geiger protestierte damals gegen die geplante Justizreform, die darauf abzielte, die Befugnisse der Justiz und des Obersten Gerichts einzuschränken und die Stellung des Parlaments und des Ministerpräsidenten zu stärken. Für viele kam dies einer Abschaffung der Demokratie in Israel gleich. Nach dem 7. Oktober 2023 ging sie für die Freilassung der israelischen Geiseln auf die Straße und für ein Ende des Kriegs im Gazastreifen. Wie viele ihrer Kollegen und Kolleginnen aus dem Institut macht sie Regierungschef Benjamin Netanyahu selbst dafür verantwortlich, dass es überhaupt zum Überfall durch die Terroristen kommen konnte.
»Der Iran wollte ein israelisches Symbol zerstören. Aus Sicht der dortigen Regierung ist das wohl gelungen«, sagt Geiger. Doch für sie ist es eher ein ideeller Schaden: Die freie Wissenschaft steht unter Beschuss. »Aber viel schmerzhafter ist für mich, dass es bei uns in Israel Menschen gibt, denen es egal zu sein scheint, dass dieser Krieg über unseren Köpfen ausgetragen wird.« Selbst das Weizmann-Institut könne mit all seinen Möglichkeiten die Tatsache nicht mehr aufwiegen, dass sich Israel im Kampf mit sich selbst befinde. Daran ändere auch der von US-Präsident Donald Trump initiierte Friedensplan und die jüngst erfolgte Freilassung aller noch verbliebenen Geiseln nichts. Sie könne verstehen, dass junge Postdocs sich zukünftig ins Ausland orientieren. »Das ist am Ende der größte Verlust, nicht die zerstörten Instrumente.«
Erkenntnisse aus den Trümmern
Eldad Tzahor sagt, er fühle sich noch immer wie ein Fremdkörper in seinem neuen Büro. Es fehlen die Details aus zwei Jahrzehnten, die Briefe, Notizen und Fotos. Es gehe nicht nur um die verlorene Technik, um die vielen tausend Gewebeproben aus Mäuseherzen. Er merke es an seinen Studierenden, die immer wieder ratlos innehalten, als ob ihnen alle Routinen entfallen seien. »Wir haben auch ein Zuhause verloren.«
Tzahors Labor ist auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Medizin: der Frage, wie sich unser wichtigstes Organ selbst nach einem zerstörerischen Infarkt wiederherstellen lässt. »Wir wissen, dass es zumindest bei Mäusen eine kurze Spanne nach der Geburt gibt, in der sich Herzzellen selbst wiederherstellen können. Wir suchen nach diesem genetischen Schalter.« Dass im erwachsenen Menschenherz latente Regenerationsmechanismen geweckt werden können, hat sein Labor schon im Jahr 2020 herausgefunden.
Das Institut habe sich der Grundlagenforschung verschrieben, sagt Tzahor. Aber es reiche ihm nicht mehr, Patente anzumelden und sie dann in Schubladen verstauben zu lassen, bis jemand anderes sie entdeckt. Tzahor nimmt die praktische Anwendung seiner Ideen daher selbst in die Hand. Eine seiner beiden Firmen arbeitet an der Entwicklung eines Herzmedikaments auf Basis des Proteins Agrin. Es setzt an der Regenerationsfähigkeit des Herzens an. Als sie auf der Suche nach Methoden zur Verjüngung des Herzgewebes versehentlich Muskelfasern herstellten, gründete er ein zweites Start-up. Es ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn sich Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm herausbewegen. Die »Profuse« getaufte Firma entwickelt nun gleichzeitig eine ethische Alternative zum Steak und eine Therapie, um gegen den Muskelschwund anzukämpfen, an dem beispielsweise Krebspatienten leiden.
Gewohnt, seine Projekte knackig zu verkaufen, verglich Tzahor den Wiederaufbau des Weizmann-Instituts kürzlich bei einem Vortrag in den USA mit seiner Forschungsarbeit: »Wir werden uns regenerieren. Unser Herz kann das, und wir als Institut werden es auch schaffen.« Dazu zeigte er zwei Fotos: ein Selfie, das er am Morgen des Angriffs knipste. Es zeigt ihn vor brennenden Trümmern. Das zweite Foto entstand nur einen Monat später und präsentiert sein Team bei der Arbeit im neuen Labor. »Die Leute klatschten«, sagt Tzahor. Dabei hatte ihn seine Frau, ebenfalls Wissenschaftlerin am Institut, davor gewarnt, über den Raketeneinschlag zu sprechen – ausgerechnet jetzt, da die ganze Welt mit Entsetzen auf das völlig zerstörte Gaza blickt. »Aber wie kann ich das nicht erwähnen?«, fragt der Molekularbiologe.
Dass mit Israels Ruf auch der Name des Weizmann-Instituts leidet, zeigt sich deutlich am Rückgang der Bewerbungen aus dem Ausland. Sowie an den Forschungsgeldern, die noch vor Kurzem so reichlich nach Rehovot flossen. Und noch etwas kommt hinzu: Im Sommer wurde Tzahor die Teilnahme an einem lange geplanten Konsortium aufgekündigt: Die Universität im niederländischen Utrecht erlaubt derzeit keine Zusammenarbeit mit Israel.
Raketen sind nicht die größte Bedrohung
Den Neuanfang in Anbetracht der Zerstörung will er jetzt zum Anlass nehmen, näher am menschlichen Patienten zu forschen. Nicht nur aus tierethischen Gründen, sondern auch, um eine neue Perspektive zu finden. Dass er dazu eine Gastprofessur in Heidelberg angenommen hat, habe durchaus fachliche Gründe. Aber er sehne sich nach einem Ort, an dem er wieder atmen und denken kann.
Bereits im Jahr 2014 gaben in einer Studie 70 Prozent der israelischen Forschenden, die sich zum Zeitpunkt der Befragung mit einem Stipendium im Ausland befanden, an, nicht mehr zurückkehren zu wollen. Neben dem Krieg gaben sie als Grund mehrheitlich die Sorge um die Demokratie und die Werte im eigenen Land an.
Und so sind wahrscheinlich weder die Raketen aus Iran noch der Angriff der Hamas die größte Bedrohung für Israel als Wissenschaftsnation. Es sind vielmehr der wachsende Nationalismus und Extremismus im eigenen Land. Und vielleicht ist das die Lehre, die die gesamte westliche Welt daraus ziehen sollte: Das Weizmann-Institut hat die Mittel, um seine Labore wieder aufzubauen. Aber was früher so viel Talent anzog – der gute Ruf der einzigen Demokratie im Nahen Osten –, das lässt sich so leicht nicht richten.
Weizmann-Präsident Alon Chen erhielt eine Antwort auf seinen Artikel in »Nature«. Sie wurde als Leserbrief veröffentlicht. »Wir dürfen die Zerstörung von Wissenschaft nicht selektiv betrauern«, mahnt darin Professor Ali Meghdari, ein emeritierter Maschinenbau-Ingenieur von der Islamischen Azad-Universität in Teheran. Der Präsident seiner Universität gehörte zu den Wissenschaftlern, die Israel im Juni 2025 töten ließ. Meghdari spricht aus, was eigentlich Konsens sein sollte: »Wenn uns Wissenschaft heilig ist, müssen wir überall mit derselben Trauer, derselben Empörung und demselben Ruf nach Frieden reagieren – ob ein Labor in Rehovot, Teheran, Gaza oder Beirut liegt.« Es sei Aufgabe der wissenschaftlichen Gemeinschaft, akademische Räume als Orte der Neugier, des Mitgefühls und der Zusammenarbeit zu verteidigen.
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