Forschung mit KI: Wo Mathematik und KI zusammenpassen – und wo nicht

Die mathematische Forschung erlebt gerade eine Revolution – zumindest legen das aktuelle Medienberichte nahe: »Die großen Sprachmodelle übertreffen bereits die Leistungen der besten Doktoranden auf der Welt«, hieß es im Juni 2025 in einem Artikel von »Scientific American«. Nur einen Monat später verkündeten Google und OpenAI, dass ihre KI-Modelle bei der Internationalen Mathematik-Olympiade eine Goldmedaille errungen haben. Solche Leistungen eignen sich natürlich für Schlagzeilen. Seltsamerweise scheinen derartige Nachrichten aber für die Chemie-Olympiade oder Poetry Slams auszubleiben. Es muss etwas geben, was die Mathematik zu etwas Besonderem macht.
In der breiten Gesellschaft wird Mathematik als etwas Kompliziertes wahrgenommen, etwas für Genies, für das ein besonderes Talent erforderlich ist. Das Fach verwendet eine formalisierte, fast programmierähnliche Sprache, die Menschen mühsam lernen müssen, aber für Sprachmodelle gut zugänglich ist. Folglich hinterlassen KI-Unternehmen den stärksten Eindruck, wenn sie sich auf Mathematik konzentrieren statt auf das Verfassen von kreativen Aufsätzen. Und das mit Erfolg, wie der aktuelle Medienrummel zeigt.
Diese Aufmerksamkeit steht allerdings in starkem Gegensatz zu den Eindrücken, die viele Berufsmathematikerinnen und -mathematiker in ihrem Umgang mit KI-Modellen gewinnen. In ihrem Arbeitsalltag spielt KI kaum eine oder gar keine Rolle. Manche verachten sogar die neuen Techniken wegen ihrer Unzuverlässigkeit und ihrem Hang zu Halluzinationen.
Und doch lässt sich nicht leugnen, dass sich das Fach durch den technologischen Fortschritt wandelt. Inzwischen können einige Sprachmodelle schon Lehrbuchaufgaben auf Doktorandenniveau lösen. Aber sind das wirklich Durchbrüche? Wir sind der Meinung, dass dies nicht der Fall ist.
Was bedeutet »Mathematik machen«?
Die Mathematik ist Vorreiter in Sachen Open Science. Schon früh wurden Veröffentlichungen auf dem frei zugänglichen Preprintserver »ArXiv« hochgeladen. Wir Mathematiker zögern nicht, unser Wissen auf Konferenzen und Workshops weiterzugeben. In der Regel freuen wir uns sogar, wenn jemand anderes das eigene Problem löst (falls es nicht gerade das Problem der eigenen Promotion kurz vor der Abgabe ist). Diese Offenheit ist mit ein Grund, warum KI-Unternehmen die Mathematik lieben. Wir produzieren alle Trainingsdaten und stellen sie kostenlos zur Verfügung.
In unseren Texten wird die Mathematik jedoch als reines Problem- und Lösungsparadigma beschrieben. Denn die Veröffentlichungen – unsere unvollständigen schriftlichen Aufzeichnungen – reduzieren das Fach auf einen Strom unumstößlicher wahrer Aussagen. Das Wesen der Neugier und die vielen unfruchtbaren Wege, die die Autoren und Autorinnen gegangen sind, werden dabei nicht erfasst.
Die mathematische Forschung ist kein Wettbewerb zum Lösen von Aufgaben
Wie sollte ein Sprachmodell (kurz: LLM) jemals sagen: »Ich bin mir nicht sicher« oder »Wir müssen die Definition für Eigenschaft X ändern, um sie natürlicher zu machen«, wenn es in den Trainingsdaten keine Spur dieses Prozesses gibt?
Die mathematische Forschung ist kein Wettbewerb zum Lösen von Aufgaben. 1995 hat der US-Mathematiker William Thurston das Fach in einem einflussreichen Aufsatz als soziales Unterfangen beschrieben: ein kollektives menschliches Bestreben, um Verständnis zu fördern, anstatt Ansehen für den Beweis eines Theorems zu ernten. In seinem Buch »Mathematica« argumentiert der Mathematiker David Bessis sogar, dass es in dem Fach vor allem darum geht, ein geistiges Bild aufzubauen.
Darüber hinaus spielt auch die Sprache in der Mathematik eine wichtige Rolle. So betont der Fields-Medaillist Peter Scholze: »Was mir am wichtigsten ist, sind Definitionen. Zum einen beschreiben Menschen Mathematik durch Sprache, und wir brauchen präzise Worte, um unsere Ideen klar auszudrücken. Aber auch über die reine Sprache hinaus nehmen wir die mathematische Natur durch die Linse der Definitionen wahr, und es ist entscheidend, dass diese die wesentlichen Punkte in den Fokus rücken.«
Der Prozess der mathematischen Entdeckung besteht darin, sowohl Probleme zu lösen als auch eine Sprache zu erfinden und zu verfeinern, mit der wir unser Denken, unsere Ideen und Visionen ausdrücken können. Der mathematische Fortschritt liegt in den Definitionen wie auch in den Ergebnissen und Beweisen.
Die nächste Generation
Studierende haben meist ein positiveres Bild von KI als die Lehrenden und greifen oft auf die neuen Technologien zurück. Beim Mathematikstudium geht es darum, Problemen auf den Grund zu gehen, über Ideen nachzudenken, verschiedene Ansätze auszuprobieren, mentale Bilder zu entwickeln und diese zu kommunizieren – und das auf soziale Art und Weise. Sprachmodelle können bei diesen Prozessen unterstützen.
Beim Einsatz von KI sollte man jedoch vorsichtig sein. So hat eine 2025 erschienene Studie gezeigt, dass Teilnehmer, die eine kreative Schreibaufgabe zunächst eigenständig angingen und erst später ein LLM verwendet haben, um ihr Denken zu hinterfragen und zu verfeinern, sehr gut abschnitten. Ihre Punktzahl war deutlich höher als die der anderen Gruppe, die mit einem Sprachmodell begann und sich erst anschließend eigenständige Gedanken machte. Allerdings zeigte sich auch, dass die Nutzer von Sprachmodellen viel homogenere Ergebnisse produzierten.
Wenn wir eine neue Theorie entwickeln wollen, wird ein KI-generierter Text nicht ausreichen
Letzteres sollte man bei der Nutzung von KI im Hinterkopf behalten. Es gibt Aspekte der Mathematik, bei denen Homogenität erwünscht ist: Wir wollen weitgehend dieselbe Sprache, dieselben Sätze verwenden, um die nötige Präzision zu erreichen. Aber wenn wir eine neue Theorie entwickeln, dann wird ein KI-generierter Text nicht ausreichen. Wir müssen Studierenden beibringen, über das KI-Niveau hinauszudenken – so wie wir heute trotz der Existenz von Taschenrechnern die Schüler routinemäßig im Kopfrechnen ausbilden.
Der Nutzen von KI-Sprachmodellen in der Mathematik
Auch wenn sich das einige Mathematikerinnen und Mathematiker vielleicht wünschen: Sprachmodelle und KI werden nicht verschwinden. Vielleicht verlieren sie an Popularität, vielleicht kommt der Fortschritt zum Stillstand. Doch Sprachmodelle verändern jetzt schon die Art und Weise, wie wir Mathematik betreiben. Das ist allerdings nichts Neues, solche Veränderungen hat es in der Vergangenheit bereits mehrfach gegeben.
Im 18. Jahrhundert verbrachten zum Beispiel die Menschen viel Zeit damit, Primteiler von immer größeren Zahlen zu bestimmen. So veröffentlichte Anton Felkel im Jahr 1776 eine Tabelle mit den Primfaktorzerlegungen aller nicht durch 2, 3 und 5 teilbaren ganzen Zahlen von 1 bis 408 000. Diese Daten ermöglichten es, den berühmten Primzahlsatz zu erkennen und schließlich zu beweisen. Heute löst ein einfaches Computerprogramm diese Aufgabe in weniger als einer Sekunde – und natürlich schreibt ChatGPT gerne ein solches Programm für Sie.
KI-Modelle sind besonders gut darin, Muster zu erkennen. Vor nicht allzu langer Zeit löste einer der Autoren, Christian Stump, ein Abzählproblem von Gitterpfaden auf einem zweidimensionalen Gitter mit Hilfe eines Sprachmodells. Nachdem er dem Programm eine Definition übergeben hatte, fand das Modell eine rekursive Struktur, schrieb die Funktionalgleichung auf, löste sie und extrahierte die Koeffizienten, um eine Abzählformel für das Problem zu liefern. Das ist nichts, was wir nicht selbst (in ein paar Stunden) mit Standardtechniken hätten bewältigen können. Aber es zeigt, wie die Automatisierung der Mathematik über das exakte Rechnen hinausgehen kann.
Tatsächlich werden die meisten Fachaufsätze nie gelesen und kaum je zitiert
Sprachmodelle können zudem als Wissensdatenbank dienen. Denn die KI-Programme sind in der Lage, alle mathematischen Arbeiten zu lesen – ganz im Gegensatz zu menschlichen Forschenden, die es höchstens schaffen, eine zweistellige Anzahl jährlich durchzuarbeiten. Tatsächlich werden die meisten Fachaufsätze nie gelesen und kaum je zitiert. Vielleicht sieht die Zukunft so aus, dass wir mit unserer Forschung das »Maschinenwissen« erweitern und so zum Fortschritt der Mathematik beitragen. Ob aus automatisierten Sprachstatistiken zu unseren Arbeiten eine bessere Mathematik hervorgehen kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Die Zukunft der Mathematik
Wie alles andere in der Welt verändert sich auch die Mathematik. Wir plädieren dafür, offen gegenüber Veränderungen zu sein. Wir freuen uns, dass die neuen Technologien Standardargumente automatisieren, Algorithmen schreiben oder Gegenbeispiele finden. Wir freuen uns darauf, nicht tagelang ein einfaches Python-Skript schreiben zu müssen – wir wollen unseren Geist und unsere Zeit für Kreativität freimachen.
Wichtig ist, dass wir unsere Zukunft selbst gestalten. Hier geht es um uns. Wir glauben, dass es eine Chance gibt, dass Mathematik durch die neuen Technologien noch kreativer und vielleicht sogar schöner wird. Wir könnten Argumentationshilfen haben, die häufig verwendete Techniken weiter standardisieren und es ermöglichen, uns ganz auf das Neue zu konzentrieren.
Deshalb sollten wir uns der Realität der KI-Sprachmodelle besser heute als morgen stellen. Gewöhnen wir uns an ihre Existenz, probieren wir sie aus, lachen wir über ihre Dummheiten und ihr nichtmenschliches Verhalten. Und vor allem: Hören wir nie auf, kreativ und menschlich zu sein.
Dies ist eine überarbeitete Übersetzung des Essays »Mathematics in the context window«.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.