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Umweltzerstörung: Welches Recht hat die Natur?

Zuletzt bekam der kolumbianische Regenwald vor Gericht eine eigene Stimme - und dadurch Anspruch auf Schutz. Wie »Rechte der Natur« den Umweltschutz grundlegend ändern könnten.
Morgennebel über Hügeln

»Umweltpolitik darf die Entwicklung Brasiliens nicht verpfuschen.« So kommentierte Brasiliens designierter Präsident Jair Bolsonaro seine Absage an die Organisatoren des Klimagipfels 2019. Die Wirtschaft werde »erstickt von Umweltfragen«, darum stehe man auch nicht als Gastgeber für die Konferenz zur Verfügung.

Auch an den Schutz des Amazonasregenwalds will der populistische Politiker die Axt anlegen, glaubt man seinen Wahlkampfversprechen. Dass das Ökosystem längst in die Nähe eines Kipppunkts gerückt sein könnte, ab dem der Zerfall unaufhaltbar wird, spielt offenbar keine Rolle.

Anders im Nachbarland Kolumbien. Hier ist der Schutz der Natur nicht länger wechselnden Mehrheiten in der Politik unterworfen. In Kolumbien kann der Wald künftig sein Recht selbst einklagen: Seit April 2018 besitzt das kolumbianische Amazonasgebiet die gleichen Rechte wie eine Person.

Das ist das Ergebnis eines Verfahrens am obersten Gericht des Landes. In ihrem Urteil erkannte das Richtergremium nicht nur die Bedeutung des Amazonasregenwalds als lebenswichtiges Ökosystem an, dessen Erhalt für die Zukunft des gesamten Planeten existenziell ist, sondern behandelten es gleichzeitig wie ein Rechtssubjekt – indem sie es mit Persönlichkeitsrechten ausstatteten.

Der Natur per Verfassung eigene Rechte zu garantieren, »ist ein relativ neues und inspirierendes Konzept, das dazu beitragen soll, unseren Planeten und uns selbst zu retten«, sagt Jens Kersten, Rechtsethiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch Bolivien und Ecuador haben bereits entsprechende Passagen in ihrer Verfassung verankert. In Kolumbien ging die Initiative nun auf eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen zurück, die bei ihrer Klage von der kolumbianischen NGO dejusticia unterstützt wurden.

»Ein Pakt, der unter allen Umständen eingehalten werden muss«

Vor Gericht argumentierten die Kläger, die Abholzung des kolumbianischen Regenwaldes beschleunige nachweislich den Klimawandel und bedrohe somit direkt ihre Zukunft. Und sie bekamen Recht. »Die Kolumbianer haben eine Hochrechnung gemacht, wie sehr die Temperaturen ansteigen würden, wenn diese Kinder und Jugendlichen ein gewisses Alter erreichten. Wie würde ihre Lebensqualität aussehen? Und sie kamen zu dem Schluss, dass das Land in Bezug auf den Klimawandel für die nachfolgenden Generationen nicht ausreichend Sorge trägt«, erklärt Valeria Berros, Professorin für Recht an der Universidad Nacional del Litoral im argentinischen Santa Fe und Mitherausgeberin eines 2017 erschienenen Sammelbands über das Recht der Natur.

Das oberste Gericht beließ es allerdings nicht bei einer Grundsatzentscheidung. Es forderte zudem Maßnahmen. Die Emission von Treibhausgasen solle bis 2020 auf null gesenkt und der Kahlschlag gestoppt werden. Das hatte die kolumbianische Regierung zwar schon auf dem Pariser Klimagipfel 2015 zugesagt. Doch dank der Anbindung an die Personenrechte des Amazonasgebiets werde »ein Pakt geschmiedet, der unter allen Umständen eingehalten werden muss«, sagt Berros. Ganz konkrete Fragen müssten jetzt umgesetzt werden, nicht nur mit Blick auf den direkten Nutzen des Ökosystems, sondern auch angesichts des Eigenwerts, den der Regenwald habe.

Brandrodung im Amazonasregenwald | Der Wald nimmt im Klimaschutz eine zentrale Rolle ein, doch allzu oft weicht er zu Gunsten von Landwirtschaft, Bergbau und Holzindustrie.

Nach der Rechtsauffassung der allermeisten Länder sind Natur, Tiere, Pflanzen und Steine einfach Objekte, die man besitzen, zerstören oder schützen kann. Das schlage sich auch in den Umweltschutzgesetzen nieder, erläutert Rechtsethiker Kersten: Sie regeln, wie viel Umweltverschmutzung oder Naturzerstörung in Kauf genommen wird und legalisieren dadurch Umweltschäden. Der Staat sei zur Abwägung von Interessen verpflichtet. »Und wer abwägen kann, kann immer auch wegwägen«, sagt Kersten. Doch anders als natürliche oder juristische Personen, die sich zur Wehr setzen können, wenn ihre Interessen vernachlässigt werden, sei die Natur in solchen Konflikten strukturell benachteiligt. Wer wolle, könne sich über sie hinwegsetzen. Oft unter theatralisch vergossenen Krokodilstränen. Oder wie der Fall Bolsonaro zeigt, auch ganz ohne Tränen.

Auch die Natur muss angehört werden

Zumindest bisher funktionierte das so. Sobald man jedoch der Natur – Tieren, Pflanzen, Landschaften oder auch abstrakteren Umweltgütern wie Wasser oder Luft – Rechte zugesteht, ändert sich die Lage. Umweltverbände, NGOs oder auch Anwaltskanzleien können vor Gericht ziehen und als Stellvertreter dieser Rechtssubjekte auftreten. »Hätten Tiere, Pflanzen und Landschaften diesen legalen Status, wäre es sehr viel schwieriger, sie zu töten oder zu zerstören.«

»Pachamama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden«Verfassung Ecuadors

Was das für den praktischen Umweltschutz bedeutet, wird sich bei jenen Ländern zeigen, die diesen Schritt bereits gegangen sind. »In Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Indien, Mexiko, Neuseeland und den USA – wo mindestens 96 subnationale Naturrechtsvorschriften verabschiedet wurden oder anhängig sind – gibt es mittlerweile entsprechende gesetzliche Regelungen. Auch in Nepal und Australien werden Gesetzentwürfe geprüft«, sagt Craig Kauffman, Politikwissenschaftler an der University of Oregon in Eugene und Experte für erdzentriertes Recht und nachhaltige Entwicklung.

Ecuador war 2008 mit einer revolutionär klingenden Neuauflage seiner Verfassung vorangegangen: Darin erhob es »Mutter Erde« erstmals zum Rechtssubjekt. »Pachamama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden«, heißt es im Artikel 72 der ecuadorianischen Verfassung. Und: »Jede Person, Gemeinschaft, Volk oder Nationalität [kann] die zuständige öffentliche Autorität dazu auffordern, die Rechte der Natur umzusetzen.« Der neue Verfassungstext Ecuadors steht für einen Paradigmenwechsel, in dem die Natur zum Schlüsselfaktor in einem neuen Entwicklungskonzept wird. Weg von der anthropozentrischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen hin zu einer biozentrischen Perspektive und zu einem holistischen Blick auf die Welt als ganzheitliches Ökosystem.

Es bleibt eine Frage der Abwägung

Bolivien folgte 2010 und 2012 mit den Gesetzen 71 und 300, die ebenfalls in der Verfassung verankert wurden. Beide Andenländer erkennen den Schutz und Erhalt der Umwelt als »öffentliches Interesse« an und das Recht der Bevölkerung, in einer »gesunden und ökologisch ausgeglichenen Umwelt« zu leben. Der bolivianische Staat behält sich allerdings die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen von Mutter Erde vor, was in gewissem Widerspruch zu ihren Verfassungsrechten steht und zu Spannungen führt. So beklagen die indigenen Führer des Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure (Tipnis) die Verwüstung ihres Territoriums durch die Regierung von Evo Morales. Mit ihrer Beschwerde wandten sie sich an das International Rights of Nature Tribunal, einem internationalen Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen und Umweltaktivisten, der sich für die Verbreitung des Konzepts der Naturrechte stark macht.

Dass es zu solchen Konflikten kommt, wundert Kersten nicht. »Die verfassungsrechtliche Anerkennung von Rechten der Natur bedeutet nicht, dass die Natur immer und automatisch ›gewinnen‹ müsste«, sagt der Rechtsethiker. Es bedeute lediglich, dass sie eine Stimme bekomme, die vor Gericht Bestand hat. Man müsse also keineswegs die Natur besonders lieben, um diesen Paradigmenwechsel nachzuvollziehen. »Es reicht schon ein Gespür für Fairness.«

Whanganui | Auch der Whanganui in Neuseeland hat Persönlichkeitsrechte – dafür kämpften Maori-Gruppen mehr als 140 Jahre.

Doch die emotionale Beziehung zur Natur ist bei vielen Befürworten dieses Ansatzes treibende Kraft. Dass Ecuador in seiner Verfassung auf »Pachamama«, Mutter Erde, Bezug nimmt, ist kein Zufall: Gerade jene indigenen Kosmovisionen, die seit jeher die Natur als lebendiges Wesen begreifen, legen die Anerkennung von Rechten der Natur nahe. Auch in Bolivien entstand der Begriff der Naturrechte aus dem Versuch heraus, indigene Konzepte über das Verhältnis des Menschen zur Natur und über das, was Wohlbefinden (Buen Vivir) ausmacht, in eine westliche Rechtsform zu übersetzen.

»I am the river and the river is me«

In Neuseeland, wo 2017 der Whanganui-Fluss als Rechtssubjekt anerkannt wurde, hatten die Konzepte der Iwi, einer Maorigruppe, letztendlich den Ausschlag gegeben. Seit 140 Jahren hatten sie für den Schutz ihres Flusses gekämpft. Doch ihre Beziehung zum Fluss war mit westlichen anthropozentrischen Begrifflichkeiten nicht zu beschreiben. Der Ausspruch der Iwi »I am the river and the river is me« wurde berühmt. Dieser Satz erlaube uns, »die Vielfalt der Perspektiven zu sehen, die in Bezug auf die Natur existieren«, kommentiert Valeria Berros, »das geht weit über die Dichotomie von Natur und Gesellschaft hinaus, mit der wir normalerweise die Welt betrachten. Hier gibt es eine solche Unterscheidung nicht.«

Doch nicht immer sind indigene Konzepte im Spiel, wenn es um die Anerkennung der Naturrechte geht, betont Kauffman. Die Rechte der Natur würden sich parallel auf der ganzen Welt herausbilden. »Dabei können die Argumentationen und die Interessen sehr unterschiedlich sein.« In den USA etwa werden die Naturrechte angerufen, weil man erkannt hat, dass die bestehenden Umweltgesetze eher auf Schadensbegrenzung abzielen, als Schäden zu verhindern. Naturrechte würden auch als Mittel zur Erweiterung der Gemeinschaftsrechte konzipiert, um Umweltressourcen zu schützen, erklärt Kauffman.

Weltweit werden Juristinnen und Juristen ausgebildet, um die Rechte der Natur und der Bürger zu schützen. Doch allen guten Vorsätzen zum Trotz ist die Einbettung und Umsetzung der neuen Gesetze nicht immer einfach. In Ecuador beispielsweise wurde im Jahr 2011 erstmals das Verfassungsrecht angewendet. Der Rechtsstreit der Bürger um den Vilcabamba-Fluss ging in erster Instanz verloren. Doch schließlich wurde das Recht des Flusses auf seinen natürlichen Lauf durchgesetzt. Der Staat wurde verpflichtet, die bereits angerichteten Schäden wiedergutzumachen. Wodurch sich schon das nächste Problem abzeichnet: Verfügt der Staat überhaupt über die ökonomischen Mittel, um die Natur effektiv zu schützen?

Gerade in Lateinamerika basiere die Wirtschaft immer noch stark auf dem Raubbau an Ressourcen, sagt Berros. Dies mit den Naturrechten in Einklang zu bringen, sei darum die größte Herausforderung dieser Staaten.

Wie das klappen könnte, hätte ein Vorstoß von Rafael Correa im Jahr 2007 zeigen können. Der damalige Präsident Ecuadors versuchte die Abhängigkeit seines Landes vom Rohstoffexport und der dadurch bedingten, immer weiter fortschreitenden Ausbeutung zu durchbrechen. Correa schlug vor, auf die Förderung von tausenden Tonnen von Erdöl im Nationalpark Yasuní zu verzichten, wenn die Industrienationen die Hälfte des Werts dieser Erdölvorkommen an Ecuador zahlten. Der Betrag: drei Milliarden Dollar. »Die Idee war, den Klimawandel zu bremsen. Wäre es geglückt, hätte die Emission von 407 Millionen Tonnen CO2 vermieden werden können und der Nationalpark Yasuní wäre unangetastet geblieben. Aber 2013 scheiterte diese wirklich gute Idee an der fehlenden internationalen Solidarität«, sagt Berros. Zum einen materialisierten sich nicht ausreichend Beiträge aus den Industrieländern, und zum anderen konnte man sich nicht darüber einigen, wie der Treuhandfonds verwaltet werden sollte.

Die Naturrechtssprechung wächst und gedeiht

Trotz dieser Schwierigkeiten sind sich die Forscher darüber einig, dass die neue Rechtsstrategie des biozentrischen Ansatzes in den letzten zehn Jahren auf internationaler Ebene enorm Fahrt aufgenommen hat. Kauffman zieht eine Parallele zu den Menschenrechten in den 1940er Jahren, als weltweit Länder begannen, das neu entwickelte – und immer noch stark umstrittene – Konzept in nationales Recht zu übertragen. Wie damals die Menschenrechte, müssen heute die Naturrechte von zivilgesellschaftlichen Gruppen international überwacht oder erst durchgesetzt werden. »Zehn Jahre reichen natürlich nicht aus, um einen normativen Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen«, meint der US-Forscher, »aber aus den sich häufenden Einzelfällen lässt sich eine deutliche Stärkung der Naturrechtsprechung erkennen.«

Und so ließ auch der nächste Einzelfall nicht lange auf sich warten: Kolumbien hat es wieder getan und am 9. August insgesamt 106 000 Hektar der Hochebene von Pisba mit Personenrechten ausgestattet. Wenn künftig Menschen dieser Landschaft zu Leibe rücken wollen, kann sie sich selbst zur Wehr setzen – sofern sich andere zu ihrer Verteidigung bereit erklären.

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