Direkt zum Inhalt

News: Weltraumtechnik macht den Drahtesel fit für das dritte Jahrtausend

Wenn die Ingenieure sich so richtig ins Zeug legen, dann kommt selbst bei einer derart ausgereizten Erfindung wie der des Fahrrades noch etwas völlig neues heraus. In diesem Fall ein supermoderner, extrem leichter und hochfester Drahtesel, der auf den Namen "Phyber" hört.
Ein Kunstwort, das sich an "Fiber", das Fremdwort für Faser, anlehnt. Auf die Räder gestellt wurde der flotte Flitzer gemeinsam von der Technischen Universität Chemnitz, dem Chemnitzer An-Institut für Konstruktion und Verbundbauweisen und den Blechformwerken Bernsbach GmbH. Das "Carbon All Purpose Bike Project" (CAP-Bike, etwa: Allzweck-Kohlenstoff-Fahrrad), an dem auch die renommierte Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich und eine mittelständische Fahrradfabrik in der Schweiz beteiligt waren, wurde durch das EUREKA-Programm der Europäischen Union und den Freistaat Sachsen finanziert. Ziel war ein Fahrrad aus Faserverbundwerkstoffen mit in die Struktur integrierter Federung. Zudem sollte es nicht mehr als 2500 bis 3000 Mark kosten (bereits auf dem Markt erhältliche Verbundfahrräder kosteten um die 6000 Mark) und ein völlig anderes Design als herkömmliche Räder haben.

Schon äußerlich sieht das zwölf Kilogramm leichte Mountainbike Modell "Phyber" ganz anders aus als die üblichen Fahrräder, die auf unseren Straßen herumkurven. Anders sind vor allem der unkonventionelle Rahmen und die komplett in diesen Rahmen integrierte gefederte Hinterradaufhängung, die beide ganz aus kohlefaserverstärktem Verbundstoff hergestellt sind – ein Werkstoff, der bisher fast ausschließlich in der Luft- und Raumfahrtindustrie eingesetzt wurde. Die ETH- und die Chemnitzer Entwicklung unterscheiden sich jedoch in einigen Details. So sind beim Schweizer Rad die Kohlefasern in einen Kunststoff eingebettet, der, einmal ausgehärtet, nicht wiederverwertet werden kann, einen sogenannten Duroplasten. Die Chemnitzer Wissenschaftler benutzen dagegen einen Thermoplast-Kunststoff, der sich immer wieder aufschmelzen läßt. Außerdem hat das ETH-Rad einen biegsamen Bereich in der Hinterradschwinge. Die Entwicklung der Chemnitzer TU besitzt dagegen eine glasfaserverstärkte Blattfeder als verbindendes Element zwischen Hauptrahmen und Hinterbau. In beiden Fällen ist jedoch der neuartige Rahmen gleichzeitig stabiler und bruchfester, dabei dennoch flexibler als herkömmliche Rahmen aus Stahl oder Aluminium. Für die Sicherheit des Fahrers ist das nicht unwesentlich, geht doch immerhin jeder neunte Fahrradunfall auf technische Mängel, etwa Ermüdungsbrüche, zurück. Zudem ist der futuristische Verbundstoffrahmen mit weniger als drei Kilogramm erheblich leichter.

Bevor der neue Rahmen entwickelt und gebaut werden konnte, mußten die Chemnitzer Maschinenbauer um Prof. Eberhard Köhler allerdings zunächst erst einmal herausfinden, was ein Fahrrad typischerweise so alles aushalten muß. Dazu brachten sie ingesamt 16 Meßpunkte an den besonders beanspruchten Stellen eines normalen Stahlrahmen-Fahrrades an, etwa an den Tretlagern, am Sattel oder an den Rädern. Dann ging's 160 Kilometer über Stock und Stein – mal stand eine einfache Geradeaus-Fahrt auf dem Programm, mal wurde bergab oder im Wiegetritt bergauf geradelt, dann wieder über Kopfsteinpflaster oder gar eine Treppe hinunter. Die gemessenen Daten wurden direkt von einem Laptop-Computer ausgewertet, der im Dreieck des Rahmens angebracht war.

Ergebnis der Fahrradfolter: Die herkömmliche DIN-79100-Norm, nach der die meisten Fahrradhersteller ihre Stahlrösser konstruieren, taugt nichts: "Eine rein statische Prüfung der beanspruchten Teile ist überhaupt nicht praxisrelevant. Nur eine dynamische Prüfung im realen Fahrbetrieb liefert aussagekräftige Werte," resümiert Prof. Köhler. Statt 190 Newton, die der Norm zugrundeliegen, maßen die Chemnitzer Forscher etwa im Bereich von Vorbau und Lenker beim Wiegetritt oder beim Überfahren von Hindernissen bis zu 575 Newton, bei der Fahrt über eine Treppe gar bis 1200 Newton. Ebenso hohe Kräfte treten auch an der Pedale oder an der Vorderradgabel auf, der DIN reichen 300 Newton im einen und 800 Newton im anderen Fall. Dazu kommt, daß die Belastungen in der Praxis extrem wechseln können und außerdem vom persönlichen Fahrstil und vom Gewicht des Fahrers abhängen.

Die von den Wissenschaftlern gemessenen Werte sind in den neu entwickelten Rahmen eingegangen. Die schweizerische Entwicklung ist bereits auf dem Markt – und brachte den Fahrradhändlern, die sie im Angebot haben, auf Anhieb bis zu 15 Prozent mehr Umsatz. Das technisch etwas anspruchsvollere Fahrrad "Made in Sachsen" steht noch an der Startlinie: Die Produktion der Rahmen ist nach Abschluß des Forschungsprojektes in der Blechformwerke Bernsbach GmbH, unweit von Chemnitz, vorgesehen. Forschungsdirektor Dr. Hartwig Müller ist maßgeblicher Ideengeber für das Forschungsvorhaben. Müller: "Es ist noch nicht entschieden, ab wann das Fahrrad gebaut wird und welcher Produzent den Rahmen komplettiert."

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.