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Somatopsychologie: Kranker Körper – kranke Seele

Nicht nur die Psyche macht den Körper krank, sondern auch umgekehrt – das wird inzwischen immer deutlicher. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Immunsystem.
Kranke Frau mit Tasse Tee im Bett

"Mens sana in corpore sano" – "in einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist", schrieb der römische Satiredichter Juvenal irgendwann zwischen dem 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. Heute, fast 2000 Jahre später, tauchen die Erkenntnisse aus den Bereichen der Psychoneuroimmunologie und der Somatopsychologie diesen Satz in ein ganz neues Licht. Denn immer mehr dämmert Wissenschaftlern: Wenn der Körper krank ist, leidet auch die Seele. Und nicht selten spielt ausgerechnet das Immunsystem eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von psychischen Beschwerden.

So etwa bei einer Abiturientin, die quasi über Nacht eine psychotische Störung mit akustischen Halluzinationen entwickelte. Da sie zugab, ein- bis zweimal in der Woche Cannabis zu rauchen, fiel der Verdacht zunächst auf eine drogeninduzierte Psychose. Doch eine Behandlung mit Neuroleptika blieb ohne Erfolg. Vielmehr verschlimmerte sich ihre Situation, und die junge Frau fiel in eine regelrechte Starre – emotional ebenso wie körperlich. Wenig später erlitt sie einen epileptischen Anfall.

Eine Laboruntersuchung der Gehirnflüssigkeit ergab: Die Schülerin litt an Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, einer Autoimmunerkrankung, bei der die körpereigene Abwehr die so genannten NMDA-Rezeptoren attackiert. Das beeinträchtigt die Signalübertragung zwischen den betroffenen Neuronen, und in der Folge können Nervenverbindungen in großem Maßstab zu Grunde gehen. "Wird die Krankheit rechtzeitig erkannt, lässt sie sich meist erfolgreich durch eine geeignete Immuntherapie behandeln – etwa durch Immunsuppressiva und eine Blutwäsche, bei der man die autoreaktiven Antikörper entfernt", sagt Harald Prüß, der an der Berliner Charité Krankheiten wie die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis untersucht.

Die Revolution der gesamten Psychiatrie

Die Krankheit ist selten und trifft nur etwa einen von 100 000 Menschen. Prüß geht jedoch davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. "Außerdem haben wir mittlerweile bis zu 30 weitere autoreaktive Antikörper im Verdacht, vergleichbare Gehirnentzündungen mit schwerer psychiatrischer Symptomatik auszulösen", sagt der Arzt. Er hofft daher, dass in Zukunft Routinetests zur Diagnose solcher Autoimmunerkrankungen Betroffenen einen langen Leidensweg ersparen. "Interessant wäre herauszufinden, ob es unter den Psychosepatienten auch solche mit niedrigem Antikörperspiegel gibt, der in den heute verfügbaren Tests noch gar nicht auffällt", so Prüß. Sollte sich das bestätigen, könnte dies die Sicht auf psychische Erkrankungen und die gesamte Psychiatrie revolutionieren.

Auch Viruserkrankungen wie Hepatitis B und C oder bestimmte Tumoren können eng mit psychischen Beschwerden in Zusammenhang stehen: Sie werden mit Interferon-Alpha behandelt, einem Immunbotenstoff aus der Gruppe der Typ-1-Interferone. Die Therapie kann allerdings starke psychische Nebenwirkungen mit sich bringen. Betroffene Patienten leiden unter Schlafstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, Stimmungsschwankungen und Depressionen, die nicht selten zum Therapieabbruch führen.

Bei Menschen mit Depression und Patienten mit bipolarer Störung fanden Wissenschaftler erhöhte Konzentrationen von entzündungsfördernden Immunbotenstoffen

Das Forscherteam um Marco Prinz von der Universitätsklinik Freiburg veröffentlichte im April 2016 im Fachjournal "Immunity" eine Studie, die diesen Zusammenhang erklären kann. Im Experiment mit Mäusen hatten die Wissenschaftler beobachtet, dass eine Gabe von Typ-1-Interferonen, zu denen Interferon-Alpha zählt, den so genannten IFNAR-Rezeptor in Zellen der Blut-Hirn-Schranke aktivieren. Auch Infektionen mit bestimmten Viren regen diesen Rezeptor an. Die Zellen der Blut-Hirn-Schranke produzieren daraufhin einen Signalstoff namens CXCL10, dessen Aufgabe darin besteht, Immunzellen anzulocken. Doch nicht nur das: Wie die Freiburger Forscher festgestellt haben, hemmt CXCL10 auch Nervenzellen im Bereich des Hippocampus und beeinträchtigt so dessen Plastizität. Der Hippocampus spielt unter anderem eine zentrale Rolle bei der Regulation von Emotionen – eine eingeschränkte Plastizität in diesem Hirnareal ist ein bekanntes Phänomen im Zusammenhang mit Depressionen.

Auch Patienten mit multipler Sklerose (MS) leiden auffallend häufig an einer Depression. "Wenn Sie heute im Wartezimmer einer beliebigen MS-Sprechstunde eine Befragung durchführen, wird ein Viertel der anwesenden Patienten von depressiven Symptomen berichten", sagt Stefan Gold, Professor für Neuropsychiatrie an der Charité. Auf die gesamte Lebenszeit gesehen, treffen Niedergeschlagenheit, Freud- und Antriebslosigkeit sogar rund die Hälfte aller MS-Patienten. "Das sind rein statistisch betrachtet viel zu viele, um die Ursache allein in der Belastung durch die gravierende und gleichzeitig ungewisse Diagnose zu suchen", erklärt Gold. Gerade einmal die Hälfte der Depressionen bei Menschen mit multipler Sklerose mögen der psychischen Belastung geschuldet sein. Die andere Hälfte stehe in direktem biologischem Zusammenhang mit der Krankheit, so die Überzeugung des Spezialisten.

Diffuse Entzündungen im Gehirn

Auch die multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung: Zellen des Immunsystems greifen die Myelinscheiden, die Isolation der Nervenzellen, an und bauen diese ab. Doch scheint das nicht die direkte Ursache für das Stimmungstief zu sein. Depressive Symptome bei MS-Patienten stehen vielmehr in einem Zusammenhang mit Gewebeschädigungen in Hirnregionen wie dem Hippocampus, wie die Arbeitsgruppe mit Hilfe bildgebender Verfahren nachwies. Erst im letzten Jahr untersuchte Gold gemeinsam mit niederländischen Kollegen die mögliche molekulare Grundlage dieser Schädigungen am Gehirn verstorbener Patienten. Was er dort entdeckte, untermauerte seine Hypothese: Demnach zieht die Autoimmunreaktion diffuse Entzündungen im Denkorgan nach sich. Mikroglia, die Immunzellen des Nervensystems, werden auf den Plan gerufen, der Pegel an Botenstoffen der proinflammatorischen, also der entzündlichen Immunreaktion steigt an. Dadurch wird insbesondere der Hippocampus in Mitleidenschaft gezogen und seine Verschaltung mit anderen Hirnregionen geschädigt. Die Regulation von Emotionen wird erschwert und depressive Symptome werden begünstigt.

Gold ist der Überzeugung, dass auch Entzündungsprozesse in anderen Körperregionen zu Depressionen führen können. So weiß man etwa, dass proinflammatorische Botenstoffe die Serotoninproduktion drosseln. Serotonin ist ein wichtiger Nervenbotenstoff; ein Mangel wird oft bei Patienten mit einer Depression beobachtet. Umgekehrt fanden Wissenschaftler bei Depressiven ebenso wie bei Menschen mit bipolarer Störung erhöhte Konzentrationen von entzündungsfördernden Immunbotenstoffen – wenn auch längst nicht bei allen. Entsprechend verwundert es nicht, dass Entzündungshemmer wie ASS und COX2-Inhibitoren in einigen Fällen eine Linderung psychischer Beschwerden bewirken können.

Zweischneidige Abwehr | Ist das Immunsystem mit schuld an psychischen Erkrankungen wie einer Depression? Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass es zumindest bei manchen Patienten eine wichtige Rolle spielen könnte.

Auch Manfred Schedlowski vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie am Universitätsklinikum Essen hat die entzündliche Immunantwort im Visier. Er ahmt bei seinen Probanden die Vorgänge einer bakteriellen Infektion nach. "Wir machen im Prinzip gesunde Leute krank und schauen dann, was passiert", erklärt er. Wirklich krank werden die Probanden natürlich nicht. Vielmehr spritzt Schedlowski ihnen so genannte Lipopolysaccharide, chemische Moleküle aus der Zellhülle gramnegativer Bakterien. Das allein ruft bereits das Immunsystem auf den Plan – und versetzt den Körper für einen Zeitraum von vier bis sechs Stunden in den Zustand einer Infektion, in dem sich die Probanden auch psychisch angeschlagen fühlen. Sie berichten etwa von Niedergeschlagenheit und erhöhter Ängstlichkeit.

Im Experiment mit Ratten hatte das Team um Schedlowski bereits 2011 beobachtet, dass eine Gabe von Lipopolysacchariden die Produktion von proinflammatorischen Botenstoffen im Gehirn ankurbelt – insbesondere in der Amygdala, unserem Angstzentrum. "Wir gehen davon aus, dass beim Menschen ähnliche Prozesse ablaufen wie bei den Nagern", sagt Schedlowski. Er vermutet, dass im Rahmen einer Infektion auch die Mikroglia im Denkorgan aktiviert werden. "Letztlich entsteht im Gehirn ein Immunstatus, der mit dem des Körpers korrespondiert." Wie die Information "Infektion" die Blut-Hirn-Schranke passiert, ist allerdings noch nicht endgültig geklärt. Möglicherweise existieren dafür spezielle Mechanismen – ähnlich wie die Freiburger Forscher um Marco Prinz dies für Typ-1-Interferone beobachten konnten.

Klar ist für Schedlowski indes: Die psychische Abgeschlagenheit im Rahmen einer Infektion ist evolutionsbiologisch gesehen absolut sinnvoll. "Wer eine Infektion ausbrütet, kommt schon Tage vorher nicht mehr aus dem Kreuz, wie wir hier im Ruhrpott sagen würden", so Schedlowski. "Auch ein kranker Steinzeitmensch hat sich in diesem Zustand wohl eher in seiner Höhle verkrochen – statt sich draußen der erhöhten Gefahr auszusetzen, einem Säbelzahntiger zum Opfer zu fallen." Dieses Prinzip gilt immer noch für moderne Mitteleuropäer, die sich nicht mehr vor wilden Tieren fürchten müssen. Denn auch im Straßenverkehr haben Gesunde bessere Chancen, unversehrt zu bleiben. Und: Wer sich zurückzieht, verringert das Risiko, seine Mitmenschen anzustecken. Fachleute sprechen von "Sickness Behaviour", vom Krankheitsverhalten.

Nicht jede Depression ist immunologisch gesteuert

Doch auch wenn schon ein banaler grippaler Effekt auf die Psyche drückt und sowohl bei Menschen mit Depression als auch bei Patienten mit bipolarer Störung erhöhte Konzentrationen an Botenstoffen der entzündlichen Immunantwort gemessen wurden: Man darf nicht den Fehler machen, die Ursache für psychische Erkrankungen allein dem Abwehrsystem anzulasten. "Sicher ist nicht jede Depression immunologisch gesteuert", so Gold. "Aber es gibt eine relevante Untergruppe, die besser identifiziert werden muss, um die Betroffenen gezielter zu behandeln."

Die Trennung zwischen Körper und Seele, die René Descartes im 17. Jahrhundert postulierte und die auch heute noch gang und gäbe ist, ist damit hinfällig. "Wir müssen den Patienten als Ganzes im Blick haben, und die Medizin muss wieder zum ganzheitlichen Heilberuf werden", fordert Schedlowski.

Man darf nicht den Fehler machen, die Ursache für psychische Erkrankungen allein dem Abwehrsystem anzulasten

Christian Schubert, Psychoneuroimmunologe an der Medizinischen Universität Innsbruck, bestätigt diese Einschätzung: "Wir haben es mit einem ganzheitlichen, dynamischen System zu tun", sagt er. Es wäre daher nicht korrekt, das Immunsystem als eine Art Mittler zwischen Körper und Geist zu sehen – denn auch das entspräche letztlich Descartes' dualistischem Prinzip, nur mit einer zwischengeschalteten Schnittstelle.

Schubert betrachtet die Arbeiten vieler Kollegen kritisch. "Es wäre wichtig, dieses Zusammenspiel unter gelebten Alltagsbedingungen aufzuzeigen, denn nur das spiegelt die wahren Zusammenhänge wider", erklärt er. "Experimente können immer nur eine manipulierte Momentaufnahme zeigen, niemals das vollständige Bild."

Der österreichische Psychoimmunologe entwickelt daher mit seinen Mitarbeitern in Innsbruck eine Methode, um die dynamischen Vorgänge im System über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten. Dazu bitten die Wissenschaftler ihre Probanden, 25 oder sogar 50 Tage lang ihren gesamten Urin zu sammeln – jeweils von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends und dann wieder bis acht Uhr in der Früh. In diesen Proben erheben die Forscher ein Profil diverser Immunbotenstoffe. Gleichzeitig protokollieren die Probanden mit Hilfe von Fragebögen ihr Befinden und werden wöchentlich zu ihren Erlebnissen befragt. "Uns ist es dabei immer wichtig, die Einzelperson im Auge zu behalten, denn es dürfte massive interindividuelle Unterschiede geben, wie schnell jemand auf einen Außeneinfluss reagiert", betont Schubert.

Derzeit untersuchen die Österreicher auf diese Weise Brustkrebspatientinnen – und machten dabei bereits eine bemerkenswerte Beobachtung: Immer wenn das Niveau des Immunbotenstoffs Interleukin-6 (IL6) ansteigt, hebt sich auch die Stimmung der Probandinnen. IL6 zählt zwar bislang zu den proinflammatorischen Signalstoffen, aktiviert aber selbst eine Reihe antiinflammatorischer, also entzündungshemmender Mediatoren. Der Botenstoff könnte daher in gewisser Weise an der Schwelle zwischen entzündlicher und antientzündlicher Immunantwort stehen. "Wenn sich diese Beobachtung bestätigt, wäre das ein erster konkreter Hinweis darauf, dass das Immunsystem die Psyche auch positiv beeinflusst", meint Schubert. Dieser umgekehrte Zusammenhang wird zwar seit einiger Zeit in Fachkreisen diskutiert – konkrete Beweise dafür stehen aber noch aus.

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