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Wetter: Kochende Emotionen

Steigt das Thermometer, sinkt die Hemmschwelle: An heißen Tagen nehmen Aggressionen und Gewalttaten deutlich zu. Schreitet der Klimawandel weiter fort, könnte das zu einem ernsten Problem werden.
Hitze macht aggressiv

Diese Hitze! Diese Dürre! So viel Sommer war in Europa schon lange nicht mehr. Es kommt zu Ernteausfällen und Waldbränden, mehrere Kernkraftwerke mussten bereits ihre Leistung drosseln. In Hamburg setzt die Polizei sogar Wasserwerfer ein, um die Bäume in den Parks zu gießen. Und ein Supermarkt im hessischen Friedberg hat auf die drückenden Temperaturen mit einem – nicht ganz ernst gemeinten – Sonderangebot reagiert: Zwei Minuten Aufenthalt im Kühlhaus kosten dort drei Euro.

Doch wie wirken sich solche Wetterphasen eigentlich auf unsere Psyche aus? In Mitteleuropa sind wir schließlich eher gemäßigte Temperaturen gewohnt. Wenn das Thermometer dann einmal auf über 35 Grad klettert, herrscht bei uns schnell Ausnahmezustand. Dass hitziges Wetter auch hitzige Gemüter begünstigt, war schon im 16. Jahrhundert bekannt: »In diesen heißen Tagen ist das tolle Blut aufrührerisch«, heißt es etwa in William Shakespeares »Romeo und Julia«. Und in Albert Camus' Erzählung »Der Fremde« begeht der Protagonist unter der gleißenden Nachmittagssonne Algeriens sogar einen Mord. »Vom Meer kam ein starker, glühender Hauch. Mir war, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer regnen zu lassen«, so schildert er den Moment, in dem er einen Unbekannten am Strand niederschießt – ganz so, als würde ihn das für einen Augenblick von der unerträglichen Hitze erlösen: »Ich schüttelte Schweiß und Sonne ab.«

Autofahrer hupen an heißen Tagen länger

Ein Zusammenhang zwischen Hitze und aggressivem Verhalten zeigt sich auch in empirischen Studien – und zwar über eine bemerkenswerte Breite der verschiedensten Messungen. Das fängt schon bei vermeintlichen Nebensächlichkeiten an, etwa im Straßenverkehr: In einer klassischen Studie aus den 1980er Jahren sollte eine Handlangerin der Forscher etwa eine grüne Ampel »verschlafen« und so den Unmut der hinter ihr wartenden Autofahrer auf sich ziehen. An heißen Tagen wurde sie dafür mit besonders langen Hupkonzerten belohnt. Am meisten hupten dabei jene Fahrer, die über keine Klimaanlage verfügten, der Hitze also am stärksten ausgesetzt waren.

Auch im Baseball häufen sich unsportliche Manöver bei drückender Hitze. Das ergab ein statistischer Abgleich von Spielberichten und den Wetterdaten zur jeweiligen Turnierzeit: An allzu sonnigen Tagen kommt es besonders oft zu einem schmerzhaften »hit by pitch«, bei dem der Pitcher den Schlagmann (versehentlich oder nur scheinbar versehentlich?) mit dem Ball am Körper trifft.

So weit zu den eher harmlosen Folgen. Dass hohe Temperaturen aber auch handfeste Auswirkungen haben können, zeigt eine Studie des niederländischen Sozialpsychologen Aldert Vrij und seiner Kollegen. Die Forscher baten knapp 40 junge Polizisten zu einer Trainingseinheit ins Labor. In einer lebensnahen Computersimulation sollten diese auf eine Bedrohung reagieren. An ihrem virtuellen Einsatzort sahen sich die Beamten mit einem aufgebrachten Mann konfrontiert, der sie mit einer massiven Brechstange bedrohte. Die Testpersonen trugen eine »Dienstwaffe« am Gürtel, die statt mit scharfer Munition allerdings nur mit einem harmlosen Laserstrahl ausgestattet war. Die Raumtemperatur war nicht für alle Versuchsteilnehmer die gleiche. Die Hälfte absolvierte ihr Training bei angenehmen 21 Grad Celsius, während die übrigen bei schwer erträglichen 27 Grad im Labor schwitzen mussten.

Dieser Wärmeunterschied sollte das Verhalten der Beamten maßgeblich beeinflussen. Nicht nur schätzten sie ihr Gegenüber als nervöser und gefährlicher ein, wenn die Heizung voll aufgedreht war. Sie griffen auch häufiger zur Waffe. Bei normaler Zimmertemperatur schossen sie in 45 Prozent der Fälle. Im aufgeheizten Raum taten das hingegen mehr als 60 Prozent der Beamten.

Bei Hitze sitzt der Finger am Abzug lockerer

»Unglücklicherweise erzeugen heiße Temperaturen ein generell negatives Erregungsniveau und einen negativen Affekt«, so erklären die Autoren das Ergebnis in ihrem Artikel. »Dieser wird dann auf ein hervorstechendes Objekt im Aufmerksamkeitsfeld der Person übertragen; ein Objekt, das von ihr als plausible Quelle für den negativen Affekt angesehen werden kann.« Einfacher ausgedrückt: Wegen der brütenden Raumhitze fühlten sich die Polizisten einfach generell unwohl – und schoben den schwarzen Peter dann dem Mann mit der Brechstange zu. Deswegen saß bei Hitze der Finger am Abzug lockerer. Im wahren Leben hätte dieser Effekt potenziell tödliche Auswirkungen. Andere psychologische Experimente zeigten ebenfalls, wie Teilnehmer unter dem Einfluss von Hitze enthemmter reagieren und ihrem Gegenüber beispielsweise längere Elektroschocks verpassten, wenn sie die Möglichkeit dazu hatten.

Auch außerhalb der psychologischen Versuchslabore zeigt sich ein bemerkenswert stabiler Zusammenhang zwischen Hitze und Aggression. Im Sommer liegt die Mordrate in den USA zum Beispiel im Mittel um 2,6 Prozent höher als in den übrigen Jahreszeiten, errechnete der US-Psychologe Craig Anderson anhand von Verbrechensstatistiken. Und in heißen Sommern kommt es laut dem Forscher zu mehr Gewaltverbrechen als in kühlen Sommern. Dieser Effekt blieb selbst dann bestehen, als Anderson mögliche Störfaktoren statistisch herausrechnete.

Politische Auseinandersetzungen scheinen in den Sommermonaten ebenfalls häufiger zu eskalieren: Eine Arbeitsgruppe um den Geografen John O'Loughlin analysierte etwa einen Datensatz mit Konflikten in Ostafrika von 1990 bis 2009. Jedem einzelnen der mehr als 16 000 Einzelereignisse ordnete er die entsprechenden Wetterdaten zu. Das Ergebnis: Bei sehr heißem Wetter stieg die Wahrscheinlichkeit für einen gewaltsamen Konflikt deutlich an, nicht jedoch bei ungewöhnlich kühlen Temperaturen. Starker Regen trug übrigens nicht zu einer Konflikthäufung bei. Ganz im Gegenteil, bei hohem Niederschlag nahm die Gewalt statistisch gesehen sogar eher ab. Ähnliche Studien aus anderen Teilen der Welt kommen meist zu vergleichbaren Ergebnissen. Hitze scheint politische Gewalt regelrecht anzufachen.

Wenn sich die mittlere Monatstemperatur einer Region um ein Grad erhöht, steigt die Suizidrate in den USA um 0,7 Prozent an

Die unschönen Folgen der Hitze sind aber nicht auf Verbrechen beschränkt. Einer aktuellen Studie des Ökonomen Marshall Burke von der US-amerikanischen Stanford University zufolge nehmen sich Menschen an heißen Tagen auch häufiger das Leben. Wenn sich die mittlere Monatstemperatur in einer bestimmten Region um nur ein Grad erhöht, steigt die Suizidrate in den USA um 0,7 Prozent an – in Mexiko sogar um mehr als zwei Prozent.

Den schädlichen Einfluss der Hitze konnte der Forscher gemeinsam mit Kollegen sogar anhand von Daten der Internetplattform Twitter zeigen. Dafür analysierte Burke einen enormen Datensatz von über 600 Millionen Tweets mit den entsprechenden Standortdaten. Datum und genaue Herkunft der Mitteilungen waren also bekannt. Es stellte sich heraus: Wurden Tweets in überdurchschnittlich heißen Monaten abgesetzt, enthielten sie viel häufiger depressive Schlüsselwörter – Begriffe, wie sie Menschen mit Depressionen häufig benutzen, beispielsweise »einsam«, »trostlos« oder »schlimm«. Das deuten Marshall Burke und seine Kollegen als weiteren Beweis dafür, dass uns starke Hitze oft aufs Gemüt drückt.

Die Faktenlage scheint eindeutig: Hitze macht dem Menschen zu schaffen. Von aggressivem Verhalten bis hin zu Suizidneigung und Gewaltverbrechen haben Forscher eine ganze Reihe schädlicher Effekte aufdecken können. Warum genau das so ist, kann bislang noch niemand mit Sicherheit sagen. Doch ein paar stichhaltige Vermutungen gibt es. So gehen starke Dürren oft mit schlechten landwirtschaftlichen Erträgen und Wasserproblemen einher. Diese Ressourcenknappheit könnte gewaltsame Konflikte schüren. In diesem Fall wären es also eher die Folgen der Hitze als die Sonneneinstrahlung selbst, die zu einer Eskalation beitragen. Oft lässt eine unselige Allianz aus Armut und starken Wetterumschwüngen Konflikte in benachteiligten Gesellschaftsschichten hochkochen – während reiche Menschen sich in der Regel besser vor den Folgen der Naturgewalten schützen können. Solche indirekten Effekte kommen allerdings erst mit einer gewissen Verzögerung zum Tragen. Änderungen auf Tagesebene (wie etwa bei den aggressiven Hupkonzerten an besonders heißen Sommertagen) erklärt das aber nicht.

Bei Hitze machen wir schnell aus einer Mücke einen Elefanten

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt die so genannte Crankiness-Hypothese (nach englisch »cranky« = griesgrämig, verrückt). Ihr zufolge werden wir sehr schnell übellaunig und gereizt, wenn wir uns unwohl fühlen – beispielsweise wegen drückender Temperaturen. Aus kleinen Kränkungen werden dann rasch große Dramen, sprich: Bei Hitze machen wir schnell aus einer Mücke einen Elefanten.

Auch unser Denkapparat funktioniert bei starker Hitze nicht mehr ganz einwandfrei. Erst kürzlich konnte eine Studie mit jungen Studierenden aus Boston zeigen, wie sehr sich unsere Auffassungsgabe bei Hitze verschlechtert. Knapp zwei Wochen lang sollten die Teilnehmer täglich eine ganze Testbatterie über sich ergehen lassen. Die Teilnehmer ohne Klimaanlage mussten im Schnitt 26 Grad Celsius in den Innenräumen ertragen. Das wirkte sich offenbar auch auf ihre kognitiven Leistungen aus: Sie waren langsamer im Reaktionstest und brauchten merklich länger für kleine Kopfrechenaufgaben.

Was das mit Aggressivität zu tun hat? »Anomalien im Klima können zu Konflikten führen, weil sie Kognitionen und Ursachenzuschreibungen schwieriger und fehleranfälliger machen«, schreibt der Umweltforscher Solomon Hsiang in einem Artikel für die Fachzeitschrift »Science«. Seine Vermutung: Bei belastendem Wetter würden wir ambivalente Situationen eher fehlinterpretieren, Missverständnisse würden sich häufen. In einem kritischen Moment können solche Kleinigkeiten dazu beitragen, dass ein Konflikt eskaliert.

Der Psychologe Craig Anderson prophezeit für die USA knapp 22 000 Mordfälle mehr – und das für jeden Anstieg um ein Grad in der mittleren Jahrestemperatur

Die Hitze-Aggressivitäts-Hypothese zeichnet ein recht düsteres Bild von der Zukunft. Den Sommer 2018 erleben wir als außergewöhnlich heiß. Vieles spricht jedoch dafür, dass derartige Temperaturextreme in den kommenden Jahren zunehmen werden. Viele Forscher vermuten: Schreitet der Klimawandel weiter voran, werden sich weltweit auch Gewalttaten und Konflikte häufen. Der Psychologe Craig Anderson prophezeit für die USA knapp 22 000 Mordfälle mehr – und das für jeden Anstieg um ein Grad in der mittleren Jahrestemperatur.

Derartige Hochrechnungen lassen freilich außer Acht, wie komplex die Beziehung zwischen klimatischen Bedingungen und menschlichem Verhalten sind. Es wäre naiv, Gewalttaten und Aggressionen allein auf die Außentemperaturen zurückzuführen. Nur wegen der bedrückenden Hitze gehen sich Menschen schließlich nicht automatisch an die Gurgel. Die Ursachen für Morde und bewaffnete Konflikte sind mannigfaltig; persönliche Biografien spielen dabei ebenso eine Rolle wie der politische Rahmen oder die wirtschaftlichen Bedingungen eines Landes. Hitze allein kann das Feuer der Gewalt also kaum entfachen. Doch mitunter wirkt sie als Brandbeschleuniger: So wird aus einem kleinen Missverständnis schnell ein handfester Streit – im schlimmsten Fall mit blutigem Ausgang.

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