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News: Wenn die schnelle Nummer beim Zählen stört

Wasser hat die chemische Formel H2O - so viel hat wohl jeder aus dem Chemieunterricht behalten. Da lohnt es sich nicht, noch einmal nachzuzählen. Tut man es doch, kann das zu einem überraschenden Ergebnis führen. Mit gestreuten Neutronen oder Elektronen sind nämlich anstelle der erwarteten 2 nur 1,5 Wasserstoffatome pro Molekül zu finden.
H1.5O
Wie untersucht man Dinge, die so klein sind, dass selbst unter dem Mikroskop nichts zu erkennen ist? Immer wieder stehen Wissenschaftler vor dieser Frage, wenn sie den Aufbau und die Eigenschaften von Molekülen, Atomen oder Kernstrukturen ergründen wollen. Im Laufe der Jahrzehnte haben sie mit viel Einfallsreichtum ein ganzes Arsenal an indirekten Methoden entwickelt, mit denen sie den Objekten ihre Geheimnisse zu entlocken trachten. Beliebt sind unter anderem Verfahren, in denen Teilchen auf die Struktur geschossen und von dieser abgelenkt werden. Aus dem resultierenden Trefferbild schließen Forscher dann auf die Merkmale des Objekts. Je nach verwendetem Geschoss und Art der Wechselwirkungen eignen sich die unterschiedlichen Varianten für verschiedene Fragestellungen.

Die Verfahren der Elektronen-Compton-Streuung und der Neutronen-Compton-Streuung geben beispielsweise Aufschluss über den Impuls von Kernbausteinen. Dazu werden energiereiche Elektronen bzw. Neutronen auf das Ziel gefeuert. Geraten dabei die Elektronen in die Nähe von Protonen im Kern, so werden sie wegen der wirkenden elektromagnetischen Kräfte gestreut, wobei sie einen Teil ihrer Energie übertragen. Ähnliches geschieht, wenn man Neutronen schießt, nur dass hier die starke Wechselwirkung für die Streuung sorgt. In beiden Fällen verraten die Energiespektren dem geübten Physiker, was es mit den Atomkernen der Probe auf sich hat.

Ein besonderer Vorteil der Streuungsmessungen ist, dass sie nicht nur sehr kleine Strukturen ergründen können, sondern auch Vorgänge, die sehr schnell ablaufen. Allerdings kann es bei den ganz flüchtigen Blicken durchaus zu scheinbar fragwürdigen Ergebnissen kommen. So stellte ein australisch-britisch-deutsches Wissenschaftlerteam um Aris Chatzidimitriou-Dreismann von der Technischen Universität Berlin fest, dass bei ihren Experimenten mit simplem Wasser offenbar einige Wasserstoffkerne irgendwie "unsichtbar" geworden waren. Anstelle der zwei Wasserstoffatome pro Sauerstoffatom ergaben ihre Streuversuche nur anderthalb. Die Summenformel des Wassers wäre demnach H1,5O und nicht H2O, wie es jedes Kind in der Schule lernt. Ließ sich das Verfahren eventuell nicht auf Wasser anwenden? Dieses unschuldig wirkende Molekül hat ja auch sonst gerne seine Eigenheiten.

Zur Kontrolle führten die Wissenschaftler ihre Tests an Benzol (C6H6) durch und erhielten wieder einen Mangel an Wasserstoff (C6H4,5). Auch Messungen mit dem festen Polymer Formvar (C8H14O2) verliefen mit dem gleichen Ergebnis: Ein Teil der Wasserstoffkerne war für die Elektronen bzw. Neutronen unsichtbar.

Des Rätsels Lösung vermuten die Forscher in Effekten, die bei früheren Experimenten nicht bemerkt wurden, weil sie für die damalige Technik einfach zu schnell stattfinden. Erst mit den neuen, ultraschnellen Messungen, die noch Abläufe in Zeiträumen einiger hundert Attosekunden (eine Attosekunde sind 10-18 Sekunden) erfassen können, sind ihre Auswirkungen nachweisbar. In dem Falle der "verschwundenen" Wasserstoffkerne nehmen die Physiker an, dass es sich um eine extrem kurzzeitige Verschränktheit von Protonen handelt. Nach diesem Modell aus der Quantenmechanik können Teilchen ihre Schicksale eng miteinander verknüpfen, sodass sie für die Teilchenstrahlen nicht mehr wie getrennte Individuen erschienen.

In dem Tempo gedacht, in welchem wir Menschen uns bewegen, haben die Chemiebücher also weiterhin Recht, wenn sie jedem Sauerstoffatom im Wasser zwei Wasserstoffatome zuschreiben. Es hat eben mitunter seine Vorteile, die Welt mit einem leicht trägen Blick zu betrachten.

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