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Triage-System: »Wer das Beatmungsgerät am meisten braucht, bekommt es«

Ethik in Zeiten der Corona-Krise: Mit dem Triage-System entscheiden Ärzte über Leben und Tod. »Überlebenschancen spielen im ersten Moment keine Rolle«, sagt Notarzt Leo Latasch.
Fachgesellschaften und der Ethikrat haben eine Handlungsanweisung dazu publiziert, wann Ärzte Coronavirus-Patienten behandeln oder ihnen nur noch beim Sterben helfen sollten.

Welcher Covid-19-Patient wird behandelt, welchem schwer Lungenkranken das Beatmungsgerät verwehrt? Vor dieser Entscheidung stehen Ärztinnen und Ärzte in Italien oder Frankreich derzeit täglich. Denn wegen der Corona-Pandemie fehlen lebensrettende medizinische Ressourcen. Für den Fall der Fälle haben medizinische Fachgesellschaften sowie der Deutsche Ethikrat jüngst Empfehlungen für Deutschlands Ärzte veröffentlicht. Was davon zu halten ist, wie das System namens Triage funktioniert und warum kein neues Gesetz die Entscheidung über Leben und Tod regeln sollte, erklärt der Notfall- und Intensivmediziner Leo Latasch im Interview.

»Spektrum.de«: Triage bedeutet, dass begrenzte medizinische Ressourcen zuerst denen zur Verfügung gestellt werden, die sie am dringendsten brauchen. Wie darf ich mir das genau vorstellen?

Leo Latasch: Verletzte bei einem Großschadensereignis werden zum Beispiel in drei Kategorien eingeteilt. In der Kategorie Rot landen Patienten, die eines sofortigen Transports und in der Klinik einer sofortigen Versorgung bedürfen. In der gelben Kategorie sind auch Schwerverletzte, deren Versorgung aber mehrere Stunden warten kann. Und in der grünen Kategorie sind jene, die sich zum Beispiel einen Arm gebrochen haben und damit ein paar Tage rumlaufen können, ohne dass sie akut gefährdet wären. Nach diesem System wurde zum Beispiel beim ICE-Unglück von Eschede gearbeitet.

Wie steht es hier zu Lande um die medizinischen Ressourcen?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist Deutschland in Europa wohl am besten aufgestellt. Wir hatten zu Beginn der Krise 28 000 Intensivbetten, zirka 24 000 mit Beatmungsmöglichkeit. Davon waren etwa 70 bis 75 Prozent belegt, zum Beispiel mit Patienten nach großen Operationen oder mit Menschen, die schwer an der saisonalen Grippe erkrankt sind. Seit gut zehn Tagen haben die deutschen Kliniken alle nicht lebensnotwendigen Operationen ausgesetzt. Dadurch haben wir mindestens 5000 zusätzliche Beatmungsplätze geschaffen, 2000 bis 3000 weitere sollten wir in Reserve haben. Außerdem hat die Bundesregierung 10 000 Beatmungsgeräte bei einem deutschen Hersteller bestellt, die aber nicht sofort geliefert werden können. Vor diesem Hintergrund betrübt es mich, dass manche Menschen, auch Politiker, von einem Krieg sprechen. Wir befinden uns nicht im Krieg. Solche Ausdrücke tragen nicht besonders zur Beruhigung der Bevölkerung bei.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unseren FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.
Leo Latasch | Der Notfall- und Intensivmediziner war zwischen 2006 und 2018 ärztlicher Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) der Stadt Frankfurt. Latasch ist zudem Professor für Anästhesiologie und seit 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Am Mittwoch haben sieben Organisation aus dem intensivmedizinischen Bereich eine ethische Empfehlung für eine medizinische Triage abgegeben. War das nötig – etwa weil Zustände wie in Italien zu erwarten sind?

Letzteres glaube ich nicht. Ich bin auch über diese Empfehlung ein wenig unglücklich. Darin steht nicht »Wir könnten eines Tages in diese Situation kommen«, sondern »Wir kommen in diese Situation«. Als Kollege muss ich sagen: Das verbreitet unnötig Panik. Ich bezweifle, dass wir in Deutschland diesen Punkt erreichen werden, wo Ärzte Triage an Patienten vornehmen müssen.

Das ist zu hoffen. Nun ist es aber in Italien und Spanien so gekommen. Wie würde man in Deutschland mit einer vergleichbaren Situation umgehen?

Die unmittelbaren Vorgaben und Entscheidungen sollten ausschließlich Ärzte treffen. Nehmen wir ein Fallbeispiel: Ein Arzt hat ein Beatmungsgerät und fünf Patienten. In dieser Situation gilt in der Triage immer der Satz: Egal, wie groß das Schadensereignis ist, es wird zuerst der behandelt, der es am meisten braucht, und zwar unabhängig von Alter, Herkunft, Vorerkrankungen oder sonst etwas. Selbst die Überlebenschancen spielen in diesem ersten Moment keine Rolle. Die Entscheidung hängt allein am medizinischen Zustand, also dem Erscheinungsbild, sowie an Vital- und Labordaten. Wenn fünf Patienten gleichzeitig im Krankenhaus eintreffen, muss ich entscheiden, wer noch ein wenig warten kann und wen ich sofort behandeln, zum Beispiel beatmen, muss. Dies kann der älteste Patient mit den schlechtesten Labordaten sein. Wenn ein Patient aber erst mal an einem Beatmungsgerät hängt, ist es juristisch verboten, es wieder abzunehmen, auch wenn ein anderer damit primär eine größere Überlebenschance hätte. Das wäre zumindest Totschlag und ist nicht durch ärztliche Ethik oder durch Verordnungen vertretbar. Ganz einfach, weil niemand anordnen kann, wer das Recht auf Leben hat und wer nicht. Das ist auch die Position des Ethikrats.

Wie geht man dann in solchen Situationen vor?

Derjenige, der das Beatmungsgerät am meisten braucht, bekommt es. Ich darf es diesem Patienten, auch wenn er kurzfristig gesehen schlechtere Chancen hat als die anderen vier, nicht wegnehmen. Das bedeutet unter Umständen: Vier werden sterben. Ich habe keine andere Möglichkeit als Arzt.

»In Frankreich sind ein paar verwerfliche Dinge eingetreten«

Aber in anderen Ländern werden doch genau diese Situationen nicht so gehandhabt, oder?

Ja, zum Beispiel in Frankreich. Da sind ein paar verwerfliche Dinge eingetreten. Da bekommt jemand, der 80 Jahre alt ist und in einem Pflegeheim liegt, keine Geräte mehr, sondern Opiate und Schlafmittel. Das ist vorsätzliche Tötung. Das sind Zustände, die weder mit der aktuellen Situation noch mit Ethik in irgendeiner Form vereinbar sind. In den vergangenen vier bis fünf Tagen haben unter anderem Österreich, Schweiz, die USA und England den Entzug laufender Beatmung ins Spiel gebracht, um unter dem Strich mehr Leben zu retten. Das ist jedoch in keiner Form mit den ethischen Grundsätzen der Triage zu vereinbaren und wird in Deutschland so auch nicht empfohlen.

In den Empfehlungen der Fachgesellschaften steht: »Die Priorisierung von Patienten sollte sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der »best choice« bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht.« Wie bewerten Sie diese Empfehlung?

Dem stimme ich zu. Dies bedingt allerdings gerade nicht, dass ich bei einem Patienten, der schon anbehandelt wurde, einfach aufhöre; zumindest nicht zu Beginn. Wenn Sie einige Wochen anbehandelt wurden, aber mit allen Therapien der Zustand immer schlechter wird, so wie im Falle eines Hirntods, ließe sich zwar noch weitermachen, der Arzt kann aber auch kurzfristig alles abstellen. Dann stimmt die Aussage. Diese Position vertrete ich auch als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin.

Was, wenn ein Patient beatmet wird und keine Überlebenschancen mehr hat?

Dann mache ich als Arzt das, was ich sonst auch mache. Wenn es keine Patientenverfügung gibt, sage ich den Angehörigen, dass es nach medizinischen Kriterien keine Hoffnung mehr gibt, das Leben des Menschen zu retten. Die Geräte werden dann in absehbarer Zeit oder auf Wunsch der Angehörigen sofort abgestellt. Das ist dann keine Triage, sondern Klinikalltag. Wer dagegen ein Beatmungsgerät abstellt, während es noch Hoffnung für den Patienten gibt, macht sich strafbar.

In einem aktuellen Artikel im »New England Journal of Medicine« wird von Triage-Komitees gesprochen, die Ärzten die schweren Entscheidungen abnehmen sollen. Was halten Sie davon?

Ärzte können selbst in der Triage entscheiden. Es gibt keinerlei juristische Voraussetzung dafür, dass sich irgendwelche Leute zusammensetzen und die Triage-Entscheidungen einfach übernehmen. Das gilt auch für Komitees von Ärzten. Abgesehen davon empfehlen die Fachgesellschaften Ärzten eh, schwere Entscheidungen nicht allein zu treffen. Stattdessen sollten alle Ärzte zu Rate gezogen werden, die an der Behandlung eines Patienten unmittelbar beteiligt sind.

»Ich muss dem Gesetzgeber dringend davon abraten, per Gesetz oder Verordnung etwas an der Triage zu ändern«

Was halten Sie derzeit für die größte Herausforderung auf den Intensivstationen?

Aktuell fehlen zirka 15 000 Schwestern und Pfleger. Das sind jedoch die, die das System aufrechterhalten. Zudem werden die arbeitenden Krankenpfleger und Schwestern an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit kommen. Sollten die Krankenhäuser wider Erwarten komplett ausgelastet sein, kann es an Pflegepersonal mangeln, das die Geräte bedient und die Patienten versorgt. Deshalb hat zum Beispiel Agaplesion, ein Unternehmen mit 22 Krankenhäusern, das ich berate, damit begonnen, ein Kompendium für normales Pflegepersonal zu erstellen, für die Bedienung von Beatmungsgeräten und die Intensivversorgung von Patienten.

Wenn es hart auf hart kommt und Personal- und Materialressourcen zur Neige gehen, könnte der Bundestag dann neue Triage-Regeln als Gesetz erlassen?

Ich muss dem Gesetzgeber dringend davon abraten, per Gesetz oder Verordnung etwas an der Triage zu ändern. Dann würde das Grundrecht auf Leben nicht mehr existieren. All das, was wir uns nach dieser schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus erworben haben, wäre verloren. Dann hätten wir keine Triage mehr, sondern verordnete Selektion.

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