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Ernährung : Werden Obst und Gemüse immer ungesünder?

Damit Obst und Gemüse süßer, haltbarer und ansehnlicher werden, verändern Züchter das Erbgut vieler Sorten immer weiter. Doch bleiben dabei vielleicht auch jene Inhaltsstoffe auf der Strecke, die sie für uns so gesund machen?
Tomaten und Kartoffeln

Obst und Gemüse sind gesund. Wer viel davon isst, der feit sich gegen Herzkrankheiten, möglicherweise auch noch gegen Diabetes, Krebs und Demenz. Doch seit Jahrzehnten modeln Pflanzenzüchter das Genom der Pflanzen um, optimieren es auf Ertrag, Resistenz, Haltbarkeit und schönes Aussehen. Modernes Obst und Gemüse soll oft möglichst süß und bitterstoffarm sein, um dem Verbrauchergaumen zu schmeicheln. Denn die Evolution hat uns eingeimpft, dass Bitteres giftig ist, während Süße Nährstoffreichtum und Ungefährlichkeit anzeigt. Und so züchtet man bereits Gurken, Chicorée und Grapefruits ohne Bitterstoffe und trimmt Bananen, Orangen und kernlose Trauben auf einen hohen Zuckergehalt. Auch Tomaten oder Äpfel brauchen eine gewisse Süße, allerdings bei gut austariertem Säuregehalt. Die Aromastoffe bleiben bei all dem häufig auf der Strecke, und auch eigentlich als gesund geltende Farbstoffe wurden inzwischen als unerwünscht ausgemacht, etwa das Blau bei Mais, Spargel oder Kartoffeln.

Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer »genetischen Erosion«, bei der die genetische Vielfalt innerhalb verschiedener Pflanzenarten verloren geht. Ein Verlust, der streng genommen bereits vor 10 000 Jahren begonnen hat, als der Mensch aufhörte, sich von wilden Pflanzen zu ernähren, und dafür Feld und Acker bestellte. Damals selektierte der Bauer vermutlich die ertrag- und aromareichsten Vertreter einer Linie, die zusätzlich ein angenehmes Mundgefühl erzeugten, während heute zunehmend die Lebensmittel verarbeitende Industrie neue Anforderungen an die Züchter stellt. Beispielsweise wurde extra für die Zubereitung von Fertig-Sandwiches eine Tomate entwickelt, die wenig Saft enthält.

Obst und Gemüse | Seit jeher empfehlen Ernährungsexperten, viel Obst und Gemüse auf den Speiseplan zu setzen.

Die US-amerikanische Journalistin Jo Robinson warnt in ihrem Buch »Eating on the Wild Side«, dass mit dieser Verschlankung des Genpools auch so genannte sekundäre Pflanzenstoffe auf der Strecke bleiben, die für zahlreiche gesundheitsfördernden Effekte von Obst und Gemüse verantwortlich sein sollen. Rund 8000 verschiedene solcher Stoffe, die der Pflanze als Abwehrstoffe gegen Fressfeinde und als Wachstumsregulatoren dienen oder ihren Früchten Farbe verleihen, haben Chemiker in Nahrungspflanzen bislang aufgespürt. Die bekanntesten Vertreter sind: Lykopin in der Tomate, Resveratrol in Trauben und Katechine im Tee. Löwenzahn hat beispielsweise laut Robinson siebenmal mehr gesunde Inhaltsstoffe als Spinat, und manche Apfelsorten sollen gar 100-mal mehr sekundäre Pflanzenstoffe liefern als ein schnöder Golden Delicious. Eine lilafarbene Kartoffel aus Peru soll glatt 24-mal so viele Anthocyane wie eine normale Kartoffel enthalten. »Allein die Anthocyane haben das Potenzial, Krebs zu bekämpfen, Entzündungen zu lindern, Cholesterinspiegel und Blutdruck zu senken, das alternde Gehirn zu schützen und das Risiko für Übergewicht und Herzkrankheiten zu vermindern«, schreibt Jo Robinson.

Wissenschaftlich nicht haltbar

Verschiedene Zeitungen griffen Robinsons Warnungen auf. Wissenschaftlich bestätigen lässt sich diese Theorie – so plausibel sie auch erst einmal klingen mag – allerdings nicht. Es stimmt zwar, dass heutige Supermarktsorten teilweise nicht mehr so viele verschiedene sekundäre Pflanzenstoffe bergen wie alte Sorten oder gar Wildarten. So hat etwa Detlef Ulrich, Chemiker am Julius Kühn-Institut, in eigenen Untersuchungen mit 70 verschiedenen Sorten bei handelsüblichen Erdbeeren geringere Aromastoffgehalte nachgewiesen als bei Wildformen. Von den blumig-zitrusartigen Terpenen fand Ulrich beispielsweise in der wilden Moschuserdbeere (Fragaria moschata) bis zu achtmal mehr als in der Elsantaerdbeere aus dem Supermarktregal. Diese Aromen stehen im Ruf, möglicherweise gegen Mikroben zu wirken und Entzündungen einzudämmen.

Und auch für Apfelphenole, denen verschiedene Studien ebenfalls eine gesundheitsförderliche Wirkung zuschreiben, die allerdings auch einen bitteren Geschmack mit sich bringen, ist der Rückgang belegt. »Ob das für sämtliche Obst- und Gemüsesorten verallgemeinert werden kann, ist jedoch nicht klar«, sagt Ulrich. Beispielsweise liefere Kohl sehr viele Aromastoffe, die als gesund gelten. Diese Variabilität führt dazu, dass zwischen den positiven Stoffen und dem Geschmack kein strenger Zusammenhang besteht. Es sind heute bereits äußerst mild schmeckende Brokkolisorten auf dem Markt, die sehr wohl wichtige sekundäre Pflanzenstoffe liefern wie etwa Glucosinolate oder Provitamine.

Zudem ist ungewiss, ob sich die verringerten Mengen an Pflanzenstoffen tatsächlich auf die Gesundheit auswirken. »Das wurde bei den Studien nicht untersucht«, sagt Ulrich. Es gibt vereinzelte Arbeiten, die auf einen solchen Effekt hindeuten und auch in Robinsons Buch zitiert und als Beweis angeführt werden. Bei einer iranischen Studie aus dem Jahr 2011 etwa hat der Ernährungswissenschaftler Mohammad Reza Vafa 23 übergewichtigen Männern mit erhöhtem Cholesterinspiegel über acht Wochen hinweg eine Golden-Delicious-Kur angedeihen lassen. Die Kontrollgruppe bekam keine gesonderten Ernährungsempfehlungen. Das verblüffende Ergebnis: In der Apfel-Gruppe hatten sich einige Blutfettwerte sogar noch verschlechtert. Vafa erklärt dieses Phänomen mit dem marginalen Gehalt an gesunden Polyphenolen und dem hohen Fruchtzuckergehalt des Golden Delicious. »An apple a day did not keep the doctor away«, textete Robinson daraufhin.

Solche Studien sind jedoch zu klein, um wirklich als Beleg für die scheinbare Wertlosigkeit der heutigen Gemüsesorten herhalten zu können. Außerdem ist ein hoher Blutfettspiegel nur ein so genannter »Surrogatmarker«, er sagt allein über Gesundheitsrisiken wie etwa das Herzinfarktrisiko wenig aus. Bernhard Watzl, Ernährungswissenschaftler am Max Rubner-Institut, kritisiert zudem, dass die Forscher die Ernährung ihrer Probanden als Ganzes nicht kontrollierten – was unabdingbar ist für die korrekte Interpretation der Ergebnisse.

Wie gut tun uns sekundäre Pflanzenstoffe wirklich?

Umgekehrt ist nicht ausreichend bewiesen, in welchem Umfang die sekundären Pflanzenstoffe wirklich dem Körper zuträglich sind. In Zellkultur- und Tierversuchen waren diese zwar oft wirksam, und neuerdings weisen auch epidemiologische Studien darauf hin, dass einige dieser Stoffe vor Krebs schützen, aggressive Substanzen im Körper abfangen, Entzündungen hemmen oder Bakterien und Viren abtöten können. Aber: »Für den Gesundheitseffekt spielt nicht eine einzelne Gruppe an sekundären Pflanzenstoffen eine Rolle, sondern die Vielfalt und Komplexität der gesamten Ernährung«, erklärt Watzl.

Zudem werden Obst und Gemüse ja nicht nur wegen ihrer sekundären Pflanzenstoffe empfohlen. »Die Energiedichte ist trotz geringfügig höherer Zuckergehalte im Vergleich zu vielen anderen Lebensmitteln immer noch niedrig«, sagt Thomas Ellrott, Ernährungspsychologe an der Universität Göttingen. Als Energiedichte bezeichnet man den Kaloriengehalt eines Lebensmittels pro Gewicht oder Portion. Ist der Gehalt gering, wie etwa bei Suppen oder Salaten, heißt das im Umkehrschluss, dass die Speise viel Wasser liefert, man schneller satt ist und damit Übergewicht vorbeugt. Übergewicht gilt wiederum als einer der Wegbereiter für Diabetes, Herzkrankheiten und Darmkrebs.

»Für den Gesundheitseffekt spielt nicht eine einzelne Gruppe an sekundären Pflanzenstoffen eine Rolle, sondern die Vielfalt und Komplexität der gesamten Ernährung«
Bernhard Watzl

Obendrein sind Obst und Gemüse reich an vielen Mikronährstoffen wie Magnesium, Kalium, Kalzium oder Eisen, neben Vitamin C, E und Betacarotin. Zudem stecken im Grünzeug Ballaststoffe. »Daher sehe ich keinerlei Nachteil für die heute handelsüblichen Sorten«, meint Ellrott. Und der Bernhard Watzl führt noch ein Argument ins Feld: »Gleichzeitig verdrängen Obst und Gemüse in einem gewissen Umfang andere Lebensmittel mit einem geringeren präventiven Potenzial.«

Damit viel Obst und Gemüse gegessen wird, muss es schmecken. Dies sei ein Vorteil der bitterstoffarmen Sorten, vermutet Ellrott: »Möglicherweise werden entsprechend gezüchtete Gemüsesorten so auch für Verbraucher interessant, welche die herberen Varianten ablehnen.« Tatsächlich aßen die Deutschen laut dem Ernährungsbericht der DGE in den vergangenen Jahren mehr Gemüse, möglicherweise eine Folge der züchterisch veränderten Geschmacksprofile.

Eine Gegenbewegung gibt es trotzdem: So hat der Saatgutgigant Monsanto einen Brokkoli namens »Beneforte« gezüchtet, der zwei- bis dreimal mehr von dem natürlichen Antibiotikum Glucoraphanin enthält als ein herkömmlicher. Und ein holländischer Züchter brachte eine besonders lykopinreiche Tomate auf den Markt. Zudem versuchen einige Forscher auch verloren gegangene Pflanzenstoffe wieder zurückzuzüchten, teilweise indem vergessene Sorten wieder eingekreuzt werden. Einige Verbraucher helfen sich aber lieber selbst: Auf Wochenmärkten und in Schrebergärten floriert nonkonformes Gemüse. Der Wissenschaftler Ulrich hat ebenfalls einen eigenen Gemüsegarten: »Die Wildarten und die alten Sorten schmecken mir einfach besser.« Und lustvolles Essen, so zeigen neue Studien aus der Neurogastronomie, kann tatsächlich auch gut für Gesundheit und Wohlbefinden sein.

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