Mensch und Werkstoffe: »Materialien sind fundamentaler als Sprache«

Bei Materialien denkt man meistens erst einmal an Spezialwerkstoffe für die Industrie und moderne Hightech-Anwendungen. Tatsächlich aber durchziehen verarbeitete Stoffe wie Keramik, Stahl oder Textilien nahezu alle Aspekte unseres Lebens. Und das tun sie schon seit Zehntausenden von Jahren. Für den Materialforscher Mark Miodownik vom University College London sind unsere Werkstoffe jedoch mehr als nur nützliche Helfer. Im Interview erklärt er, warum Werkstoffe aus seiner Sicht zentral für die menschliche Existenz sind.
Herr Miodownik, haben Sie ein Lieblingsmaterial?
Ich sammle Materialien aller Art. In der Sammlung unserer Institutsbibliothek haben wir tausende Materialproben unterschiedlichster Herkunft – und mein Favorit ist meistens die neueste Anschaffung. Unser aktueller Neuzugang ist eine Manganknolle vom Pazifikboden aus zwei Kilometern Tiefe. Sie ist dort über Tausende von Jahren natürlich herangewachsen und enthält viele wichtige und nützliche Metalle wie Mangan und Titan. Dort unten liegen Milliarden von ihnen, und viele Staaten und Unternehmen wollen sie ernten, weil sie eine gute Quelle für Rohstoffe sind, die in der Hightech-Industrie benötigt werden. Vor einiger Zeit hat ein Forschungsteam aber festgestellt, dass diese Knollen möglicherweise Sauerstoff produzieren. Falls das stimmt, könnten sie eine bisher unbekannte Sauerstoffquelle auf unserem Planeten sein. Wir müssen also möglicherweise überdenken, wie Sauerstoff auf die Erde kam. So eine Manganknolle in der Hand zu halten ist wirklich was Besonderes.
Sie haben drei Bücher über Materialien geschrieben. Warum fasziniert Sie dieses Thema so?
All die komplexen Materialien, die wir heute kennen und verwenden, sind für das Menschsein enorm wichtig – ohne sie wären wir nur Affen. Sie machen uns zu den modernen Menschen, die wir heute sind. Wir tragen Kleidung, leben in Gebäuden und nutzen Werkzeuge aus den verschiedensten Stoffen. Ohne Materialien könnten wir keine Nahrung zubereiten und in den wenigsten Klimazonen überleben – vor allem aber würde das Leben weniger Spaß machen. Materialien sind aus meiner Sicht fundamentaler als Sprache, sie sind eine Art manuelle, physische Sprache. Aus der Tierwelt wissen wir, dass Werkzeuge älter sind als Sprache. Ich bin sicher, wir sind die Nachfahren eines Affen, der irgendwann mal dachte: »Wow, diese Werkzeuge sind so großartig, mit denen mache ich jetzt alles, was nur irgendwie geht.«
Welche Bedeutung haben Materialien heute für unseren Alltag?
Sie sind ein essenzieller Teil von uns. Wir drücken sogar unsere Werte dadurch aus. Ich meine nicht nur, dass Menschen Regale mit Büchern füllen, um intelligent zu wirken, oder sich modisch kleiden, um cool zu erscheinen. Die Beziehung zu Materialien ist viel grundlegender. Wir haben Beton erfunden, weil wir es leid waren, dass Sonne, Wind und Regen unsere Gebäude zerstören. Und viele Werkstoffe machen Dinge demokratischer. Alle Menschen können Gebäude oder Infrastruktur wie Straßen und Bahnen gleichermaßen nutzen.
In Ihrem Buch »Stuff Matters« beschreiben Sie Stahl als entscheidende gesellschaftliche Innovation. Was genau meinen Sie damit?
Ja, genau, Stahl ist so unfassbar wichtig. Es hat lange gedauert, bis wir Menschen dieses Material zum ersten Mal hergestellt haben, aber danach hat es uns eine ganz neue Lebensweise erschlossen. Stahl hat wirklich unseren Horizont erweitert: Es ist das perfekte Material für Werkzeuge. Selbst ein Kuscheltier wäre ohne Stahl nicht denkbar, denn man braucht Maschinen aus Stahl, um es herzustellen. Wir essen mit Messern und Gabeln aus Stahl. Interessant finde ich, dass es durchaus kulturelle Unterschiede gibt. In China etwa spielt Keramik eine große Rolle. Ein weiteres Beispiel ist Glas. Ohne Glas gäbe es keine Linsen und somit weder Brillen noch Teleskope – wir wüssten kaum etwas über das Universum oder über Mikroorganismen. Ohne Glas gäbe es keine moderne Wissenschaft. Um heute ein Mensch zu sein, braucht man Tausende von Materialien, aber wir nehmen diese Tatsache im Alltag gar nicht so richtig wahr.
Themenwoche: Werkstoffe und Materialforschung
Metalle, Textilien, Kunststoffe, Keramik – fast unsere gesamte Umwelt besteht aus verarbeiteten Materialien. Und das seit Tausenden von Jahren. Die Werkstoffe und ihre Eigenschaften prägen unseren Alltag und unsere Kultur. Doch die nächste Revolution steht schon bevor: nachhaltige Materialien ohne Müll und Treibhausgase. Und dabei sollen sie immer noch mehr leisten. Kann das gelingen?
- Interview: »Materialien sind fundamentaler als Sprache«
- Birkenpech: Das Rätsel um den ältesten Kunststoff der Welt
- Nachhaltige Werkstoffe: Hightech auf dem Holzweg
- Kunststoffe: Die radikale Lösung für die Plastikkrise
- Carbonbeton: Revolution im Inneren des Betons
- Aktive Materialien: Werkstoffe an der Grenze zum Leben
- Materialforschung: Künstliche Intelligenz für smarte Werkstoffe
Sie sind also der Ansicht, dass Werkstoffe schon immer die Geschichte und Kultur der Menschheit geprägt haben?
Ja, auf jeden Fall. Nicht zuletzt sind sogar die Zeitalter der Zivilisation nach Materialien benannt. Wir kennen die Steinzeit, die Bronzezeit und die Eisenzeit. Vermutlich gab es vor der Steinzeit auch eine »Holzzeit«, aber Holz erhält sich nur unter sehr speziellen Bedingungen, daher gibt es praktisch keine archäologischen Funde aus jener Zeit. Jedes Mal, wenn wir ein neues Material erfinden, eröffnen wir uns ganz neue Möglichkeiten. Und ich glaube, solange es Menschen gibt, wird das nie aufhören. Menschen verändern sich, ihre Wünsche und Träume verändern sich, und entsprechend verändern sich auch die Materialien. Wenn wir auf dem Mars leben oder überhaupt tiefer ins Weltall reisen wollen, müssen wir einen ganzen Haufen neuer Werkstoffe erfinden. Das ist das, was ich so aufregend finde. Materialien sind unser Exoskelett, ein fundamentales Merkmal unserer Spezies.
Wenn wir aufhören, neue Materialien zu entwickeln, hören wir in gewisser Weise auf, Menschen zu sein?
Wir wären völlig hilflos und würden nicht lange überleben. Außerdem sind Materialien für uns kulturell sehr wichtig. Sie spiegeln Eigenschaften wider, die wir bewundern. Gold zum Beispiel glänzt wie die Sonne und erscheint unveränderlich, weil es nicht verrottet oder anläuft. Deswegen ist es ein Statussymbol. Man kann es horten und sich darüber definieren, weil es so besonders und vergleichsweise selten ist.
Der Mensch liebt Hierarchien, und weil wir in Gruppen leben, müssen wir wissen, wer oben und wer unten steht. Viele dieser Statusunterschiede signalisieren wir über die Werkstoffe, die wir nutzen. Die Geschichte der Kunststoffe ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie neue Werkstoffe den Zusammenhang zwischen Material und Status verändern. Bis zum 19. Jahrhundert war bunte Kleidung selten und teuer. Dann kamen Kunststoffe, und plötzlich konnte man Jacken und Hosen in allen möglichen Farben herstellen – für alle, nicht nur für Reiche. Die meisten Menschen haben heute keine Vorstellung davon, wie trist ihr Leben ohne Kunststoffe wäre.
Was ist Ihrer Meinung nach die aktuell bedeutendste Veränderung bei Materialien?
Einerseits gibt es die elektronischen Materialien auf Siliziumbasis, aus denen sich immer schnellere Chips für immer bessere Computer herstellen lassen. Smartphones, Touchscreens, Lithiumbatterien – all das gehört dazu. Halbleiter und die anderen Werkstoffe, die man braucht, um aus ihnen Chips zu machen, dominieren das frühe 21. Jahrhundert und verändern unsere gesamte Kultur – weltweit. Internet und Mobiltelefone haben bereits die Welt fundamental verändert, jetzt setzt künstliche Intelligenz noch einen drauf. Aber KI gäbe es nicht ohne günstiges Silizium und schnelle Chips. Es ist unsere Zähmung der Werkstoffe, die solche Entwicklungen überhaupt möglich macht. KI ist letztlich eine sehr materielle Sache. Viele Menschen denken, dass KI eines Tages die Welt übernimmt. Aber wenn plötzlich keine Chips mehr hergestellt würden, ist es vorbei damit. Aus meiner Sicht ist die physische Seite der digitalen Welt die große Materialgeschichte unserer Zeit.
Welche Rolle werden aktive Materialien spielen?
An solchen Stoffen, die zum Beispiel Schäden und Risse selbst heilen können, arbeiten im Moment viele Fachleute. Denn eines unserer größten Probleme ist, dass Gebrauchsgegenstände und Infrastruktur nach und nach kaputtgehen und wir sie ständig erneuern müssen. Vorbild für solche neuen Werkstoffe ist der lebende Organismus, der sich permanent reparieren kann. Eine Wunde schließt sich wie von selbst. Ein winziger Riss in einer einzigen Leiterbahn dagegen kann einen ganzen Chip lahmlegen. Und wie viele Leiterbahnen gibt es auf einem Chip! Aus meiner Sicht liegt die Zukunft in Materialien, die sich selbst erneuern. Das wäre wirklich ein dramatischer Fortschritt, weil es unsere Gebrauchsgegenstände und Infrastruktur viel robuster machen würde.
Es gibt auch aktive Materialien, die mit lebenden Zellen und Gewebe gekoppelt sind. Wie verändert sich unsere Beziehung zu Materialien, wenn sie biologisch und adaptiv werden?
Aktive Materialien herstellen zu können, ist ein lang gehegter Traum – und wir Menschen sind gut darin, unsere Träume zu verwirklichen. Auf lange Sicht sind solche Stoffe unvermeidlich, denn nur mit ihnen können wir wirklich nachhaltig leben. Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der Straßen Energie aus der Umwelt ernten, und diese dann nutzen, um Schäden zu reparieren. Vielleicht basieren sie auf Kohlenstoff und sind in der Lage, CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen und nach und nach dahin zu wachsen, wo Menschen hingehen wollen.
Das klingt vielleicht verrückt, aber die Natur macht das die ganze Zeit. Wir haben bereits Materialien, die wachsen können – eins davon heißt Holz. Vielleicht werden wir in Zukunft eher die Rolle von Gärtnern einnehmen, die verhindern, dass ein Gebäude zu groß wird. Vielleicht bauen wir unsere Umgebung nicht mehr selbst, sondern leben nur darin, passen sie an und lassen sie ansonsten ihr eigenes Ding machen.
Das würde bedeuten, dass wir viel Kontrolle abgeben. Wie verändert das unsere Beziehung zu Materialien?
Ich denke, wir haben die Kontrolle über unsere Materialien längst verloren. Schauen Sie sich das Plastikmüllproblem an. Das ist uns doch längst entglitten – allerdings nicht bloß, weil es keinen globalen Plastikvertrag gibt, der uns die Kontrolle zurückgeben würde. Ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass wir unglaublich viel Macht haben, fast wie Minigötter. Aber Macht und Kontrolle sind ganz unterschiedliche Dinge, und Kontrolle wächst nicht mit der Macht. Wir haben die Kontrolle verloren und wir werden uns wohl damit abfinden müssen. Vielleicht begrüßen wir es sogar, wenn Materialien künftig ihr eigenes Ding machen. Das würde uns verändern – aber wir haben uns schon immer angepasst.
Ist dieser Kontrollverlust gefährlich für uns?
Am deutlichsten wird der Kontrollverlust beim Mikroplastik. Es gelangt so viel Plastik in die Umwelt, dass die Partikel ein Eigenleben entwickeln. Plastik sammelt sich in den Ozeanen. Tiere fressen Plastik und sterben daran. Wir sind von einem Meer aus unsichtbaren Kunststoffpartikeln umgeben, und wir müssen diese Kontamination besser verstehen. Einerseits liebe ich Materialien – aber ich liebe nicht, dass sich Mikroplastik in meinem Körper ansammelt. Es gibt inzwischen zahlreiche Hinweise darauf, dass das passiert. Eine der größten Quellen für Mikroplastik sind zum Beispiel winzige Teilchen, die von Autoreifen stammen. Wir müssen entweder aufhören, diesen Reifenabrieb zu erzeugen, oder neue Materialien für Reifen erfinden, die keine Partikel abgeben. Oder wir entscheiden, dass Gummireifen nicht nachhaltig sind und wir vielleicht lieber herumfliegen sollten. Und das ist das Spannende an diesem Beispiel: Die Umweltverschmutzung ist einerseits ein großes Problem – andererseits zwingt sie uns, grundlegend darüber nachzudenken, wie wir leben wollen.
Das heißt, wir sollten unsere Beziehung zu Materialien grundlegend überdenken?
Wir müssen einsehen, dass Materialien ein Leben nach uns haben. Momentan denken wir, jemand anderes kümmert sich um sie: Sie sind mit dem Müll abtransportiert worden, und wir haben die naive Vorstellung, dass sie damit aufhören, zu existieren. Aber die Materialien sind immer noch da, und das hat Konsequenzen. Wahrscheinlich ist das auch eine psychische Belastung: Diese Konsequenzen nagen an uns, weil unsere Werkstoffe uns so nahestehen.
Wir lassen so viele wundervolle Geräte in unser Leben: einen tollen Staubsauger oder ein geniales Küchenutensil. Für eine Weile machen sie unser Leben besser und wir lieben sie. Doch dann gehen die Dinge kaputt. Sie lassen sich nicht reparieren, und so werfen wir sie weg. Es ist ein bisschen so, als hätte man unzählige Haustiere, die ständig nach kurzer Zeit sterben. Der Verlust tut uns nicht gut und unserer Biosphäre auch nicht. Wir zahlen dafür auf Dauer einen psychischen Preis. Ich hoffe wirklich, dass sich unsere Beziehung zu Materialien verändert und wir sie etwas mehr respektieren. Sie sind wundervoll und zählen zu den wichtigsten Dingen, die wir Menschen jemals erschaffen haben. Ich finde es persönlich sehr verstörend, dass wir Materialien so schäbig behandeln. Ich denke aber, dass heute mehr und mehr Menschen gibt, die das genauso sehen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.