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Sars-CoV-2: Wessen Coronavirus-Strategie hat am besten funktioniert?

Kontaktsperre, Schulschließung, Überwachung: Länder haben unterschiedlich auf die Coronavirus-Pandemie reagiert. Nun ist die Frage, wie erfolgreich welche Maßnahmen waren.
In vielen Ländern müssen die Menschen seit Wochen Abstand voneinander halten.

Hongkong scheint der Welt eine Lektion erteilt zu haben, wie Covid-19 wirksam eingedämmt werden kann. Bei einer Bevölkerung von 7,5 Millionen Menschen gab es nur vier Tote. Forscher haben das Vorgehen Hongkongs untersucht. Sie stellten fest: Eine rasche Überwachung, Quarantäne und Maßnahmen zur sozialen Distanzierung, wie die Verwendung von Gesichtsschutzmasken und Schulschließungen, haben dazu beigetragen, die Übertragung des Coronavirus zu senken. Gemessen haben sie das an der durchschnittlichen Zahl der Menschen, die jede infizierte Person infiziert hat, auch »R« genannt. Bis Anfang Februar reduzierte das Land sie auf den kritischen Wert von 1. Aber die Autoren der Studie, die zu den Daten im April veröffentlicht wurde, konnten die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen und Verhaltensänderungen, die zur gleichen Zeit stattfanden, nicht auseinanderhalten.

Dabei ist es derzeit eine der drängendsten Fragen, die Wirksamkeit der Maßnahmen herauszufinden. Forscher hoffen, dass sie letztlich genau vorhersagen können, wie sich das Durchsetzen und Lockern von Kontrollmaßnahmen auf die Übertragungsraten und Infektionszahlen auswirken. Diese Informationen sollten für Regierungen von entscheidender Bedeutung sein, wenn sie Strategien entwickeln, um das Leben wieder zu normalisieren und gleichzeitig die Übertragung gering zu halten, um zweite Infektionswellen zu verhindern. »Hier geht es nicht um die nächste Epidemie. Es geht darum, ›was wir jetzt tun‹«, sagt Rosalind Eggo, eine mathematische Modelliererin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM).

Forscher arbeiten bereits an Modellen mit Daten aus einzelnen Ländern, um die Wirkung von Bekämpfungsmaßnahmen zu verstehen. Modelle, die auf realen Daten basieren, sollten exakter sein als solche, die zu Beginn des Ausbruchs die mögliche Wirkung der Maßnahmen auf Annahmen beruhend vorhersagten. Die Kombination von Daten aus der ganzen Welt wird es Wissenschaftlern ermöglichen, die Reaktionen der Länder zu vergleichen. Und es sollte gelingen, Modelle zu entwerfen, die genauere Vorhersagen über neue Phasen der Pandemie und über viele Nationen hinweg machen können.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Aber Ursache und Wirkung zu entwirren, ist extrem schwierig. Zum einen, weil die Umstände in jedem Land unterschiedlich seien, zum anderen, weil es Unsicherheit darüber gebe, inwieweit sich die Menschen an die Maßnahmen halten, warnt Eggo. »Es ist wirklich schwer, aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht versuchen sollten«, fügt sie hinzu.

Mehr als 1000 Freiwillige sammeln und vergleichen Daten

Eine Datenbank, die Informationen über Hunderte verschiedener Interventionen weltweit zusammenfasst, soll in den kommenden Wochen helfen, Antworten zu finden. Die Plattform wird von einem Team an der LSHTM für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorbereitet. Zehn Gruppen, die bereits Interventionen verfolgen, sammeln dafür Daten – darunter Teams an der Universität Oxford, Großbritannien, das Complexity Science Hub Vienna (CSH Wien) sowie Organisationen des öffentlichen Gesundheitswesens und gemeinnützige Organisationen wie ACAPS, das humanitäre Krisen analysiert.

Die Datenbank soll umfassender sein als alles, was eine einzelne Gruppe generieren könnte, sagt Chris Grundy, ein Datenwissenschaftler, der hinter dem LSHTM-Projekt steht. Behörden wie die WHO verfolgen routinemäßig die bei einem Krankheitsausbruch eingesetzten Kontrollmaßnahmen, doch bei Covid-19 wird das Bild durch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Pandemie kompliziert, sagt Grundy. Die LSHTM hat ein beeindruckendes Korps von 1100 Freiwilligen rekrutiert, die die Informationen zusammenfügen. Der Datensatz werde für jedermann nutzbar sein und in künftigen Veröffentlichungen verbessert werden, so Grundy. Schnelligkeit sei von entscheidender Bedeutung, sagt er. »Tage machen gerade jetzt einen Unterschied.«

Das Wiener Team hat Details von rund 170 Interventionen in 52 Ländern erfasst, die von kleinen Maßnahmen wie Bodenaufklebern, die einen Abstand von zwei Metern markieren, bis hin zu größeren, restriktiven Maßnahmen wie Schulschließungen reichen. Sie verfolgen auch die jüngsten Bemühungen einiger Länder, das tägliche Leben wieder in Gang zu bringen, und die damit einhergehenden Maßnahmen, darunter das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken. Unterdessen werden für das Oxford-Projekt »Covid-19 Government Response Tracker« 13 Interventionen in mehr als 100 Ländern überwacht. Es fasst sieben der 13 zu einem einzigen »Stringency-Index« zusammen, der das Ausmaß der Reaktion jedes Landes erfasst und einen Vergleich zwischen Ländern ermöglicht, die unterschiedliche Ansätze verfolgen (siehe Grafik).

Algorithmen packten Schweden, das Vereinigte Königreich und die Niederlande zunächst in eine Gruppe

Wissenschaftler beider Gruppen analysieren bereits ihre Daten. Das Wiener Team sucht nach Mustern. Dazu gehört es, Länder nach dem Beginn ihrer Epidemien und der Gesamtzahl der eingeführten Restriktionen zu clustern. In Europa beispielsweise gruppieren die Algorithmen Schweden, das Vereinigte Königreich und die Niederlande als Länder, die relativ langsam agierten. In der Frühphase ihrer Epidemien setzten alle drei Länder Strategien zur »Herdenimmunität« um, die nur wenige Maßnahmen beinhalteten oder solche, die auf Freiwilligkeit beruhen. Später gingen Großbritannien und die Niederlande jedoch zu aggressiveren Reaktionen über, einschließlich landesweiter Sperren, sagt Amélie Desvars-Larrive, Epidemiologin am CSH Wien und an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

Deutschland und Österreich wiederum hoben sich zwischenzeitlich als Nationen hervor, die aggressive und frühzeitige Bekämpfungsstrategien einsetzten, im Vergleich zu Italien, Frankreich und Spanien, die zwar ähnliche Maßnahmen eingeführt haben – aber deutlich später in ihren Epidemien, sagt Desvars-Larrive. Bislang verzeichnen Deutschland und Österreich pro Kopf im Vergleich mit den anderen Ländern nur einen Bruchteil der Todesfälle in Folge von Covid-19.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Erste Ergebnisse des Oxford-Teams deuten zudem darauf hin, dass ärmere Länder im Verhältnis zur Schwere ihrer Ausbrüche tendenziell strengere Maßnahmen einführten als reichere Länder. So erzwang zum Beispiel die karibische Nation Haiti bei der Bestätigung ihres ersten Falls eine Abriegelung, während die Vereinigten Staaten mit der Anordnung von Hausarrest bis mehr als zwei Wochen nach ihrem ersten Todesfall warteten. Das könnte daran liegen, dass einkommensschwächere Länder mit weniger entwickelten Gesundheitssystemen vorsichtiger agieren, sagt Anna Petherick, eine Forscherin im Bereich der öffentlichen Politik in Oxford. Oder es spiegele wider, dass der Ausbruch diese Länder später erreichte, so dass sie länger von anderen lernen können, sagt sie.

Muster und Vorhersagen

Letztlich hoffen die Forscher, Daten aus der LSHTM-Datenbank nutzen zu können, um zu verstehen, wie wirksam die einzelnen Strategien waren. »Wir müssen diese Interventionen in Echtzeit evaluieren, damit jeder eine echte Politik machen kann«, sagt Eggo, die an der Erstellung der Datenbank nicht beteiligt war, sie aber zu nutzen gedenkt. »Wenn wir nicht wissen, was funktioniert, und wir nicht wissen, wie gut, wird es wirklich schwierig sein, zu entscheiden, was als Nächstes zu tun ist.«

Nils Haug ist ein mathematischer Physiker am CSH Wien und an der Medizinischen Universität Wien. Er gehört zu einem 15-köpfigen Team von Modellierern, die untersuchen, welche statistischen Ansätze verwendet werden sollen. Anstatt die genaue Wirkung jeder Intervention direkt zu bestimmen, können mit diesen Methoden Wege gefunden werden, um die Maßnahmen zu ermitteln, die die Infektionsraten am besten vorhersagen. Ein Ansatz besteht darin, eine maschinelle Lerntechnik zu verwenden – ein rekurrentes neuronales Netzwerk –, um aus Mustern in den Daten zu lernen und Vorhersagen zu treffen. Forscher können erkennen, wie wichtig eine bestimmte Intervention ist, indem sie sich ansehen, wie sich die Vorhersagen verschieben, wenn sie Informationen über diese Intervention aus dem Netzwerk entfernen.

Eine andere Technik ist die Regressionsanalyse, bei der die Stärke der Beziehung zwischen einer bestimmten Maßnahme, wie der Schließung einer Schule, und einer Metrik, wie R, über alle Länder hinweg geschätzt wird. Mit Hilfe einer Regressionstechnik wie Lasso können Forscher bestimmen, welche Maßnahmen R am stärksten reduzieren.

Aber alle Methoden haben Grenzen, sagt Haug. Die Lasso-Methode geht davon aus, dass eine bestimmte Maßnahme im Laufe der Zeit immer zur gleichen Reduktion von R führt, unabhängig davon, in welchem Land sie angewandt wurde. Dies ist eine der größten Herausforderungen beim Lernen von Lektionen über mehrere Länder hinweg. Die Forscher wollen in der Lage sein, nationale Besonderheiten zu berücksichtigen, wie etwa die in einigen Ländern höhere Prävalenz generationsübergreifender Haushalte, die die Ausbreitung beschleunigen könnte. Das Wiener Team wird schließlich versuchen, diese unterschiedlichen Merkmale direkt in ihre Modelle einzubeziehen. Vorerst werden die Forscher sie alle als eine einzige Variable erfassen, die R für jedes Land verändert.

Ohne einen Impfstoff oder eine wirksame Behandlung bleibt das Aufhalten der Übertragung die einzige Verteidigung gegen Covid-19. Zu wissen, wie sich jede spezielle Kontrollmaßnahme auswirkt, sei daher entscheidend, um die Ausbreitung zu stoppen und zugleich das Lebens so gut wie möglich in Gang halten zu können, sagt Petherick.

Dieser Artikel ist im Original unter dem Titel »Whose coronavirus strategy worked best? Scientists hunt most effective policies« in »Nature« erschienen. Er wurde für die deutsche Fassung angepasst.

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