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Retroviren: Der Feind im eigenen Erbgut

Ob Schizophrenie oder multiple Sklerose: Viren, die sich vor langer Zeit in unsere DNA geschrieben haben, könnten die Entstehung von psychischen Störungen und Hirnerkrankungen begünstigen.
Blauer DNA-Doppelstrang vor schwarzem Hintergrund

Rund acht Prozent der menschlichen DNA haben dort eigentlich nichts verloren: Sie stammen von Viren, genauer gesagt von humanen endogenen Retroviren (HERV), mit denen sich die Vorfahren des Menschen vor Millionen von Jahren einmal infiziert haben. Die Erreger haben ihre Chance genutzt und sich unwiderruflich in das Genom ihres Wirts eingeschrieben: Insgesamt enthält unsere DNA heute Gene und Gensequenzen von mehr als 500 000 verschiedenen Retroviren. Die Mehrzahl dieser Sequenzen ist harmlos – oder bringt sogar Vorteile mit sich. So scheinen manche Virusgene etwa das Muskelwachstum anzukurbeln, andere erfüllen wichtige physiologische Funktionen und helfen zum Beispiel beim Aufbau der Plazenta. Doch das Viruserbgut hat auch seine Schattenseiten: Inzwischen deuten immer mehr Studien darauf hin, dass es eine unrühmliche Rolle bei der Entstehung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen spielen könnte.

Die ersten Hinweise entdeckten Forscherinnen und Forscher bereits vor 20 Jahren. So stieß ein Team um den Neurovirologen Robert Yolken von der Johns Hopkins University School of Medicine im Jahr 2000 in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit von Patienten, die kurz zuvor eine Schizophrenie entwickelt hatten, auf Gene eines bestimmten humanen endogenen Retrovirus. 10 von 35 untersuchten Probanden wiesen die verdächtigen Gensequenzen auf; bei Menschen, die bereits länger mit der Krankheit zu kämpfen hatten, war es nur einer von 20, unter gesunden Probanden keine einzige Person. Solche Befunde zeigten sich in den folgenden Jahren immer wieder in Studien.

Ähnliches gilt für multiple Sklerose (MS). »Man hat unter anderem erhöhte Mengen von RNA beziehungsweise von Proteinen humaner endogener Retroviren bei MS-Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden gefunden«, fasst der Immunologe und Molekularbiologe Martin Staege von der Universitätsmedizin Halle die Ergebnisse aus der Forschung zusammen. Selbst Viruspartikel habe man in geeigneten Proben nachweisen können. »Unklar ist, ob endogene Retroviren wirklich für die Erkrankung verantwortlich sind oder ob ihre Aktivierung ein Phänomen ist, das erst im Zuge der Erkrankung auftritt.«

Tatsächlich konnten die meisten Untersuchungen bislang nur Korrelationen zwischen endogenen Retroviren und Hirnerkrankungen aufdecken. Was Ursache und was Wirkung ist, ist daher vielfach unklar. Ein weiteres Problem: Die meisten Studien werden an Blut oder Serum durchgeführt. Seltener haben Forscherinnen und Forscher die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit oder gar das Gehirngewebe von Verstorbenen untersucht. Das hat vor allem praktische Gründe. So ist die Entnahme von Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit deutlich invasiver als eine einfache Blutabnahme. Trotzdem wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Mechanismen entdeckt, über die humane endogene Retroviren die Entstehung von neurologischen und psychischen Erkrankungen begünstigen könnten.

Wenn schlafende Virengene erwachen

Die zentrale Frage lautet dabei erst einmal: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Virusgene bei Menschen mit Hirnerkrankungen verstärkt abgelesen werden? Normalerweise sind die HERV-Gene zwar im Genom von Menschen vorhanden, die meisten von ihnen haben aber im Lauf der Evolution keine wichtige Aufgabe übernommen und befinden sich in einer Art Schlummer. »Man geht davon aus, dass epigenetische Mechanismen normalerweise als Bremse wirken und die Expression der Virengene unterdrücken«, erklärt der Neurobiologe Patrick Küry von der Universität Düsseldorf. Zu diesen Bremsen gehören chemische Schalter wie Methylgruppen, die an der DNA hängen und Gene ausschalten können. Doch unter bestimmten Umständen können sie gelockert werden – zum Beispiel durch Infektionen mit anderen Viren wie dem Epstein-Barr-Virus, sagt Küry.

»Das Epstein-Barr-Virus ist einer der Faktoren, die schlafende Retroviren ›wieder aufwecken‹ können«Patrick Küry, Neurobiologe

Erst Anfang 2022 hat eine große US-amerikanische Studie gezeigt: Das Epstein-Barr-Virus könnte eine Ursache von MS sein. Eine Infektion mit dem Erreger erhöhte das Risiko, später einmal die Autoimmunerkrankung zu entwickeln, um das 32-Fache. Das ist auch für das Thema der endogenen Retroviren wichtig, sagt Patrick Küry. »Denn das Epstein-Barr-Virus ist eben einer der Faktoren, die diese schlafenden Retroviren ›wieder aufwecken‹ können.« Vermutlich sei es so: »Es kommt zunächst zu einer Infektion, mit der das Immunsystem nicht vollkommen fertig wird. Und dadurch werden die humanen endogenen Retroviren aktiviert.«

Doch was passiert eigentlich, wenn sich die epigenetischen Bremsen durch Umweltfaktoren lösen und das Erbgut von Retroviren aus seinem Schlaf erwacht? Eine Ahnung davon vermittelt eine Studie, die 2021 ein Team um den Neurogenetiker Johan Jakobsson von der schwedischen Universität Lund durchführte. Die Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich auf das Protein Trim28, einen epigenetischen Schalter, der die Expression von endogenen Retroviren unterdrückt. Mit Hilfe der Genschere CRISPR-Cas9 schalteten sie das Protein während der Hirnentwicklung in den neuralen Vorläuferzellen von Mäusen aus. Im erwachsenen Gehirn stießen sie dann auf viele exprimierte endogene Retroviren. Damit einher ging eine starke Aktivierung der Mikroglia, der Immunzellen des Gehirns. Sie patrouillieren normalerweise vor Ort und schauen, dass alles in Ordnung ist. Sie können aber auch aggressiv werden und andere Zellen angreifen.

Endogene Retroviren machen das Immunsystem scharf

Das passt gut ins Bild: Schon seit einigen Jahren gehen Wissenschaftler davon aus, dass neurologische und psychiatrische Erkrankungen zumindest zum Teil durch eine Überreaktion des Immunsystems ausgelöst werden. Besonders deutlich wird das bei der multiplen Sklerose, bei der das eigene Immunsystem Nervenzellen angreift und schädigt. Selbst wenn es gelingt, einzelne Krankheitsschübe medikamentös zu unterbinden, degenerieren im Hintergrund permanent Nervenzellen. Eine Rolle spielen dabei die Mikrogliazellen. Patrick Küry und seine Kollegen konnten zeigen, dass eine Aktivierung durch humane endogene Retroviren bei MS-Patienten zu einem aggressiveren Typ von Mikroglia führen kann. Die Immunzellen sind zudem auch bei psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie verändert und geraten außer Kontrolle. »Das könnte also ein allgemeiner Mechanismus sein«, vermutet Küry. »Wenn die Mikroglia durch die Retroviren stimuliert werden, werden sie aggressiv.« Dadurch könne sich über einen langen Zeitraum hinweg eine neurologische oder psychische Störung entwickeln.

»Wenn Mikrogliazellen durch Retroviren stimuliert werden, werden sie aggressiv«Patrick Küry

Das gilt ebenfalls für Autismus-Spektrum-Störungen. Die Molekularbiologin Emanuela Balestrieri von der Universität Tor Vergata in Rom fand in einer Studie von 2019 sowohl bei autistischen Kindern als auch bei deren Müttern nicht nur eine erhöhte Expression von Retrovirusgenen im Blut. Sie stieß ebenso vermehrt auf Zytokine, entzündungsfördernde Immunbotenstoffe. Ein weiterer Beleg dafür, dass es wohl einen Zusammenhang zwischen Retroviren und einem überaktiven Immunsystem gibt.

Verhängnisvolle Nachbarschaft

Auf diese Weise könnten die Viren auch die Entwicklung des Gehirns negativ beeinflussen. Dafür fand eine Gruppe um den Neurowissenschaftler Laurent Groc der Universität von Bordeaux Belege. Sie schleuste bei Ratten Gene von humanen endogenen Retroviren in Zellen des Hippocampus ein. Die Expression der Retrovirengene aktivierte das Immunsystem, namentlich Mikrogliazellen und Zytokine. Das störte letztlich die Entwicklung bestimmter Synapsen im Hippocampus, der eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Erinnerungen spielt. In der Folge entwickelten die Nager Verhaltensdefizite: Sie zeigten eine schwächere Filterfunktion angesichts von Schreckreizen – ein Phänomen, das man auch bei Menschen mit Schizophrenie beobachtet. Spielt man Probanden einen lauten Ton vor, zeigen sie eine Schreckreaktion. Geht aber dem Schreckreiz ein leiser Ton voraus (Präpuls), schwächt (inhibiert) sie sich ab. Diese Präpulsinhibition spiegelt dabei die Filterfunktion des Gehirns wieder, die wichtige von unwichtigen Reizen unterscheidet. Bei Menschen mit Schizophrenie ist jene Filterfunktion beeinträchtigt.

Die Aktivierung des Immunsystems ist jedoch nur eine der Möglichkeiten, wie Retroviren die psychische Gesundheit beeinflussen können: »Wenn Umweltfaktoren Retroviren anschalten, könnte diese Aktivierung auch benachbarte Gene beeinträchtigen«, erklärt Patrick Küry. In der Nachbarschaft mancher humaner endogener Retroviren liegen ausgerechnet die Gene, die als Risikofaktoren für Schizophrenie bekannt sind. So fanden Forscherinnen und Forscher um den Molekularbiologen Charles Cantor von der Boston University im Gehirn von Verstorbenen ein Retroviren-Element, das für eine zu starke Aktivität des Gens PRODH sorgte. Dieses Gen ist für die Entwicklung des zentralen Nervensystems wichtig und wird mit Schizophrenie in Verbindung gebracht.

»Der Effekt ist vielleicht nur ganz schwach und wirkt über lange Zeit«, sagt Küry. Schließlich seien psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie Erkrankungen, die nicht von heute auf morgen entstehen. Sie entwickeln sich oft über Jahre hinweg. Und sie haben viele verschiedene Ursachen, in der Regel kommt ein ganzes Geflecht von Faktoren zusammen. Durch Retroviren lassen sich deshalb sicher nicht alle Fälle von Schizophrenie, Autismus oder MS erklären. Ein wichtiges Teil im Ursachenpuzzle sind sie möglicherweise aber schon.

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