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Energiewende: Wie bleibt unser Stromnetz stabil?

Kohlekraftwerke liefern nicht nur Strom, sie stabilisieren auch das Stromnetz. Doch künftig wird es keine Großkraftwerke mehr geben. Trotzdem soll das Ökonetz der Zukunft widerstandsfähig bleiben – mit der Hilfe von neuen digitalen Sicherungstechnologien. Einige stehen bereits parat und werden in den nächsten Jahren in Betrieb geben.
Stromnetz

Vor Kurzem war das Wort »Netzstabilität« den meisten Menschen in Deutschland noch ziemlich unbekannt; zumindest klang es abstrakt. Lief unser Stromnetz nicht unauffällig und selbstverständlich? Der Strom kommt aus der Steckdose, überall, zu jeder Zeit und so stabil, dass kein Birnchen flackert. Allerdings geisterte Anfang März 2018 das Wort »Netzstabilität« dann doch plötzlich recht häufig durch die Medien. Zum ersten Mal nach langer Zeit hatten die Menschen in Europa eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutet, wenn es im Stromnetz mal nicht rundläuft. Dabei gab es nicht einmal einen großen Knall, keinen Stromausfall: Nur die Uhren an Küchenradios, Elektroherden und Radioweckern hatten seit Jahresbeginn begonnen, etwas langsamer zu ticken. Jeden Tag verspäteten sie sich um ein paar Sekunden, bis die Uhren schließlich Anfang März rund sechs Minuten nachgingen. So merkwürdig wie diese scheinbare Verlangsamung der Zeit erschien die Ursache für die Verspätung: ein Streit zwischen Kosovo und Serbien, der sich um Stromlieferungen drehte.

Wie konnten sich Meinungsverschiedenheiten in einer kleinen Region Europas auf den ganzen Kontinent auswirken? Die Stromnetze der europäischen Länder vom Schwarzen Meer bis nach Portugal sind über die Union für die Koordinierung des Transports von Elektrizität miteinander verbunden: Herrscht in einem Land Strommangel, wird aus den anderen Staaten nachgeliefert – und so können regionale Probleme die Grenzen überschreiten. »Dieser Fall macht deutlich, wie empfindlich das Stromnetz reagieren kann, wenn es Abweichungen vom Normalzustand gibt«, sagt Stefan Tenbohlen, Direktor des Instituts für Energieübertragung und Hochspannungstechnik an der Universität Stuttgart.

Wie stabil wird der Verbund der Zukunft?

Skeptiker fürchten, dass das europäische Stromnetz künftig mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien ebenfalls an Stabilität verlieren könnte; erstens, weil sich das schwankende Angebot von Sonne und Wind umso stärker auf das Stromnetz auswirkt, je mehr Ökostrom eingespeist wird, und zweitens, weil mit der Abschaltung großer Kohlekraftwerke die großen rotierenden Stromgeneratoren verloren gehen, die das Netz heute stabilisieren. Diese riesigen Massen drehen sich mit 50 Umdrehungen pro Sekunde, mit 50 Hertz. Damit schwingt auch der Wechselstrom in den Leitungen konstant mit 50 Hertz – und darauf sind alle technischen Geräte abgestimmt, unter anderem die Küchenuhren, die die Zeit anhand dieses konstanten Frequenzsignals messen.

Stefan Tenbohlen erläutert, wie die klassische Stabilitätsregelung im Stromnetz funktioniert: »Wenn zum Beispiel irgendwo der Stromverbrauch plötzlich zunimmt, dann ist das wie beim Radfahren am Berg. Dann geht die Frequenz im Netz runter. Dann müssen die Kraftwerke reagieren.« Umgekehrt steigt die Frequenz, wenn auf einmal große Verbraucher, etwa Zementwerke, abgeschaltet werden. Kurze Schwankungen von wenigen Sekunden puffern die Kraftwerke durch die Trägheit der mächtigen rotierenden Generatoren einfach ab. »Diesen Effekt bezeichnen wir als Momentanreserve«, erklärt Tenbohlen. »Hält die Abweichung länger als zehn Sekunden an, folgt die Primärregelung. Dann wird mehr Dampf auf die Turbine gegeben, so dass sie sich schneller dreht.« Dauert die Abweichung länger als eine Minute, müssen Kraftwerke in benachbarten Regionen zugeschaltet werden, die sich schnell hochfahren lassen und die schnell zusätzlichen Strom liefern – etwa Gaskraftwerke, die schnell auf Touren kommen, oder Pumpspeicherkraftwerke, die ihre Schleusen öffnen, damit das Wasser durch die Turbinen rauscht. »Das ist die so genannte Sekundärregelung«, sagt Tenbohlen. Im Kosovo bestand das Problem darin, dass im kalten Winter zu viel Strom verbraucht wurde. Das benachbarte Serbien hätte die Sekundärregelung mit seinen Kraftwerken leisten müssen, weigerte sich allerdings aus politischen Gründen, so dass die Netzfrequenz über Wochen knapp unter 50 Hertz lag. Das war im ganzen europäischen Netz zu spüren und hat die Uhren verlangsamt.

Dass Uhren langsamer gehen, lässt sich verschmerzen. Doch was ist zu tun, wenn in den kommenden Jahren die klimaschädlichen Kohlekraftwerke abgeschaltet werden und die Momentanreserve und die Primärreglung wegfallen? An der Antwort auf diese Frage arbeiten heute Dutzende von Forschergruppen in Europa – und dabei wird eines deutlich: Fallen die alten Kraftwerke weg, muss das Stromnetz intelligenter werden. Zwar ist der Begriff »Smart Grid« schon lange bekannt. Genauso lange aber fehlte es an überzeugenden Lösungen, um die Ideen in die Tat umzusetzen. Inzwischen ist die Forschung einen Schritt weiter. »Die Technologien, die wir benötigen, gibt es jetzt«, sagt Sebastian Lehnhoff, Energieinformatiker am Oldenburger Informatikinstitut Offis. »Wir befinden uns aktuell in einer Übergangsphase: In den kommenden fünf bis zehn Jahren werden viele dieser Technologien von den Pilotanwendungen in den realen Betrieb gehen.«

Algorithmen ordnen den Strommix

Einer von Lehnhoffs Schwerpunkten sind Algorithmen, mit denen sich der Stromverbrauch und die Stromerzeugung schon in Dörfern, Kleinstädten und Stadtteilen ausgleichen lassen – etwa der produzierte Strom von Solaranlagen und der Stromverbrauch der Elektroautos. Weil Probleme bereits in den kleinen Ortsnetzen gelöst werden, müssen die großen Kraftwerke weniger regeln. »Es geht darum, beides so miteinander zu verbinden, dass Konflikte von vornherein vermieden werden – also weder ein Überangebot an Solarstrom auftritt noch ein Strommangel, wenn künftig die Elektroautos in großen Mengen Strom laden.« Die Algorithmen, die Lehnhoff und sein Team aktuell in mehreren Projekten entwickeln, basieren unter anderem auf Prinzipien der Selbstorganisation, bei denen Elektroautos direkt mit den Solaranlagen in Verbindung treten. »Entsprechend verhandeln unsere Algorithmen vollautomatisch fair zwischen Verbrauchern und Erzeugern«, sagt der Informatiker. Dabei werden ganz verschiedene Parameter berücksichtigt, zum Beispiel der momentane Strompreis oder das aktuelle Stromangebot. »Je mehr Verbraucher und Erzeuger vor Ort den Strom handeln, desto besser kann dieser intelligente Schwarm Schwankungen abpuffern.«

E-Auto beim Aufladen | Wenn demnächst viele E-Autos gleichzeitig aufgeladen werden wollen – und dies nicht etwa bei strahlendem Sonnenschein unter einer auf Hochtouren laufenden Fotovoltaik-Zapfsäule –, dann stehen dem Stromnetz enorme Belastungen bevor. Intelligente Netze können und müssen die Ortsnetze für solche Fälle fit machen.

Eine Voraussetzung für ein intelligentes Aushandeln des Stroms ist auch, dass nicht nur Erzeuger und Verbraucher intelligenter werden, sondern das ganze Ortsnetz, das so genannte Verteilnetz. Denn bis heute ist es noch ziemlich dumm. »Das lokale Verteilnetz wird traditionell im Blindflug betrieben«, sagt Hermann de Meer, Professor für Informatik an der Universität Passau. »Das Höchstspannungsnetz mit den langen Überlandleitungen wird sehr genau überwacht und gesteuert. Im Verteilnetz aber fließt der Strom bislang einfach wie bei einem Fluss zum Kunden, ohne dass man genau den Zustand des Netzes erfasst. Das geht künftig nicht mehr.« Der Grund: Durch Haushalte, die Strom aus ihren Solaranlagen einspeisen, oder durch Elektrofahrzeuge, die plötzlich den Verbrauch in die Höhe schrauben, kommt mehr Bewegung denn je ins Netz. »Wenn in einer Wohnsiedlung künftig alle Leute nach Feierabend ihr Elektroauto an die Steckdose anschließen, dann werden die kleinen Trafos an den Straßen schnell überlastet.« Für de Meer gibt es deshalb nur eine Lösung: Im Verteilnetz müssen künftig Sensoren verbaut werden, mit denen man aus der Ferne den Zustand überwachen und das Netz steuern kann.

Verteilnetz ohne Blindflug

Wie das geht, untersucht er mit vielen anderen Partnern im EU-Projekt ELECTRIFIC. Mit dabei ist ein Carsharing-Unternehmen, das eine Flotte von 200 E-Autos betreibt. In Vilshofen haben die Projektpartner Messgeräte installiert, die den Zustand des Netzes überwachen, während die Autos laden – unter anderem die Netzspannung und die Frequenz. Anhand dieser Messwerte wollen die Forscher errechnen, wie sich ein größeres Netz mit noch mehr Elektrofahrzeugen verhalten wird, und auch, wie die verschiedenen Verbraucher, die Haushalte oder auch Fotovoltaikanlagen zusammenspielen.

Um das Stromnetz stabil zu halten, müssen künftig jedoch nicht nur die Verteilnetze intelligenter werden, weil sich nicht alle Schwankungen vor Ort dämpfen lassen. Ebenso braucht es eine smarte überregionale Verknüpfung von Ortsnetzen. Daran arbeitet Hermann de Meer zusammen mit Kollegen im europäischen Verbundprojekt EASY-RES, das von Forschern der Aristoteles-Universität Thessaloniki geleitet wird. Statt bei Netzschwankungen in einer Region künftig Kraftwerke für die Primär- oder Sekundärregelung zu nutzen, könnten künftig einzelne Ortsnetze so verschaltet werden, dass die stabilen Ortsnetze Abweichungen anderswo ausgleichen. Für Griechenland ist diese Idee besonders interessant, weil dort nicht nur virtuelle Stromnetz-Inseln miteinander verknüpft werden, sondern reale – die vielen Inseln vor der Küste. Die griechischen Projektpartner sehen Irland als Vorbild, denn anders als im Rest von Europa dürfen in Irland die großen Windparks zur Sicherung der Netzstabilität beitragen. »Anderswo werden sie abgeschaltet, wenn es Instabilitäten gibt«, sagt EASY-RES-Koordinator Charis Demoulias von der Universität Thessaloniki. »Wie Irland zeigt, können die Windparks Schwankungen aber sehr gut glätten, wenn man sie entsprechend steuert.« So kann man etwa die Trägheit der Windradgeneratoren durchaus nutzen, um Momentanreserve bereitzustellen. Denn in der Summe bringen es die Generatoren in einem Windpark auf große rotierende Massen.

»Die Technologien, die wir benötigen, gibt es jetzt«
Sebastian Lehnhoff

An EASY-RES ist unter anderem der griechische Stromnetzbetreiber Independent Power Transmission Operator beteiligt. »Damit wollen wir sicherstellen, dass die Projektergebnisse schnell umgesetzt werden«, sagt deren Entwicklungsingenieur Christos Dikaiakos. Für ihn sind die informatischen Lösungen das Werkzeug, um das europäische Stromnetz neu zu weben. »Um das Netz zu ertüchtigen, hat man in der Vergangenheit stets auf noch mehr Kupferkabel und einen Ausbau der Kraftwerkskapazität gesetzt. Das Potenzial der Informatik wurde lange nicht berücksichtigt.« Dass der europäische Gesamtverband der Stromnetzbetreiber ENTSO-E jetzt eine eigene Steuergruppe für die Digitalisierung aufgestellt hat, hält er daher für wegweisend.

Denken in Jahrzehnten

Trotz dieser Fortschritte wird der Umbau des Stromnetzes von der Großkraftwerk-Landschaft zum digitalen Ökonetz seine Zeit brauchen. Manche Experten sprechen von einer Generationenaufgabe – und vergleichen das Tempo des Stromnetzumbaus mit dem des Autobahnbaus. »Für die nächsten Jahre werden wir definitiv noch Kraftwerke benötigen, um das Netz zu stabilisieren«, sagt Energieübertragungsexperte Stefan Tenbohlen. »Allerdings sollten wir uns dringend von der klimaschädlichen Braunkohle verabschieden.« Das Problem: Heute laufen vor allem die Braunkohlekraftwerke im Ruhrgebiet und in der Lausitz, um Strom zu liefern. Zudem übernehmen sie die Aufgabe, das Netz zu stabilisieren. Sinnvoller wäre es, saubere und effiziente Gaskraftwerke zu nutzen, um das Netz zu stützen. Doch da die Braunkohle brummt, stehen die Gaskraftwerke häufig still. Nur wenn es ganz eng wird, schaltet man sie zu. »Damit ist der Betrieb der Gaskraftwerke kaum rentabel«, sagt Tenbohlen, »weil nur der tatsächlich gelieferte Strom vergütet wird. Wir brauchen deshalb ein ganz anderes Vergütungsmodell, um die Kohle loszuwerden. Die Betreiber der Gaskraftwerke müssen dafür honoriert werden, dass sie im Bedarfsfall Regelleistung bereitstellen.«

»Das lokale Verteilnetz wird traditionell im Blindflug betrieben«
Hermann de Meer

Das ist mit einem Notdienst vergleichbar, der unabhängig von der Zahl der Einsätze stets dasselbe Honorar erhält. »Hier muss ganz klar eine politische Entscheidung getroffen werden. Zumal das Stromgeschäft, wie wir es heute kennen, ohnehin zum Auslaufmodell wird«, sagt er. Wenn wir künftig unabhängig von Gas und Öl seien, koste der Strom sowieso nichts mehr, sobald die Solaranlagen und Windräder bezahlt seien. »Da ist es völlig unsinnig, dass die Verbraucher den Strom weiter nach verbrauchter Kilowattstunde bezahlen. Stattdessen müssten wir nach erbrachter Leistung bezahlen – also dem Beitrag, den ein Anbieter zur Stabilisierung des Stromnetzes und zur Versorgungssicherheit leistet.« Ob und wie die Stabilität des Stromnetzes künftig sichergestellt wird, ist für Stefan Tenbohlen damit nicht nur eine technische, sondern vor allem auch eine energiepolitische Frage.

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