Die letzte Blüte?: Wie Botaniker Deutschlands gefährdete Flora retten

Axel Schönhofer ist auf einer Rettungsmission. »Ich suche das Rheinische Fingerkraut«, sagt der Botaniker. Es ist ein freundlicher Tag Anfang Mai. Die Sonne scheint auf das Flusspanorama der Ahr und lockt die Menschen auf den Rotweinwanderweg, der sich an den Hängen entlangschlängelt. Links erhebt sich ein Weinberg mit einer Trockenmauer und rechts ein scharfer Bergrücken, auf dem die Überreste einer mittelalterlichen Burg thronen. Und dazwischen steht Schönhofer mit einem Auftrag im Gepäck: ein unscheinbares kleines Pflänzchen am Wegesrand aufspüren. Der letzte eindeutige Nachweis des Rheinischen Fingerkrauts an dieser Stelle liegt bereits 20 Jahre zurück.
Schönhofer arbeitet für das Projekt »Wildpflanzenschutz in Deutschland«. Fachleute wie er suchen in der ganzen Republik nach seltenen oder bedrohten Pflanzen, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. Potentilla rhenana, wie das Rheinische Fingerkraut mit botanischem Namen heißt, ist extrem selten: »Nur hier am Altenahrer Eck und an ein paar weiteren Orten im Moseltal wurden Pflanzen dieser Art bislang entdeckt«, sagt Schönhofer.
Das liegt auch daran, dass das Kraut so unauffällig ist; maximal zehn Zentimeter wächst es in die Höhe. Seine Blätter sind wie die Finger einer Hand geteilt – daher der Name. Von März bis Mai hat die Pflanze kleine gelbe Blüten.
Weil das Pflänzchen ausschließlich in Deutschland vorkommt, zählt es zu den so genannten Arten nationaler Verantwortlichkeit. Schon 1992 haben Vertreter der Bundesrepublik in Rio de Janeiro die UN-Konvention zur biologischen Vielfalt unterzeichnet und sich somit verpflichtet, für den Erhalt und Schutz dieser Pflanzen zu sorgen.
Jeder Unterzeichnerstaat legt in nationalen Gesetzen fest, wie er das genau umsetzt. Für Deutschland hat die damalige Bundesregierung im Jahr 2007 die »Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt« beschlossen. Fachleute haben im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz festgelegt, für welche Arten Deutschland natürliche Lebensräume erhalten und geschädigte Ökosysteme wieder so gestalten soll, dass diese Pflanzen und Tiere dort leben können. Auch die Europäische Union hält ihre Mitgliedsstaaten in der Wiederherstellungsverordnung zu verbindlichen Artenschutzzielen an.
Verantwortung für 93 seltene Pflanzen
Die Verantwortungsarten machen etwa zehn Prozent der 2500 bis 3000 Pflanzenspezies in Deutschland aus. Um einige machen sich Fachleute keine Sorgen, eine ganze Reihe ist aber gefährdet.
Elke Zippel leitet die Dahlemer Saatgutbank am Botanischen Garten Berlin, eine von vier solchen Sammlungen innerhalb des Projekts. »Unsere größte Herausforderung ist, diese seltenen Arten aufzuspüren«, sagt sie. Zwar bekommen die Forscherinnen und Forscher Informationen von den Landesumweltämtern darüber, an welchen Standorten die einzelnen Arten in der Vergangenheit nachgewiesen wurden. Und sie arbeiten selbst die Literatur nach Hinweisen durch. »Allerdings sind die Daten nicht besonders gut«, sagt die Botanikerin. Meist sind sie zu alt und zu ungenau.
So ist es auch im Fall des Rheinischen Fingerkrauts. Viel zu lange hat niemand mehr nachgesehen, ob es noch existiert. Auch an diesem sonnigen Tag im Mai hat nur Axel Schönhofer Augen für das seltene Pflänzchen.
Potentilla rhenana ist als Kreuzung aus zwei anderen, deutlich älteren Fingerkräutern entstanden. Die eine Eltern-Art ist das Silber-Fingerkraut (Potentilla argentea). Es hat seinen Namen, weil seine Blätter mit dichten Härchen bedeckt sind, die ihnen ein silbriges Aussehen geben und es für sonnige Standorte wappnen. Die andere Eltern-Art ist das Frühlings-Fingerkraut (Potentilla verna). Das hat fast gar keine Härchen auf den Blättern und zieht Schatten vor. Das Rheinische Fingerkraut liegt in Sachen Behaarung dazwischen. Viele derartige Hybriden können keine Nachkommen bilden und verschwinden somit nach einer Generation wieder. Das Rheinische Fingerkraut dagegen hat sich behaupten können.
Eine andere Verantwortungsart ist die Pfingstnelke (Dianthus gratianopolitanus). Sie hat sich auf felsige Steilwände und Gipfel spezialisiert, wo es den meisten anderen Pflanzen zu karg ist. Das Felsennägele, wie sie mancherorts auch heißt, leidet allerdings darunter, dass sogar seine entlegenen Lebensräume inzwischen mit allerlei anderen krautigen Pflanzen oder sogar mit Wald zuwachsen.
Das hat Elke Zippel in Thüringen beobachtet. Letztes Jahr besuchte sie die dort bekannten Fundorte der Art – mit frustrierendem Ergebnis: »Die meisten Vorkommen sind dabei zu erlöschen oder bereits verschwunden.« Aktuell führt die »Rote Liste gefährdeter Arten« die Pfingstnelke in der Kategorie 3: »gefährdet«. Für Elke Zippel ist diese Einstufung inzwischen völlig überholt: »Die Pfingstnelke muss eine 1 oder zumindest eine 2 bekommen«, fordert sie. Denn sie schätzt Dianthus gratianopolitanus als »vom Aussterben bedroht« oder zumindest »stark gefährdet« ein.
Kälte hält die Samen keimfähig
Um ebensolche Pflanzen zu retten, sammeln die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wildpflanzenschutz-Projekts deren Samen. Wichtig ist dabei, dass Menschen wie Axel Schönhofer und Elke Zippel einerseits Samenkörner von möglichst vielen Individuen ernten. Schließlich soll sich möglichst die gesamte Bandbreite der genetischen Vielfalt an einem Standort und damit der Anpassungen an die dortigen Bedingungen in der Saatgutbank wiederfinden. Andererseits müssen genügend Samen im Lebensraum verbleiben, damit die Pflanzen an Ort und Stelle weiterhin gedeihen. 5000 bis 10 000 Samen haben sich nach Einschätzung der Fachleute als gute Zahl erwiesen. Doch: »Viele Populationen der Pfingstnelke geben das nicht mehr her«, klagt Zippel.
Anschließend geht es an die Konservierung: »Sobald sich die Früchte von der Mutterpflanze lösen oder die Samenkörner aus den Früchten herausfallen, haben sie das höchste Keimungspotenzial«, sagt die Botanikerin. Jeder Samen enthält einen lebenden Pflanzenembryo. Dessen Keimfähigkeit soll möglichst lange erhalten bleiben. Um den Stoffwechsel auf ein Minimum zu bremsen, frieren Elke Zippel und ihre Kollegen die Samen ein.
Vorher müssen sie die Körner aber in einer Trockenkammer gründlich trocknen. Erst danach füllen die Fachleute sie zusammen mit etwas Silica-Gel in dicht verschlossene Glasröhrchen und deponieren sie in der Gefrierkammer. Jedes noch so kleine Tröpfchen Wasser verwandelt sich bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt in einen Eiskristall und kann die Zellen der Samen beschädigen. »So behandelt bleiben die Samen 50 bis 100 Jahre und länger keimfähig«, sagt Zippel. Um ganz sicherzugehen, legen die Wildpflanzenexperten von jeder Probe 20 Körner beiseite und testen alle fünf Jahre, ob sie noch keimfähig sind.
Kultiviert und vermehrt werden die Pflanzen dann in fünf botanischen Gärten: in Regensburg, Osnabrück, Berlin, Potsdam und Mainz. Michael Burkart ist Kurator des Botanischen Gartens der Universität Potsdam und leitet das Wildpflanzenschutz-Projekt. »Mit dem Material aus den Saatgutbanken können wir neue Jungpflanzen ziehen«, sagt er. Bei einigen Arten sei das sogar die einzige Möglichkeit, Sicherheitskopien anzulegen. Denn Samen mancher Wasserpflanzen zum Beispiel sterben, wenn sie vollständig austrocknen. Das schließt eine Lagerung in einer Kältekammer aus.
Neuansiedlung der Arnika war erfolgreich
Etwa 300-mal haben Burkart und sein Team in den vergangenen zwölf Jahren Pflanzen in ihren Lebensraum zurückgebracht; oft nach einer Renaturierung oder einer Biotopsanierung. »Wir haben inzwischen viel Erfahrung damit«, sagt er. Allerdings mit gemischtem Erfolg. Nur bei rund zwei Dritteln aller Ansiedlungen des Wildpflanzenschutzprojekts fanden die Forscherinnen und Forscher bei Kontrollbesuchen heraus, dass sich junge Pflanzen dort etablieren und stabile Bestände bilden konnten.
Die größte Gefahr für empfindliche Pflanzen ist eine Überdüngung von zuvor eher kargen Böden; an zweiter Stelle kommt die Konkurrenz etwa durch invasive Pflanzen
Eine wichtige Lehre aus den Bemühungen: Es braucht Masse. »Wir müssen eine mittlere dreistellige Anzahl Pflanzen ausbringen«, erklärt Burkart, »denn die Hälfte stirbt gleich wieder.«
Gelungen ist zum Beispiel die Wiederansiedlung der Arnika (Arnica montana) in der Niederlausitzer Heidelandschaft bei Hohenleipisch im südlichen Brandenburg – auch so eine Verantwortungsart. Dort gab es früher mehrere Dutzend Populationen der Heilpflanze. Heute sind es nur noch einige wenige, und eine der Pflanzengesellschaften haben Michael Burkart und sein Team angesiedelt. Arnika hat spezielle Ansprüche: Sie braucht so genannten Magerrasen mit viel Licht und wenig Nährstoffen. Sonst verdrängen Gräser, Brennnesseln oder Brombeeren die bedrohten Arten – allesamt Pflanzen, die Stickstoff lieben und schnell wachsen.
Die größte Gefahr für empfindliche Pflanzen ist eine Überdüngung von zuvor eher kargen Böden; an zweiter Stelle kommt die Konkurrenz etwa durch invasive Pflanzen, die nach Deutschland verschleppt wurden oder eingewandert sind. Beides ist mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme. Der Klimawandel hingegen sei aktuell noch keine große Bedrohung für die einheimische Flora, sagt Michael Burkart: »Ganz vorne auf der Liste der Ursachen steht die Landnutzung.«
Die Landschaft in Deutschland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark verändert. Hecken und kleinere Waldstücke sind verschwunden; an ihre Stelle sind große, zusammenhängende Ackerflächen getreten. Weiträumige Gebiete wurden versiegelt und bebaut. Verkehr, Kraftwerke, Industrie und Landwirtschaft blasen riesige Mengen Stickstoffverbindungen in die Luft, die im Boden zu Dünger werden.
Und es hat sich verändert, wie die Landschaft genutzt wird: Weil in der Vergangenheit ganze Landstriche entwässert wurden, haben viele Arten ihre Lebensgrundlage verloren. Andernorts hielten früher Schafe, Ziegen oder Rinder Sträucher und Büsche klein und hinderten sie daran, sich in Wälder zu verwandeln. Heute lohnt sich diese Art der Bewirtschaftung für Bäuerinnen und Bauern nicht mehr. Viele vormals offene Flächen sind daher inzwischen mit Büschen und Bäumen bedeckt.
Bestand wie vor 20 Jahren
Auch am Altenahrer Eck schieben sich Sträucher, Büsche und Gräser an den Pfad heran. »Der Wegesrand ist hier bereits ziemlich zugewachsen«, stellt Axel Schönhofer fest. Sein Blick durchsucht rechts und links das üppige Grün. Doch er hat Glück: Zwischen langen Grashalmen recken sich kleine gelbe Blüten zum Licht.
Der Mitarbeiter des Wildpflanzenschutz-Projekts packt daher selbst an, um seinem Schützling wieder zu Luft und Licht zu helfen. Er holt eine Schere und eine Handsichel aus dem Auto und schneidet ein paar Eichen- und Rosentriebe zurück, dann reißt er lange Halme der Tauben Trespe (Bromus sterilis) aus.
Ein paar Schritte weiter entdeckt der Botaniker sogar noch mehr Exemplare des Rheinischen Fingerkrauts. Insgesamt spürt er 15 Pflänzchen unterschiedlicher Größe auf. »Das deckt sich in etwa mit der Individuenzahl von vor 20 Jahren«, fasst Schönhofer zusammen: »Das sieht doch ganz gut aus.« Die Population sei offenbar stabil, wenngleich auf niedrigem Niveau.
So eine kleine Gemeinschaft sei aber verwundbar, warnt Schönhofer. Regelmäßig schneiden Firmen im Auftrag der Tourismusverwaltung die Wanderwege frei. Wenn die Gärtner etwas zu gründlich zu Werke gehen, sind 15 kleine Pflanzen im Nu verschwunden: »Eine einzige übermäßige Mahd kann die Population vernichten.«
»Oft müssen wir über Versuch und Irrtum herausfinden, wann der Zeitpunkt zur Ernte ist«Axel Schönhofer, Botaniker
Axel Schönhofer kniet sich neben das Rheinische Fingerkraut am Rand des steilen Pfades. Potentilla rhenana blüht sehr reich und sehr lange, es produziert also viele Samen. Allerdings verrät die Fachliteratur lediglich, zu welchen Jahreszeiten die Blüten zu finden sind. Manche Pflanzen bilden sehr schnell Samen, bei anderen dauert die Reife lange. »Oft müssen wir über Versuch und Irrtum herausfinden, wann der Zeitpunkt zur Ernte ist«, sagt er.
Was ihm die Arbeit erschwert: Er kommt immer erst dann zu den Pflanzen, wenn sie verblüht sind und bereits Samen produzieren. Dann sind sie schwerer zu finden, als wenn bunte Blüten auf sich aufmerksam machen. Außerdem muss Axel Schönhofer den Wettlauf gegen die Landwirte und Landschaftspfleger gewinnen. Wenn die die Wiesen zu früh abmähen, sind auch die Samen futsch.
Vorsichtig biegt Axel Schönhofer die Blättchen zur Seite, die eine der Samenkapseln umschließen. Die Körnchen sind noch ziemlich grün. »Wir sind ein Tickchen zu früh.« Er wird also in zwei oder drei Wochen wiederkommen, um dann hoffentlich reife Samen zu ernten – für die Nachzucht und für die Saatgutbank.
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