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Mikrobiom: Stimmungsmacher im Darm

Viele psychische Erkrankungen wie Depressionen könnten ihre Wurzeln im Bauch haben. Mittlerweile verstehen Forscher die rätselhafte Verbindung zwischen dem Menschen und seinem Mikrobiom immer besser.
Verdauung

An sieben Wintertagen kurz vor und kurz nach Weihnachten mussten die Probanden von Nicolien de Clercq dem Akademisch-medizinischen Zentrum der Universität Amsterdam einen Besuch abstatten, gleich nach jedem ersten längeren Toilettenbesuch am Morgen. 14 Männer und 14 Frauen brachten ihre Hinterlassenschaft zur Analyse in das Labor, bevor sie sich wieder zu ihrer Familie gesellten – oder zu der ihres Partners. Ob sie ahnten, dass es für ihre Gesundheit einen Unterschied machte, wo genau sie die Festtage verbrachten?

Die Forscher um de Clercq jedenfalls hatten eine Vermutung – und die Untersuchungen, die sie anschließend durchführten, bestätigten diese: Anhand der gelieferten Proben konnten sie erkennen, welche Versuchspersonen Weihnachten mit ihrer eigenen Familie gefeiert und welche sich bei ihren Schwiegereltern aufgehalten hatten. Denn die Darmflora der beiden Gruppen unterschied sich deutlich: Sie war vielfältiger bei jenen, die die Festtage mit ihrer eigenen Familie begingen. Besonders prägnant zeigte sich das im Hinblick auf die Bakteriengattung Ruminococcus: Wer bei sich daheim feierte, trug mehr davon in sich.

Ein auffälliger und auch etwas besorgniserregender Befund, schreiben die Wissenschaftler im »Human Microbiome Journal« – selbst wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass ihre Studie methodische Schwächen hat: So untersuchten sie beispielsweise nur wenige Personen und schrieben diesen auch nicht vor, was sie zu essen oder wo sie zu feiern hatten. Viele Faktoren könnten die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflusst haben. Dennoch passen die Ergebnisse erstaunlich gut zu denen eines chinesischen Forscherteams, das bereits 2015 zeigte, dass niedrigere Mengen von Ruminococcus bei vielen Menschen mit einer Depression einhergehen. Zuvor hatte man bei Mäusen entdeckt, dass chronischer Stress die Anzahl genau dieser Bakterien im Darm vermindert. War es den Teilnehmern, die Weihnachten bei den Schwiegereltern verbrachten, womöglich ähnlich ergangen?

Billionen Mikroorganismen bevölkern unseren Körper

Die Frage, wie unsere Darmbakterien mit unserer psychischen Gesundheit zusammenhängen, beschäftigt Wissenschaftler derzeit intensiv. Zwischen 2015 und 2019 erschienen im Schnitt fünf Studien pro Tag zur rätselhaften Symbiose zwischen dem Menschen und seinem Mikrobiom: den Billionen Mikroorganismen, die auf und in unserem Körper leben. Die meisten dieser Bakterien, Phagen, Viren und Pilze befinden sich im Darm. Er bietet ihnen Schutz und Nahrung. Im Gegenzug regeln sie die Verdauung und produzieren lebenswichtige Vitamine und zahlreiche andere Stoffe.

Die Mikroorganismen schützen unseren Körper aber auch vor Krankheiten, indem sie das Immunsystem unterstützen. Und sie stehen in ständigem Austausch mit dem Gehirn. Auf diese Weise kann das Mikrobiom beeinflussen, wie Menschen fühlen, denken und handeln. Seine Beschaffenheit hat, da sind sich Forscher inzwischen sicher, direkte Auswirkungen darauf, wie anfällig jemand für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie ist. Klar ist inzwischen auch: Wie gut es dem eigenen Mikrobiom geht, haben wir selbst in der Hand. Denn seine Zusammensetzung hängt von Faktoren wie Stress, Medikamenten und unserer Ernährung ab.

Darm und Hirn kommunizieren miteinander

Erst seit wenigen Jahren beginnen Forscher zu verstehen, wie genau der Darm und das Gehirn miteinander kommunizieren: über die so genannte Darm-Hirn-Achse. Durch den Vagusnerv sind beide direkt miteinander verbunden und können Informationen austauschen. Gleichzeitig produzieren unsere Darmbakterien Botenstoffe – oder deren Vorstufen –, die unsere Stimmung beeinflussen. Und noch einen dritten Kommunikationspfad gibt es: die Zellen des Immunsystems, die sich sowohl im Darm als auch im Gehirn finden.

»Es ist wahrscheinlich, dass Veränderungen des Mikrobioms langfristige Konsequenzen haben für die emotionale Gesundheit und das allgemeine psychische Wohlbefinden«Frank Schröder

Ändert sich die Zusammensetzung des Mikrobioms, dann ändert sich die Kommunikation ebenfalls: der Inhalt der Botschaften, die über den Vagusnerv im Gehirn ankommen, die Art und Anzahl der Neurotransmitter sowie die Informationen, die sich über die Immunzellen verbreiten. Das zeigt etwa eine Studie, die 2019 im Fachmagazin »Nature« erschienen ist. Ein großes, multidisziplinäres Forscherteam der Cornell University, des MIT und der Harvard University wies dort bei Mäusen nach, wie unmittelbar Gehirnzellen auf ein verändertes Mikrobiom reagieren. Die Wissenschaftler verabreichten den Tieren ein Antibiotikum, das auch beim Menschen die Vielfalt der Darmbakterien massiv einschränkt. Die Folgen waren drastisch: So taten sich die Nager nach der Behandlung zum Beispiel schwer damit, Neues zu lernen. Im Gegensatz zu Tieren, die ein intaktes Mikrobiom aufwiesen, verlernten sie eine zuvor eingeübte Angstreaktion deutlich schlechter.

Als Schuldige dafür machten die Wissenschaftler unter anderem die Mikroglia aus, spezielle Immunzellen des Gehirns, die nach der Antibiotikagabe seltener mit anderen Hirnzellen kommunizierten. Die Mikroglia helfen beispielsweise dabei, Nervenverbindungen abzubauen, die nicht mehr benötigt werden. Gleichzeitig stärken sie die übrigen Verknüpfungen – was eine zentrale Grundlage für Lernprozesse darstellt.

Ob sich das ohne Weiteres auf Menschen übertragen lässt, ist noch unklar. Aber die Ergebnisse würden zumindest Anlass zur Sorge geben, dass das Mikrobiom auch bei Erwachsenen und Heranwachsenden die Psyche und die Lernfähigkeit beeinflussen könnte, glaubt Studienautor Frank Schröder von der Cornell University. Wahrscheinlich hätten Veränderungen des Mikrobioms langfristige Konsequenzen »für die emotionale Gesundheit und das allgemeine psychische Wohlbefinden«.

Menschen mit Depression haben weniger Bakterien

Auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen stoßen Wissenschaftler immer wieder auf ein verändertes Mikrobiom. Etliche Untersuchungen konnten solche Veränderungen etwa bei Menschen feststellen, die so unterschiedliche Diagnosen wie Schizophrenie, ADHS, Autismus, Essstörung, bipolare Störung oder Depression erhalten hatten. Bei Letzterer tummeln sich unter anderem weniger Bakterien der Gattungen Coprococcus und Dialister im Verdauungstrakt der Betroffenen. Diese sind jedoch unter anderem an der Produktion des Neurotransmitters Dopamin beteiligt, der wichtig für unseren inneren Antrieb und unsere Motivation ist, wie Gwen Falony und Jeroen Raes vom Flemish Flora Project in Belgien entdeckten.

Wie ein verändertes Mikrobiom zur Entstehung der einzelnen Symptome beiträgt, ist bei den meisten Krankheitsbildern bislang ungewiss. Dass es zwischen beiden einen kausalen Zusammenhang gibt, stellen Forscher allerdings kaum noch in Frage. Nicht nur, weil die Zusammensetzung der Darmflora bei so vielen Personen mit psychischen Erkrankungen auffällig ist, sondern auch, weil sich Krankheitssymptome zusammen mit den Darmbakterien sogar auf andere Tiere oder Menschen übertragen lassen – und wieder verschwinden, wenn sich das Mikrobiom durch therapeutische Maßnahmen regeneriert.

Wie entwickelt sich das Mikrobiom?

Wann genau Menschen ihre ersten Mikroben erhalten, wird unter Wissenschaftlern derzeit heiß diskutiert. Lange gingen Forscher davon aus, dass Babys während der Schwangerschaft in einer sterilen Umgebung heranreifen und erst während des Geburtsvorgangs mit den ersten Bakterien der Mutter in Kontakt kommen. In neueren Untersuchungen stießen Wissenschaftler allerdings in Plazentaproben auf bakterielle DNA, die auf das Vorhandensein eines Mikrobioms bereits im Mutterleib hindeutet. Die Hypothese von der »sterilen Gebärmutter« ist deshalb aktuell umstritten.

Nach der Geburt kommen mit jedem Tag mehr Bakterienarten hinzu, bis sich ein ganz individuelles Mikrobiom entwickelt hat, das ab dem Erwachsenenalter einigermaßen stabil bleibt. Ändern lässt sich die Darmflora nachweislich nur durch einige wenige Faktoren: etwa durch Stress, bestimmte Medikamente und durch die Ernährung.

Wissenschaftler um Peng Zheng von der chinesischen Universität Chongqing untersuchten das Mikrobiom von 63 Patienten mit Schizophrenie und stießen dabei auf einige Auffälligkeiten: Manche Bakteriengattungen fehlten bei den Probanden ganz, andere waren im Übermaß vorhanden. Als die Forscher kleine Proben der Darmflora dieser Patienten in den Darm von Mäusen transplantierten, zeigten diese unmittelbar Symptome, die für eine Schizophrenie charakteristisch sind, wie motorische Unruhe und Schreckhaftigkeit. Ähnliche Ergebnisse lieferten Studien zu Angststörungen oder Depressionen.

Seit Kurzem versuchen Forscher deshalb, diesen Effekt umzudrehen, indem sie Menschen mit psychischen Erkrankungen den Stuhl von gesunden Personen verabreichen – als Einlauf oder in Form von Kapseln. Der Neuropsychiater Stefan Borgwaldt testet gerade an den Universitäten Basel und Lübeck als einer der Ersten Stuhltransplantationen als Mittel gegen Depressionen. Noch lässt sich nicht absehen, wie die Ergebnisse ausfallen werden. Wenn der Versuch glückt, wäre es aber denkbar, dass Patienten irgendwann sogar nur noch gezielt die Bakterien verabreicht bekommen, die ihnen fehlen und die zur Heilung beitragen. Grundlage für solche Medikamente, die »Psychobiotika«, wäre allerdings eine Datenbank, in der alle Darmbakterien samt den Stoffen, die sie produzieren, katalogisiert sind.

Verbessern Probiotika die seelische Gesundheit?

Noch ist das Zukunftsmusik. Doch in Ansätzen funktioniert die Idee bereits, wie Kirsten Tillisch von der University of California in Los Angeles demonstrierte. Die Medizinerin erforscht die neurobiologischen Grundlagen von Stress. Im Jahr 2013 bat sie gesunde Frauen, einen Monat lang zweimal täglich einen Jogurt zu sich zu nehmen, der verschiedene Bakterienspezies enthielt. Darunter waren solche der Gattungen Lactobacillus und Bifidobacterium: Von ihnen weiß man, dass sie die drei Botenstoffe GABA, Dopamin und Azetylcholin produzieren und damit unter anderem Motivation, Antrieb sowie die Gedächtnisbildung unterstützen.

Am Ende des Monats untersuchte Tillisch, wie das Gehirn der Probandinnen im Vergleich zu dem einer Kontrollgruppe ambivalente Gesichtsausdrücke verarbeitete. Bei den Frauen aus der Probiotika-Gruppe waren etliche Hirnareale weniger aktiv als bei den Teilnehmerinnen aus der Kontrollgruppe. Ihr Gehirn ging mit der emotionalen Ambivalenz sozusagen gelassener um.

Auch andere Forschergruppen fanden in Pilotstudien Hinweise darauf, dass Probiotika zu einem besseren seelischen Wohlbefinden beitragen können. Finnische Kinderärzte um Anna Pärtty vom Turku University Hospital verabreichten Kindern in den ersten sechs Lebensmonaten ein Probiotikum, das Bakterien der Gattung Lactobacillus enthielt. Als die Kinder 13 Jahre alt waren, hatten in einer unbehandelten Kontrollgruppe 17 Prozent eine Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung oder ein Asperger-Syndrom entwickelt – in der Probiotika-Gruppe hingegen niemand. Erste ähnliche Befunde gibt es für Patienten mit Angststörungen und Depressionen: Ihre Stimmung und ihr Wohlbefinden verbesserten sich messbar nach Gabe von Probiotika.

Ballaststoffreiche Kost für ein gesundes Mikrobiom

Ganz allgemein ist die Ernährung ein zentrales Stellrad, um das Mikrobiom im Darm vielfältig und damit gesund und widerstandsfähig zu halten. Wer die Mikrobengemeinschaft in seinem eigenen Bauch fördern will, tut deshalb im ersten Schritt gut daran, sich zu überlegen, was auf dem eigenen Speiseplan landet – und was nicht. Speisen wie Jogurt, Kefir, Cheddar, Parmesan, Gruyère, saure Gurken, Sauerkraut oder Produkte auf Sojabasis wie etwa Kimchi oder Miso fördern die Vielfalt im Darm. Ballaststoffreiche Lebensmittel enthalten zudem oft so genannte Präbiotika: Stoffe, die der Mensch nicht verwerten kann, die aber zum Beispiel Lactobacillus- und Bifidobacterium-Bakterien als Nahrung dienen. Sie stecken unter anderem in Chicorée, Zwiebeln, Knoblauch, Spargel, Getreide, Artischocken und Bananen.

Lernen können wir in dieser Hinsicht zum Beispiel von Menschen, die noch als Jäger und Sammler leben wie die Hadza in Tansania: Ihr durchschnittliches Mikrobiom hat doppelt so viele Darmbakterien wie unsere hier – wohl auf Grund ihrer extrem ballaststoffreichen Ernährung.

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