200. Geburtstag von Johann Strauss: Die Popstars aus der Wiener Vorstadt

Es war der 1764 geborene Franz Borgias Strauss, der als Erster seiner Familie den Lockungen des Gastgewerbes erlag. In einer der kleinen Gassen der Wiener Leopoldstadt machte der Abkömmling einer ungarisch-jüdischen Handwerkerfamilie einen eigenen Bierausschank auf. Es kamen die einfachen Leute der Vorstadt, es kamen aber vor allem die Schiffer und Flößer, die der Donaukanal am Ende der Straße heranspülte.
Vom Schwarzwald bis zum Schwarzmeer brachten sie ihr buntes, oft abgerissenes Äußeres mit, ihre Gewohnheiten und musikalischen Traditionen – meist allerdings nur bescheidene Münze. Es reichte zum Überleben, aber nicht zum zufriedenen Leben. Wäre da nicht die Musik gewesen. Die Bierkneipe wurde zur Musikkneipe.
»From rags to riches« – aus dem Elend zum Wohlstand – heißt es gern phrasenhaft in amerikanischen Biografien. Doch genau dieses Schicksal stand dem kleinen Johann bevor, der in diesem Schankraum seine Kindheit verbrachte.
Der 1804 geborene spätere Urvater der »Sträusse«, wie die Wiener ihre berühmteste musikalische Dynastie nennen, wuchs zwar mit dem Sound der Weltmusik im Ohr, aber im chronischen Mangel auf. Und als wäre das dürftige väterliche Gewerbe nicht ärmlich genug gewesen, drückten die Begleiterscheinungen der Koalitionskriege – Heeresdurchzüge, Belagerung, Bombardement, Plünderung und erpresste Steuern – die Wiener zusätzlich nieder.
Zwar ordnete der Adel im Wiener Kongress von 1814/15 das postnapoleonische Europa und feierte die Niederlage der Revolution – ein politisches, aber auch musikalisches Großereignis: »Der Kongress tanzt«, schrieb ein Teilnehmer. Doch die Ärmsten bekamen die Kehrseite der politischen Achterbahnfahrt zu spüren – nicht zuletzt Franz Borgias Strauss. Galoppierende Geldentwertung brachte seine Bierwirtschaft ins Straucheln und ihn ums Leben. »In der Donau ertrunken gefunden worden«, heißt es in der Todesanzeige vom 5. April 1816, faksimiliert in einer 2024 vollendeten, ungeheuer materialreichen zweibändigen »historisch-biographischen Kompilation« des Musikhistorikers und »Strauss-Aficionados« Claus Kegel. Nachdem Johann bereits 1811 die leibliche Mutter weggestorben war, lebten er und seine Schwester nun unter Fremden und mussten sich ihr Nachtquartier vermutlich mit zahlenden bitterarmen Bettgängern teilen.
Mit der behördlichen Bestellung eines Vormunds allerdings begann sich das Blatt des Zwölfjährigen zu wenden. Fortan ging es bergauf – und am Ende eines kurzen, flackernden Lebens steil bergab. Buchbinderlehre mit 13, erste Bühnenerfahrung mit 15, so vermutet Kegel, und mit 19 die schicksalhafte Zusammenarbeit mit Joseph Lanner, dem geliebten musikalischen Wunderkind der Wiener. Lanners Quartett war es, das die Tanzmusik des Kongresses in die bürgerlichen Amüsiertempel und Gartenwirtschaften trug. Schließlich, mit 22 und ein Vierteljahr nach der Geburt seines Erstgeborenen Johann, genannt Jean, folgte eine lautstarke, publikumswirksame Trennung von Lanner und die Gründung eines Ensembles, das auf eigene Rechnung Musik verkaufte.
»Beim Lanner heißt's: Ich bitt' euch, geht's tanzen! – beim Strauß: Geht's tanzen, ich will's!«
Im Show-Boom des Biedermeier
»Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Dieser einem österreichischen Offizier zugeschriebene Satz beschreibt treffend die Mentalität des Wiener Biedermeier. Während mit Dampfschiffen und -hämmern, Eisenbahnen und Druckmaschinen die Produktivkräfte sich entfalteten, hielt der reaktionäre Polizeistaat des Kanzlers Metternich die Wiener nieder. Tanz und Amüsement wurden für die Jungen und die kleinen Leute zum Ventil für den Frust – kaum anders als in der formierten kapitalistischen Klassengesellschaft einer anderen Nachkriegszeit: in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Bei bunten Lichtern und Krinolinen, bei Braten und Wein, bei Musik und Tanz – besonders dem enthemmten, frivolen Paartanz des Walzers – machte man sich zeitweise innerlich frei. An manchen Tagen hatten die 300 000 Wiener die Qual der Wahl unter 300 verschiedenen Veranstaltungen. Eine neue Industrie blühte auf: die Unterhaltungsindustrie.
Der Boom machte das Geschäft schnell, hochriskant – und gnadenlos. Die Kosten waren hoch und übertrafen sogar die Künstlerhonorare, allein Beleuchtung und Dekorationen verschlangen so viel, wie hunderte Gäste als Eintritt einspielten. Schlechtwetter konnte einen Abend ebenso zum Fiasko machen wie die gelungene Werbeidee eines Konkurrenten. Doch Johann lernte schnell, womit er Publikum ziehen konnte: mit seinem Geigen- und Klavierspiel, das er sich selbst beigebracht hatte, vor allem aber mit aggressiver Werbung, dem Abgreifen »heißer« musikalischer Ideen am Rande des Erlaubten – und einer Bühnenpräsenz, die ihm keiner nachmachte. Mit seiner ekstatischen Gestik, die er vielleicht den Musikern in der väterlichen Bierwirtschaft abgeschaut hatte, kommandierte er sein Publikum. »Beim Lanner heißt's: ich bitt' euch, geht's tanzen! – beim Strauß: Geht's tanzen, ich will's!«, schrieb 1922 der Biograf Ernst Decsey, und kein Geringerer als der wahrhaft ekstasenerprobte Richard Wagner beobachtete 1832: »Dieser Dämon des Wiener musikalischen Volksgeistes erzitterte beim Beginn eines neuen Walzers wie eine Pythia auf dem Dreifuß, und ein wahres Wonnegewieher des wirklich mehr von seiner Musik als von den genossenen Getränken berauschten Auditoriums trieb die Begeisterung des zauberischen Vorgeigers auf eine für mich fast beängstigende Höhe.«
Nachdem die Ekstase abgeklungen und die Einnahmen gezählt waren, ging es ans Geschäft. Mit Wirten, Verlagen, Presseleuten, Künstlern verhandeln um die Vorzugsposition in der öffentlichen Wahrnehmung. Dem unverzichtbaren Stadtklatsch Nahrung geben durch gezielte Indiskretionen oder Inszenierungen wie der von seiner angeblichen Rivalität mit seinem früheren Mentor Lanner. Musiker suchen und bei der Stange halten zu bescheidenen Gagen. Mit heißer Nadel gestrickte Tanzmusik notdürftig proben. Das Komponieren dagegen war eine Nebensache, die allerdings stresste, denn »Es mußte Einem was einfallen«, wie Sohn Jean schrieb, als er die Gesamtausgabe der väterlichen Werke fast 40 Jahre nach dessen Tod einleitete. Das in 23 Jahren entstandene Œuvre des Vaters umfasst erstaunliche 252 gezählte und Dutzende ungezählte Stücke.
Ständige Anspannung und das Alles-geben-Müssen auf dem Dirigentenpodium zehrten an der Gesundheit des »Walzerkönigs«, wie er bald hieß – zumal privater Druck sie mehrte. Die »doch irgendwie ungenierte Lebensweise« (Musikhistoriker Michael Lorenz), die er aus den Vorstädten in sein royales Leben mitgebracht hatte, hieß für ihn in erster Linie Vielweiberei. Während er mit seiner Frau, der knapp drei Jahre älteren Wirtstochter Maria Anna, Kind auf Kind zeugte – sechs in zehn Jahren –, ging er vor den Augen seines mitreisenden »eigenen Orchester-Personales« (eine seiner innovativen Vorkehrungen, um sich nicht auf fremde Musiker verlassen zu müssen) mit seiner Geliebten Emilie Trampusch auf Europatournee, schreibt Lorenz in »Familie Trampusch – geliebt und totgeschwiegen«. Das blieb nicht ohne Folgen: Sein sechstes und letztes Kind mit Maria Anna war gerade zwei Monate alt, da brachte Emilie ihr erstes mit Strauss auf die Welt. Sieben weitere sollten folgen.
Ein triebhafter Maestro
Wien hörte, las und klatschte hämisch und lüstern mit. Der Familienvater Johann Strauss war eine öffentliche Person und mit ihm die Seinen. Dass er es vorzog, die Nächte bei seiner Nebenfrau und ihrer wachsenden Familie zu verbringen, und das großzügige Domizil im Zentrum der Leopoldstadt nur zur Arbeit betrat, krönte die Demütigungen, die seine Frau zu erdulden hatte, und nährte ihren Hass, der sie noch zu Höchstleistungen auf ihrem Feld beflügeln sollte: der Rache.
Fortan betrieb sie mit der ihr eigenen Energie nicht nur die Ehescheidung, was ohne die Zustimmung des Mannes ein jahrelanger entwürdigender Hürdenlauf zu werden versprach, sondern auch – schon um sich finanziell abzusichern – den Aufbau ihres Jean zum Bühnenstar, verbunden mit der künstlerischen Demontage des Walzerkönigs.
Wie sein zwei Jahre jüngerer Bruder Josef war Jean nicht für den Musikerberuf vorgesehen. In einer Zeit, da nicht einmal ein 23-Jähriger einen juristischen Schritt ohne Zustimmung seines Vaters tun durfte, waren ohnehin die Meinungen der Kinder nicht gefragt. So hatte der Vater die Söhne ins Benediktinergymnasium und dann ins Polytechnikum gesteckt, wo Jean sich mit Merkantilrechnung, Warenkunde und Handelswissenschaft herumschlagen durfte. Doch »die Liebe zur Musik hatten wir Buben von den Eltern ererbt, und das ließ sich nun nicht halten«, so Jean viel später zu einem Biografen. Vom Vater unbemerkt oder ignoriert, nahmen die beiden mit mütterlicher Unterstützung Instrumental- und Kompositionsunterricht, übten vierhändig am Klavier, und Jean studierte vor dem Spiegel die Bühnenshow ein, die Vater Johann so einzigartig machte.
Als dieser endlich reagierte, war es zu spät. Am 31. Juli 1844, zweieinhalb Monate vor Jeans 19. Geburtstag und im Jahr neun der faktischen Trennung seiner Eltern, geschahen gleich zwei unerhörte Dinge: Maria Anna reichte die Ehescheidung ein, und Jean ersuchte beim Magistrat um die Erlaubnis, sich als Musikdirektor selbstständig zu machen. Er sollte nun Ernährer der achtköpfigen Familie werden und die großzügige Wohnetage finanzieren, von der allein 19 Fenster auf die Taborstraße hinaussahen. Johann versuchte, mit juristischen Mitteln beide Schritte zu stoppen, musste sich aber geschlagen geben, und zweieinhalb Monate später schwang sich sein Sohn auf die Estrade des Dommayerschen Casinos in Schönbrunn, um seinen Vater musikalisch herauszufordern. Der hatte seine Spione und Claqueure abgeordnet, damit sie den Auftritt störten, falls sich Gelegenheit ergab – es ergab sich keine. Das Publikum lag Jean zu Füßen. »Gute Nacht, Lanner! Guten Abend, Strauss Vater! Guten Morgen, Strauss Sohn!«, kommentierte eine Zeitung den Generationswechsel und die Heraufkunft einer neuen saftigen Rivalität, die es genüsslich auszuschlachten galt.
In den folgenden fünf Jahren schenkten Johann Strauss (Vater) und Johann Strauss (Sohn) einander nichts. Klatsch, Verleumdungen, geistiger Diebstahl, Anzeigen, wechselseitiges Abwerben von Instrumentalisten, mafioser Druck auf Wirte gehörten zu den Kampfmitteln, mit denen jeder den anderen kleinzuhalten suchte. Es galt, gut gebucht und präsent zu sein, Plätze zu besetzen, bevor der andere sie besetzte. Daher engagierten sie Stellvertreter und teilten ihre Aufmerksamkeit auf, hasteten an den Konzertabenden von Etablissement zu Etablissement, um wenigstens einige Stücke persönlich zu dirigieren. Im Fiaker wechselten sie hastig die Hemden und rollten völlig erschöpft am frühen Morgen zurück in ihre »Gefechtsbasen«. Doch Jean hatte auf lange Sicht die besseren Truppen: seine Familie und insbesondere Mutter Maria Anna. Schon unter Johann hatte sie – sofern Geld da war – die Finanzen geregelt. Dieser Passion vieler Wirtsleute ging sie nun für Jean nach. Im Hintergrund, versteht sich, denn juristisch war sie unmündig und musste das Vertragswesen ihrem »Schani« überlassen.
Sturz eines Walzerkönigs
Die dramatischen und strapaziösen Jahre, in denen die blutig niedergeschlagene Revolution von 1848/49 für zusätzliches Chaos sorgte, forderten schließlich ein Todesopfer: Vater Johann Strauss. 45-jährig erlag er im September 1849 einer Infektionskrankheit, vermutlich Scharlach. Noch über seinen Tod hinaus warfen die Kampfparteien einander mittels der ihnen ergebenen Journaille Gemeinheiten zu. Die Söhne hätten ihren Vater ungerührt sterben lassen, behaupteten die einen. Im Gegenteil, schrieben die anderen: Emilie hätte die gemeinsame Wohnung leergeräumt und sich aus dem Staub gemacht. Diese glatte Lüge tischte der jüngste Strauss-Sohn Eduard noch fast 60 Jahre später den Lesern seiner »Erinnerungen« auf. Tatsächlich, so kann Kegel belegen, waren neben reichem Hausrat mehr als 1000 Gulden in bar und jede Menge fertiger, bestens verkäuflicher Noten in den Räumen verblieben – ein attraktives Erbe.
Der alte Walzerkönig war tot, ein junger setzte seinen Fuß bereits auf die Thronstufen. Doch auch ihm hatten die anstrengenden Jahre zugesetzt. Im Fasching 1851 erlitt er einen ernsten Zusammenbruch – den ersten einer ganzen Reihe – und rief damit alte mütterliche Existenzängste wach. Sie behalf sich, indem sie Jeans Bruder Josef aufs Podium kommandierte. Der Sinn des melancholischen, weichen Zweitgeborenen stand eigentlich nach der Technik – sogar eine Erfindung geht auf sein Konto. Seinem Vater hatte er noch getrotzt und gegen die kaiserlichen Truppen gekämpft, statt sich ihnen anzuschließen. Der Mutter fügte er sich. Und er bewies sein Talent zur Musik, das das seines Bruders sogar überragte, wie dieser selbst zugeben musste. Den Mangel an Bühnenpräsenz konnte seine Musikalität allerdings nicht ausgleichen. Er kompensierte diesen Mangel durch eine Karriere eigener Prägung: Seine besten Stücke waren Walzer zum Zuhören, nicht zum Tanzen. Die Häme der Kritik hatte er wegzustecken und einfach als Jeans Stellvertreter aufzutreten, sobald die Familie ihn schickte. Und wohin sie ihn schickte. Wie einst Vater Johann bespielten die Sträusse, verstärkt durch Eduard, den Jüngsten, bald ganz Österreich, außerdem Preußen, Frankreich, England sowie zehnmal Russland, wo dem Zaren persönlich an der Unterhaltung der gehobenen Gesellschaft gelegen war. Mit seinem eigenen, dem österreichischen Kaiser Franz Joseph, stand Jean ohnehin auf Grüßfuß.
Killer Bühne
Der jüngere und weniger glamouröse Bruder hatte zurückzustecken, sobald Jean wieder bei Kräften war. In dem nach außen gefügigen Josef goren Wut und Trotz – bis es 1870 zu einem Ausbruch kam. Im Februar war die Mutter gestorben und mit ihr das Machtzentrum der Familie verschwunden. Josef setzte eine Tournee ins damals russische Warschau durch. Doch der kaufmännisch unerfahrene, überforderte Musiker verpatzte sie nicht nur, sondern brach auf dem Podium bewusstlos zusammen. Die Brüder und ihre Ehefrauen hielten wie immer in der Stunde der Not zusammen und retteten, was zu retten war: Jeans Auftritte wendeten ein völliges Fiasko ab, während Josefs Frau Carolina den Kranken mit der Bahn nach Wien holte, wo er vier Wochen später verstarb.
Im Spätherbst wurde mit der früh verwitweten Tante Pepi das letzte noch verbliebene Mitglied der Elterngeneration zu Grabe getragen – Zeit zum Aufbruch für den mittlerweile 45-jährigen Jean, der mit seiner Frau Jetty, einer erfahrenen Gesangssolistin, nicht nur das Familienheim verließ, sondern sich auch von ihr zur Bühnenmusik inspirieren ließ.
Für das Musiktheater zu schreiben, bot neben sicheren Honorareinnahmen für Musik und Inszenierung die lukrative Möglichkeit, einzelne Tanzsätze auszukoppeln und einerseits in den Tanz- oder Konzertsaal zu bringen, andererseits als Notenausgaben zu verkaufen. Zuvor hatten sie infolge der schmalen Margen aus den Bällen und Konzerten unter ungeheurem Produktivitätsdruck gestanden, wie jüngst ein Aufsatz des Musikwissenschaftlers Wolfgang Stanicek mit detaillierten Honoraraufstellungen zeigte. »Mit Operetten ließ sich ein Vielfaches verdienen«, schreibt Stanicek – allein aus seiner ersten Operette »Indigo und die vierzig Räuber« (1871) holte Jean beim Theater an der Wien 16 000 Gulden Garantiehonorar für die Aufführung und 10 000 Gulden für die Verwertung der Einzelkompositionen heraus. Auf heutige Werte umgerechnet waren dies rund 400 000 Euro – und dies ohne jedes Risiko. Im Vergleich dazu hatten Jean und seine Brüder mit ihrem lukrativsten Ball überhaupt gerade einmal den Gegenwert von 32 000 Euro umgesetzt – vor Abzug aller Kosten! Unter diesen Umständen fiel es ihm leicht, das äußerst disziplinierte Strauss-Orchester an seinen Bruder Eduard abzutreten. Es nützte ihm sowieso nichts, wenn er in Theatern mit festen Ensembles seine Operetten aufführte.
Transatlantische Showkarrieren
So wuchs der Ruhm des Johann Strauss – und wurde zum Weltruhm. Auch jenseits des Atlantiks, wo der Sieg der industrialisierten, liberalen Nordstaaten im Bürgerkrieg einen langanhaltenden Wirtschaftsboom eingeleitet hatte, war ein schwerreiches Bürgertum auf den Kapellmeister aus dem altmodischen Kaiserreich aufmerksam geworden. 1872 ließ der abergläubische, ängstliche Jean sich von seiner Jetty überreden, all seinen Mut zusammenzunehmen und einen Dampfer nach New York zu besteigen. »Johann Strauss' amerikanische Reise« in all ihrer Skurrilität ist nun zum ersten Mal Gegenstand einer ganzen Monografie geworden, die die beiden Strauss-Kenner Bernhard Ecker und Peter Hosek im Jahr 2024 vorlegten. Hatten es die Sträusse seit Generationen verstanden, mit Superlativen um sich zu werfen und den Schein für das Sein zu verkaufen, so begegnete Jean nun weit dreisteren Marktschreiern. Er erlag den Tricks und Übertreibungen – und dem großen Geld – des amerikanischen Impresarios Florenz Ziegfeld, der ihn zu einem »Weltfriedensjubiläum« aus Anlass des beendeten Deutsch-Französischen Krieges nach Boston lockte.
Vor der Überfahrt hatte Jean vorsichtshalber sein bisheriges Leben gleichsam abgewickelt: Amt und Titel des k. u. k. Hofmusikdirektors sowie das Strauss-Orchester mitsamt einem riesigen Archiv handschriftlicher und gedruckter Noten seinem zehn Jahre jüngeren Bruder Eduard übergeben, ein detailliertes Testament erstellt, eine wohltätige Stiftung zugunsten notleidender Musiker gegründet und ein umfangreiches Rentenpaket in seinen Vertrag mit Ziegfeld hineinverhandelt.
Es erwies sich als unnötig: Er, seine Jetty und ihre Entourage kamen heil zurück, und Jean ließ sich durch die amerikanischen Übertreibungen dazu anstecken, noch unverfrorener zu flunkern, als die Wiener es von ihm gewohnt waren. Er erzählte, er habe, unterstützt von 20 Subdirigenten, die seinen Schlag von ihm abnahmen, mit 20 000 Sängern den Walzer »An der schönen blauen Donau« vor 100 000 Zuhörern aufgeführt. Solche Märchen dekonstruieren Bernhard Ecker und Peter Hosek lustvoll und augenzwinkernd auf der Basis von Archivstudien in den USA.
Auch Bruder Eduard zog es 1890/91 und erneut 1900/01 mit dem Strauss-Orchester in die USA, auch er feierte spektakuläre Konzerterfolge. Der Anlass der zweiten Reise war allerdings unerfreulich. Eduard hatte der Familientradition treu bleibend eine Wirtstochter geheiratet, doch im Gegensatz zu seiner Mutter konnte seine Maria nicht mit Geld umgehen. Er fand heraus, dass seine Söhne Johann (Johann Strauss III. in der etablierten »dynastischen« Zählung) und Josef mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Mutter fast seine gesamten Rücklagen verjuxt hatten – unter anderem mit der Edelprostituierten Mizzi Caspar, die dem Kronprinzen Rudolph die Nacht vor seinem Suizid auf Schloss Meyerling versüßt hatte. Der letzte Skandal der Sträusse war zugleich der saftigste. Und er zwang den inzwischen 65-jährigen Eduard, seinen geplanten Ruhestand zu verschieben.
Ein Eisenbahnunfall bei Pittsburgh 1901 und die mit ihm verbundenen Verletzungen gaben ihm Anlass, das Orchester aufzulösen. Ob Eduard bei diesen späten Auftritten noch sonderlich viel Vergnügen empfand, bleibt fraglich. Die Brachialität, mit der er anschließend das musikalische Kapitel Strauss erledigte, spricht dagegen.
Am Nachmittag des 22. Oktober 1907 quillt Rauch aus den Schornsteinen der Wiener Kachelofenfabrik Raus. In den Brennöfen lodert Papier über Papier: Eine ganze Wagenladung voll mit Notenblättern schaufeln die Arbeiter in die Flammen. Es ist das unschätzbar wertvolle Strauss-Musikarchiv mit wohl hunderten ungedruckten Originalkompositionen und -arrangements. Fabrikchef Raus will die Tat noch verhindern. »Ich kann nicht!«, ruft Strauss ihm zu. Persönlich überwacht er das Autodafé, sichtlich angefasst, wenn die Arbeiter erinnerungsschwangere Pakete dem Brand überantworten. So schilderte es Raus dem »Neuen Wiener Journal« zehn Jahre später, als das Geschehen nach Eduards Tod publik wird. Wollte Strauss verhindern, dass der Familienschatz seinem Sohn in die Hände fällt? Ging es ihm um mögliche Urheberrechtsansprüche anderer Musiker? Das ließ sich bis heute nicht klären. Sicher ist, dass Material in ungeahntem Ausmaß für immer verlorenging. »Von dem Umfang des Archivs hat man vielleicht eine Vorstellung«, schreibt Raus, »wenn ich mitteile, dass das Verbrennen der Musikalien von 2 Uhr nachmittags bis 7 Uhr abends dauerte.« Einige Tage später fuhr Strauss mit zwei weiteren Wagen bei einer anderen Fabrik vor.
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