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Kernkraft: Wie ernst war der Störfall im Kernkraftwerk Fessenheim?

Der französische Atommeiler Fessenheim gilt Kritikern als schrottreif und soll abgeschaltet werden. Ein schwerer Störfall im April 2014 soll heruntergespielt worden sein. "Spektrum.de" sprach dazu mit Walter Tromm, Wissenschaftler am Programm Nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung des KIT in Karlsruhe.
Kernkraftwerk (Symbolbild)

Herr Tromm, wie ernst war der Zwischenfall im April im Kernreaktor Fessenheim tatsächlich?

Walter Tromm: Über den Ernst lässt sich sicher streiten. Offiziell wurde der Störfall zunächst auf der INES-Skala – der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse – bei 0 eingestuft. Das entspricht einem Ereignis ohne oder mit nur geringer sicherheitstechnischer Bedeutung. Nach einer neuen Bewertung im Sommer 2014 wurde er auf Stufe 1 hochgestuft; es handelte sich damit um eine Abweichung vom normalen Betrieb der Anlage. Bei einer Nichtbehebung der Problemquelle hätte es zu einem höherstufigen Folgeereignis kommen können. Ab Stufe 3 wäre eine radiologische Freisetzung erfolgt, und es wäre eine Strahlenbelastung der Mitarbeiter eingetreten. Da dies bei dem besagten Störfall in keiner Weise der Fall war, ist das meiner Meinung nach nicht falsch bewertet. Dennoch ist es natürlich nicht gut, dass das Überfüllen eines Tanks mit Wasser im konventionellen Bereich einen von zwei vorhandenen Strängen der Leittechnik lahmlegt.

Wurde der Reaktor zwischenzeitlich wirklich "blind" gefahren, und stiegen die Temperaturen unkontrolliert an?

Offenbar war der Betriebsmannschaft beziehungsweise den Reaktorfahrern durch den Ausfall des einen Strangs nicht ganz klar, ob die Steuerstäbe gefahren werden können. Und man hatte Bedenken, dass es beim Betätigen der Steuerstäbe eventuell zu einer Reaktorschnellabschaltung (RESA) kommen könnte. Dies will man aber in der Regel wegen der Materialbeanspruchung vermeiden. Deshalb griff man auf das Borierungssystem zurück, um den Reaktor langsam herunterzufahren. Eine RESA wäre aber jederzeit möglich gewesen. Und eine Beurteilung des Zustands der Anlage hat im Nachhinein klar gezeigt, dass die Steuerstäbe funktionstüchtig gewesen wären.

In verschiedenen Medien – auch bei "Spektrum.de" – stand zu lesen, dass eine Notborierung nötig war. Zwischenzeitlich wurde ich aufgeklärt, dass diese Borierung eigentlich ein völlig normaler Vorgang in einem Reaktor wie Fessenheim ist. Was muss man sich also unter einer Borierung vorstellen, und welchen Zweck hat sie?

Durch die Änderung der Borsäurekonzentration (Borsäure ist ein Neutronenabsorber) im Kühlwasser wird der Reaktor geregelt. Das ist ein normaler Vorgang und hat nichts mit einer Notsituation zu tun.

Unabhängig von diesem Ereignis: Wie schätzen Sie die Sicherheit von Fessenheim ein?

Der europäische Stresstest für Kernreaktoren hat auch an französischen Anlagen einige Punkte aufgezeigt, die verbessert werden sollten: Schutz vor externen Ereignissen wie Hochwasser, Orkanen oder Erdbeben. Diverse Maßnahmen wurden bereits durchgeführt, wie verbesserte Notstromaggregate, die nun verbunkert und geschützt gegen externe Ereignisse sind. Andere, gravierende Maßnahmen werden jedoch noch diskutiert – hauptsächlich geht es dabei um die technische Ausführung. Zum Beispiel überlegt man, wie bei einem sehr schweren Störfall eine entstehende Kernschmelze noch so aufgefangen werden kann, dass das Betonfundament und der Sicherheitsbehälter intakt bleiben. Damit möchte man gewährleisten, dass selbst bei einem solchen Extremereignis keine oder kaum Radioaktivität in die Umgebung gelangt. Ein wichtiger Punkt ist unter anderem der Schutz gegen Flugzeugabstürze – inklusive der Frage, wie man diesen nachträglich noch verbessern kann. Die Anlagen wurden damals nicht dafür ausgelegt, einen möglichen Aufprall heutiger großer Verkehrsflugzeuge auszuhalten.

Der Reaktor in Fessenheim ist in diese Nachrüstmaßnahmen und die weiteren Überlegungen dazu ebenfalls miteinbezogen. Genaue Details veröffentlicht die European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG) in ihren Erklärungen zu jedem einzelnen Reaktor eines jeden Landes.

Welche Lehren müssten aus diesem Vorfall – und der Berichterstattung an offizielle Stellen und an die Medien – gezogen werden?

Das ist meines Erachtens mehr eine politische und kulturelle Frage: Sicher ist, dass – prinzipiell und bei allen Risikotechnologien noch viel mehr – die Bevölkerung ein Recht haben muss, transparent über Vorfälle informiert zu werden. Wie objektiv die Menschen diese Informationen aufnehmen, hängt dann natürlich von ihnen selbst ab, etwa ob sie zunächst die Faktenlage wissen möchten oder lieber nur oberflächlich und damit zwangsweise ungenau informiert werden wollen. Die "Badische Zeitung" hatte im Oktober 2014 über den Vorfall und die Bewertung des Vorfalls in einem Artikel berichtet, der im Grunde das Für und Wider der Meinungen gut widerspiegelte.

Vielen Dank für das Gespräch.

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