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Toxikologie: Vorsicht, Trinkwasser!

Seit Jahrzehnten gelangen nicht abbaubare Perfluorcarbone in die Umwelt. Es gibt Indizien für mögliche Gesundheitsgefahren, doch das tatsächliche Risiko ist schwer zu beziffern.
In vielen Regionen gelangen chemische Stoffe ins Grundwasser und damit auch ins Leitungswasser, die nicht abgebaut werden und sich im Körper anreichern.

Fast 10 000 Menschen arbeiten im Gewerbegebiet Pease International Tradeport in der Hafenstadt Portsmouth in den Vereinigten Staaten. Darunter lauert ein giftiges Erbe. Bis 1988 war hier ein Stützpunkt der US Air Force. Zu Übungszwecken setzte die Feuerwehr damals alte Flugzeuge in Brand und löschte die Flammen mit einem Schaum aus Chemikalien. Dieser versickerte im Boden und kontaminierte das Grundwasser, das die Bewohner heute verwenden.

© Spektrum der Wissenschaft / HYPERRAUM.TV
Gefahr im Trinkwasser?

2015 nahmen Wissenschaftler Proben des Trinkwassers und entdeckten darin Poly- und Perfluorcarbone (PFC). Das sind verschiedene chemische Verbindungen, bei denen die Wasserstoffatome in Ketten von Kohlenwasserstoffen teilweise beziehungsweise vollständig durch Fluor ersetzt worden sind. Diese Fluorkohlenstoffe sind äußerst reaktionsträge und bilden auf Oberflächen dünne, widerstandsfähige Filme. Darum lassen sich mit PFC-haltigem Löschschaum Feuer gut ersticken. Aus den gleichen Gründen werden sie in der Natur praktisch nicht abgebaut.

Die gemessenen Konzentrationen waren 35-mal höher, als die US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency (EPA) empfiehlt. PFC werden seit Jahrzehnten überall auf der Erde in zahllosen Konsumartikeln verwendet und haben sich im Boden und im Grundwasser verteilt. Je intensiver Forscher danach suchen, desto mehr kontaminierte Orte finden sie. So gut wie jeder Mensch in den Industrienationen hat PFC-Moleküle aus dem Trinkwasser oder den Nahrungsmitteln im Blut. In Regionen, wo PFC oder Produkte aus ihnen hergestellt wurden, reichern sich die Chemikalien besonders stark an. Wer in solchen Gegenden lebt, hat meist deutlich erhöhte Konzentrationen der Stoffe im Körper.

Als sich 2016 die Hinweise häuften, dass PFC vor allem für Kinder giftig sind, senkte die EPA die Richtwerte für zwei der schädlichsten und am weitesten verbreiteten Verbindungen im Trinkwasser auf einen neuen Tiefstwert von 70 Teilen pro Billion (englisch: parts per trillion, ppt) oder dem Äquivalent von einem Tropfen in 20 Olympiaschwimmbecken. In zwei Dutzend US-Staaten liegen die Werte für das Trinkwasser in einigen Gemeinden über dieser neuen Marke.

Praktisch jedes irgendwann einmal produzierte PFC-Molekül befindet sich noch irgendwo auf der Erde

Zwischen 2013 und 2015 überprüfte die EPA jedes Wasserwerk, das mehr als 10 000 Menschen versorgt. Bei 66 der Anlagen, zuständig für insgesamt sechs Millionen Amerikaner, lagen die Konzentrationen an PFC in dem Zeitraum mindestens einmal über den neuen Richtwerten. Viele Bundesstaaten werden nun aktiv. Im Juli 2016 empfahlen die Gesundheitsämter 100 000 Bewohnern im nördlichen Alabama, das kontaminierte Leitungswasser nicht zu trinken. In Pennsylvania schlossen die Behörden im Oktober 2016 22 öffentliche und 150 private Trinkwasserbrunnen. In Ohio und West Virginia haben 3500 Bürger DuPont verklagt, einen der größten PFC-Hersteller. Sie behaupten, Krebs und andere Krankheiten würden wegen eines DuPont-Werks rund um den gemeinsamen Grenzfluss häufiger auftreten. Offizielle Stellen legten den Bewohnern in Hoosick Falls im Staat New York 2015 nahe, das mit PFC belastete Leitungswasser nicht zu trinken." Wahrscheinlich haben wir das Problem in seinem ganzen Ausmaß überhaupt noch nicht erfasst", sagt David Andrews, Wissenschaftler der Umweltorganisation Environmental Working Group in Washington, D.C.

Hohe Blutkonzentrationen von PFC könnten Krebs auslösen, das Immunsystem schwächen und zu Fortpflanzungsstörungen führen. Es ist aber völlig unklar, ab welcher Menge die Gesundheit von Menschen gefährdet ist. Wir nehmen PFC nicht nur mit dem Trinkwasser auf, sondern auch über Nahrungsmittel und Konsumprodukte.

PFC wurden in den 1940er Jahren von der Minnesota Mining and Manufacturing Company, heute 3M genannt, entwickelt und seitdem in großen Mengen produziert. Verwendet man sie beispielsweise als Beschichtung von Jacken, perlen Wasser, Fett und Schmutz an der dauerhaften und undurchdringlichen Lage ab. PFC kamen lange Zeit auch in Küchenutensilien oder Lebensmittelverpackungen vor, beispielsweise Antihaftpfannen oder Popcorntüten. Mit Hilfe dieser Chemikalien kann man andere Beschichtungen wie Teflon leichter auf Oberflächen aufbringen. In den anschließenden Produktionsschritten sollte das PFC wieder entfernt werden, aber Untersuchungen dazu, ob das vollständig gelang, liefern widersprüchliche Ergebnisse. Die PFC könnten also später bei Kontakt mit Nahrungsmitteln an diese abgegeben worden sein.

Vor allem die langkettigen Moleküle verbleiben jahrelang im Körper

Die Verbindungen wurden von vielen Herstellern weiterentwickelt und verbreitet verwendet. Heute sind mehr als 3000 unterschiedliche PFC im Umlauf. Ihre Stabilität, die bei der Herstellung zahlreicher Produkte so erwünscht war, erweist sich nun als Nachteil für die Umwelt und unsere Gesundheit. Die Moleküle aus Kohlenstoff und Fluor sind unnatürlich und können im Boden von Mikroorganismen nicht abgebaut, von der Sonne kaum zerstört und in Pflanzen, Tieren und Menschen nicht verstoffwechselt werden. Praktisch jedes irgendwann einmal produzierte PFC-Molekül befindet sich noch irgendwo auf der Erde. Wissenschaftler entdeckten PFC unter anderem in Eisbären, Walen, Fischen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Viele Jahre lang wurden vor allem langkettige PFC mit acht oder mehr Kohlenstoffatomen eingesetzt. Die beiden häufigsten sind Perfluoroctansäure (PFOA), etwa bei der Herstellung von Teflon und GoreTex, sowie Perfluoroctansulfonsäure (PFOS), ein Bestandteil von Löschschaum und aufsprühbarem Imprägniermittel. Im Gegensatz zu Schadstoffen wie Dioxin oder DDT, die sich vor allem im Fettgewebe anreichern, gehen PFC ins Blut und könnten deswegen von den Nieren herausgefiltert werden. Diesen gelingt das bei langkettigen PFC nicht gut, so dass Letztere kaum mit dem Urin ausgeschieden werden und jahrelang im Körper verbleiben.

Anfang des 21. Jahrhunderts haben die meisten großen Chemiekonzerne in den Vereinigten Staaten, Europa und Australien gemeinsam beschlossen, bis 2015 zumindest die langkettigen PFC weitgehend auszumustern und durch Alternativen zu ersetzen, etwa kurzkettige PFC, die der Körper innerhalb weniger Tage ausschwemmt. Doch auch sie bleiben in der Umwelt. In den Haushalten gibt es zudem einerseits ältere Produkte, die diese Chemikalien weiterhin enthalten. Andererseits haben sich einige Unternehmen dem freiwilligen Programm gar nicht erst angeschlossen; chinesische Hersteller produzieren bis zu 300 Tonnen PFOA und PFOS jährlich. Man verwendet sie beispielsweise für wasserfeste Sportbekleidung und für Schmutz abweisende Möbelpolsterungen und Teppiche. 2015 haben mehr als 200 Wissenschaftler die so genannte Erklärung von Madrid unterzeichnet, in der sie die weit verbreitete Verwendung von PFC und die zu geringe Information der Öffentlichkeit über deren Eigenschaften und Auswirkungen anprangern.

Vor dem freiwilligen Ausstieg von Teilen der Industrie aus den langkettigen PFC waren Verpackungen für Nahrungsmittel und Textilien die größte alltägliche Quelle für Belastungen. Inzwischen sind es vor allem Fisch und landwirtschaftliche Produkte. Seit die langkettigen PFC nicht mehr verwendet werden, fallen deren Konzentration im Blut langsam wieder. 1999 führte die Gesundheitsschutzbehörde der USA, die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die ersten entsprechenden Tests durch. Damals lagen die PFOA-Spiegel im Blut von US-Amerikanern knapp über 5 Mikrogramm pro Liter; 2012 waren sie nur noch halb so hoch. Die durchschnittlichen PFOS-Werte haben im gleichen Zeitraum in den Vereinigten Staaten noch stärker abgenommen, von 30 auf gerade einmal 6 Mikrogramm pro Liter. Dies ist nur ein geringer Trost für Menschen, die in den zahlenmäßig zunehmenden Gebieten mit PFC-kontaminiertem Trinkwasser leben. Im Juni 2016 berichteten die Behörden von New Hampshire von einer Untersuchung in dem Gewerbegebiet von Portsmouth. Jeder der fast 1600 überprüften Menschen – ein Viertel davon Kinder aus den dortigen Tagesstätten – wies PFC-Konzentrationen auf, die den Richtwert deutlich überschritten. Die größten Mengen wurden bei Menschen in der Nähe der Chemiefabrik von DuPont in Wood County, West Virginia, festgestellt. Die Konzentrationen von PFOA bei den etwa 70 000 Einwohnern lagen durchschnittlich bei 82 Mikrogramm pro Liter. Doch laut Kyle Steenland, Epidemiologe und Professor an der Rollins School of Public Health der Emory University, betrugen die höchsten Werte 1000 Mikrogramm pro Liter! Wahrscheinlich leben hunderttausende US-Bürger in Gegenden mit zu hohen PFC-Belastungen durch Militärgelände, Chemiefabriken und Abwasseraufbereitungsanlagen. Ganz zu schweigen von den Millionen Betroffenen in anderen Industrieländern.

Studienergebnisse variieren von Tierart zu Tierart – und selbst zwischen Untersuchungen bei Menschen

Es ist schwer herauszufinden, ab welcher Konzentration PFC gefährlich werden. Patrick Breysse, Direktor des National Center for Environmental Health der CDC in Atlanta, bekräftigt: "Ich werde oft gefragt, wie PFC möglicherweise schaden. Darauf gibt es keine klare Antwort. Wir können zwar ihre Konzentrationen messen, aber wir wissen nicht genau, welche Folgen sie für den menschlichen Körper haben." Studien liefern kein eindeutiges Bild. PFC haben diverse Auswirkungen auf Tiere, aber je nach Art ganz unterschiedliche. Selbst die Ergebnisse für Menschen variieren von Untersuchung zu Untersuchung; einige deuten auf nachteilige Einflüsse, andere nicht. Benjamin Chan, Epidemiologe im Department of Health and Human Services in New Hampshire, erläutert das Problem: "Menschen möchten die Konzentrationen in ihrem Blut mit denen vergleichen, die in bestimmten Studien Schäden anrichten, aber die Qualität einer einzelnen Studie ist für sich genommen meist nicht sehr hoch. Die Ergebnisse sind darum insgesamt oft verwirrend und schwer zu werten." Seit 2000 wissen Forscher, dass PFC bei Ratten Leber-, Hoden- und Pankreaskrebs verursachen können, bei Affen jedoch wohl nicht. Lebervergrößerung, Immunschwäche, neurologische Veränderungen, Fettleibigkeit und Verzögerung der Brustdrüsenentwicklung wurden bei verschiedenen Tierarten dokumentiert. Die EPA begründet ihre neuen Richtwerte mit Studien an Mäusen, deren Mütter PFC ausgesetzt waren – die Nachkommen haben ein geringeres Geburtsgewicht, Knochenprobleme und werden schneller geschlechtsreif.

Allgegenwärtige Chemikalien | Mehr als sechs Millionen US-Amerikaner werden mit Trinkwasser versorgt, das PFC in Konzentrationen über dem empfohlenen Richtwert enthält. Das ergab eine Erhebung von Xindi Hu von der Harvard University. Gemeinden mit weniger als 10 000 Bürgern und private Brunnen sind nicht untersucht worden, deshalb könnten die wirklichen Zahlen sogar höher sein.

Während Forscher Tieren in kontrollierten Studien PFC verabreichen können, kommen bei Menschen nur epidemiologische Erhebungen in Frage. Das heißt, man findet heraus, ob in Gemeinden mit einer höheren PFC-Belastung tatsächlich mehr Krankheiten auftreten. Dabei kommen aber auch weitere mögliche Ursachen in Betracht, etwa Rauchen, Ernährungsgewohnheiten und andere Chemikalien. All das könnte die wahren Auswirkungen von PFC verschleiern. Steenland sagt, am einfachsten ließen sich große Gruppen von stark exponierten Menschen untersuchen, weil Veränderungen der Häufigkeit von bestimmten Krankheiten hier leichter auffielen. Ein Beispiel ist die Bevölkerung in der Nähe des DuPont-Chemiewerks in West Virginia. Hier gelangten ein halbes Jahrhundert lang PFOA in den Fluss Ohio und sickerten von dort aus in das umliegende Grundwasser. Die Konzentrationen erreichten teilweise mehr als 4000 ppt.

Auch die Reaktion des Immunsystems auf Impfungen könnte betroffen sein

Auf Grund eines Vergleichs in einer Sammelklage gegen DuPont im Jahr 2004 verpflichtete sich die Firma zu einem 35-Millionen-Dollar-Programm, um etwaige gesundheitliche Auswirkungen zu untersuchen. Die so genannte C8-Studie zeigte "mögliche Verbindungen" zwischen der PFOA-Belastung im Trinkwasser der untersuchten 69000 Bürger und verschiedenen Beschwerden: Nieren- und Hodenkrebs, Colitis ulcerosa, Erkrankungen der Schilddrüse, Hypercholesterinämie und Schwangerschaftshypertonie. Steenland, einer der Studienleiter, erkennt zwar eine Tendenz, dass der Kontakt mit PFOA und diese Krankheiten miteinander in Zusammenhang stehen. "Damit ist aber noch lange nicht definitiv klar, ob PFOA tatsächlich für eine dieser Krankheiten ursächlich verantwortlich sind", fügt er hinzu. "Unsere Daten sind schon ziemlich belastbar, doch eine einzige große Studie reicht nicht aus. Wir müssen auch andere Populationen untersuchen."

Weitere Erhebungen könnten ebenfalls nötig sein, um negative Auswirkungen auf das sich entwickelnde Immunsystem von Kindern bei schon geringen PFC-Belastungen festzustellen. Wird ein Kind zum Beispiel gegen Masern geimpft, reagiert sein Körper mit der Bildung von Antikörpern. Kommt er dann später mit dem Virus in Kontakt, kann sein Immunsystem ihn sofort effektiv bekämpfen. Möglicherweise behindern PFC die normale Antwort des Körpers auf Impfungen und reduzieren den Impferfolg. 2012 berichteten Wissenschaftler von der Harvard University, dass die Antikörperkonzentrationen nach einer Diphtherie- und Tetanusimpfung mit steigender PFC-Belastung der untersuchten Kinder abnahmen. Die entsprechende Studie wurde auf den Färöer-Inseln vor Norwegen durchgeführt, wo die Menschen die PFC hauptsächlich über ihre Ernährung mit Walfleisch und anderen Meerestieren aufnehmen. Kinder und Schwangere weisen dort ähnlich hohe Werte auf wie die durchschnittliche US-Bevölkerung. Philippe Grandjean, Professor an der Harvard T.H. Chan School of Public Health und Leiter dieser Studie, befürchtet, Kinder mit erhöhten PFC-Konzentrationen könnten schlechter auf Impfungen reagieren. Laut Andrew Rooney, einem Toxikologen der National Institutes of Health, zeigen Studien an Mäusen das Gleiche: Sowohl PFOA als auch PFOS unterdrücken bei Tieren die Antikörperbildung. "Da wir hier bei Tieren und Menschen ähnliche Effekte feststellen, können wir den Studienergebnissen eher vertrauen. Wir erwarten also eine weniger effektive Immunreaktion auf Impfstoffe bei Menschen, die höhere PFC-Konzentrationen in ihrem Körper haben", so Rooney. Die vergleichbaren Ergebnisse zeigten sich bislang jedoch nur bei Mäusen. Weder Ratten noch Affen reagierten entsprechend.

Im Rahmen der C8-Studie haben die Forscher die Antikörperbildung bei Menschen aus den stark belasteten Gemeinden in Ohio und West Virginia untersucht. Die Antikörperkonzentrationen waren bei einer von drei verschiedenen Grippeimpfungen etwas unterdrückt; zu mehr Grippefällen kam es jedoch nicht. Tony Fletcher, Epidemiologe an der London School of Hygiene & Tropical Medicine und einer der C8-Studienleiter, fragt sich nun, warum seine Studie und diejenige von Grandjean so unterschiedliche Resultate zeigen: "Eigentlich würde man deutlichere Auswirkungen erwarten, wenn die Belastung höher ist."

Die unklare Datenlage und knappe Ressourcen könnten die Anstrengungen zum Erliegen bringen, Standards festzulegen

Epidemiologen brauchen Geduld. Steenland hofft, dass Ergebnisse weiterer Studien aus anderen Teilen der Welt zur Klarheit beitragen. Empfehlungen können jedoch nur auf den bereits vorliegenden Daten basieren, und die Experten sind sich über deren Interpretation oft nicht einig. Die Behörden in New Jersey beispielsweise unterboten den EPA-Richtwert für PFOA, sie empfehlen 14 statt 70 ppt. Ihrer Meinung nach schützen geringere Werte eher vor Lebervergrößerung und der Verzögerung der Brustdrüsenentwicklung; diese Wirkungen wurden bei Mäusen schon bei geringsten Konzentrationen beobachtet. Auf eine Nachfrage bei der EPA, warum sie hier nicht gleichziehe, antwortete ein Sprecher, dass die Agentur die Leberveränderungen bei den Nagern nicht als beeinträchtigend einschätze und dass man die Ergebnisse wegen anderer biologischer Mechanismen womöglich ohnehin nicht auf Menschen übertragen könne. Der Sprecher schrieb auch, die Verzögerung der Brustdrüsenentwicklung bei den Tieren behindere die Milchbildung oder das Stillen nicht. Grandjean fordert hingegen maximal ein ppt im Trinkwasser, was seiner Meinung nach nötig ist, um immunologische Auswirkungen bei Kindern zu verhindern.

Richtwerte sind nur ein erster Schritt, verbindliche Grenzwerte sind das Ziel

Eine unklare Datenlage, zu knappe finanzielle und personelle Ressourcen, zurückhaltende Gesetzgeber und gegensätzliche Interessen von Umweltgruppen und Industrie könnten die Anstrengungen der EPA zum Erliegen bringen, verbindliche Standards für das Trinkwasser festzulegen. "Untersuchungen über die Auswirkungen von Chemikalien auf die Gesundheit werden oft endlos verzögert", sagt Andrews von der Environmental Working Group. "Doch die EPA muss diese Bewertungen abschließen, bevor sie Grenzwerte nach dem Safe Drinking Water Act festlegen kann." Die aktuellen Richtwerte für PFC sind nämlich kaum mehr als eine Vorsichtsmaßnahme. Wasserwerke müssen die PFC-Konzentrationen nicht einmal bestimmen; viele tun es inzwischen allerdings auf Grund des wachsenden öffentlichen Drucks.

Streitigkeiten um weitere Stoffe im Trinkwasser, die geprüft und deren maximale Konzentrationen reglementiert werden sollen, binden zusätzlich Kapazitäten der EPA. Dazu gehören 1,4-Dioxan, Chrom-VI-Verbindungen und Perchlorate. Für Letztere wollte die EPA eigentlich bis Ende 2015 einen Höchstwert im Trinkwasser festlegen. Interne Diskussionen über die Toxizität der Chemikalie führten zu Verzögerungen; die EPA wird deshalb von der Umweltschutzorganisation Natural Resources Defense Council gerichtlich verfolgt. Deren Anwalt Erik Olsen beklagt, die notwendigen Studien der EPA würden zu viele Ressourcen verschlingen und Einmischungen der Industrie ermöglichen. "Die EPA ist nicht mehr handlungsfähig", urteilt er. In einer E-Mail sagte ein Mitarbeiter der EPA, dass sie PFOA und PFOS gemäß den Vorgaben des Safe Drinking Water Act evaluiere, über den Zeitpunkt der Verlautbarung eines Grenzwerts aber keine Auskunft geben würde.

PFC in Deutschland und Europa

Im Sommer 2013 gab es einen Zufallsfund im Grundwasser des baden-württembergischen Landkreises Rastatt. Seither wurden in der Region auf 400 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche große Mengen PFC festgestellt. Möglicherweise hatten Landwirte die Böden zwischen 2005 und 2008 mit Kompost gedüngt, der massenhaft kontaminierte Papierschlämme enthielt. Zwei Wasserwerke sind inzwischen geschlossen, und in der Region angebaute Lebensmittel werden auf PFC-Rückstände überprüft, bevor sie in den Handel dürfen. Eine Sanierung der betroffenen Flächen erscheint den Behörden derzeit nicht verhältnismäßig – Gutachter schätzen die Kosten auf mindestens einen dreistelligen Millionenbetrag.

In Deutschland legt das Umweltbundesamt (UBA) Leitwerte für Trinkwasser fest. Die letzte Bekanntmachung des UBA nach Anhörung der Trinkwasserkommission des Bundesministeriums für Gesundheit zu PFC wurde im Januar 2017 online publiziert. Das UBA beruft sich in seinen Bewertungen auch auf andere Institutionen, zum Beispiel US-amerikanische, und betont die teilweise Unsicherheit der Datenlage und Interpretationsspielräume. Die Empfehlungen für die langkettigen und potenziell besonders schädlichen Verbindungen PFOA und PFOS liegen laut der amtlichen Mitteilung bei jeweils 0,1 Mikrogramm pro Liter (das entspricht etwa 100 ppt). Das bedeutet, bis zu dieser Konzentration können alle Bevölkerungsgruppen das Trinkwasser nach Einschätzung des UBA bedenkenlos lebenslang trinken. Nach Informationen der Energiewerke Rastatt lag der Wert der PFC-Gesamtsumme im Wasser des zuerst betroffenen Brunnens 2013 bei rund 0,3 Mikrogramm pro Liter, davon entfiel nur ein Hundertstel auf die Summe aus PFOA und PFOS. Einzelne Messstellen in der Region liefern jedoch weiterhin PFC-Gesamtwerte über zwei Mikrogramm pro Liter.

Auch in anderen Ländern Europas tauchen PFC an vielen Orten auf, sobald man danach sucht. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace konnte die Verbindungen unter anderem in einem Schweizer Nationalpark nachweisen und prangert die Hersteller von Funktionskleidung an, die das Material beispielsweise für wasserfeste Jacken und Zelte verwenden. In Schneeproben aus Italien, der Slowakei sowie aus Finnland und Schweden fanden sich ebenfalls langkettige PFC. Manche Firmen haben auf Kritik reagiert und werben inzwischen mit PFC-freien Produkten.

Jahrzehntelang waren der EPA durch gerade jenes Gesetz die Hände gebunden, das ihr die Reglementierung oder das Verbot von Chemikalien erlaubte. Denn als der Toxic Substances Control Act (TSCA) 1976 in Kraft trat, fielen alle 62 000 Stoffe, die schon im Handel waren, unter eine Altfallregelung. Dazu gehörten die PFC. Auf Grund des TSCA fokussierte sich die EPA auf neue Verbindungen, und die bereits existierenden entgingen den Kontrollen. Charles Auer, heute Anwalt in Washington, D.C., leitete das EPA-Büro, das den TSCA umsetzte. Er umschiffte diese Einschränkungen, als er den freiwilligen Verzicht auf PFOA und PFOS koordinierte, und resümiert heute: "Die Tatsache, dass langkettige PFC zum großen Teil nicht mehr im Handel sind und die Konzentrationen im menschlichen Blut gefallen sind, zeigt den Fortschritt trotz der faktischen Schwäche des TSCA zu diesem Zeitpunkt. Wir haben das Problem der Produktion und Verwendung von PFC innerhalb von 15 Jahren weitgehend gelöst – das ist ein kurzer Zeitraum für so einen Prozess."

Im Juni 2016 änderte der Kongress schließlich den TSCA, um der EPA mehr Einfluss auf bereits im Umlauf befindliche Chemikalien zu geben. Die EPA betrachtet PFC im Moment als Stoffe, die gemäß dem novellierten Gesetz evaluiert werden sollten. Sie sagt aber auch, dies habe keine hohe Priorität, weil sie schon Anstrengungen unternommen habe, um langkettige PFC vom Markt zu nehmen.

Als ein Gesetz zur Reglementierung in Kraft trat, fielen alle Stoffe, die schon im Handel waren, unter eine Altfallregelung – auch die PFC

Auf Grund der regulatorischen und wissenschaftlichen Unsicherheiten wissen die Bürger in den Vereinigten Staaten immer noch nicht, ob die PFC in ihrem Trinkwasser gefährlich sind und was sie unternehmen sollen. Andrea Amico möchte erfahren, was PFC für die Gesundheit ihrer Familie bedeuten. Die Therapeutin lebt in Portsmouth. Ihr Mann hatte, sieben Jahre bevor die Kontamination entdeckt worden war, eine Stelle in dem Gewerbegebiet angenommen. Die gemeinsamen Kinder besuchten die dortige Tagesstätte. Ihr Mann und ihre Kinder haben nun erhöhte PFC-Konzentrationen im Blut. 2015 rief Amico eine Aktionsgemeinschaft ins Leben und drängt die CDC, eine Langzeitstudie mit den 350 Kindern aus dem Gewerbegebiet zu initiieren.

Amico will eine Längsschnittstudie mit Blutproben und medizinischen Untersuchungen, bis die Kinder erwachsen werden. Es gibt bei PFC bisher zu wenige Daten zu Kindern und zu wenige Langzeitstudien. Im August 2016 erklärte Breysse von der CDC, seine Organisation zöge zwar eine Querschnittstudie in Betracht, um etwa den Cholesterinspiegel, die Immunabwehr und die Schilddrüsenhormone zu einem bestimmten Zeitpunkt zu untersuchen. Die Behörde hielte eine Längsschnittstudie aber für nicht sinnvoll, weil die Gruppe betroffener Kinder im Gewerbegebiet zu klein sei, um Veränderungen mit statistischer Relevanz feststellen zu können. Breysse findet es besser, die Kinder in eine größere nationale Erhebung einzugliedern. "Im Moment planen wir die Studie", sagt Breysse, "und gleichzeitig wollen wir uns mit den Problemen einzelner Gemeinden beschäftigen." Amicos größte Sorge ist die Ungewissheit: "Ich frage mich in schlaflosen Nächten, was diese Chemikalien für die Gesundheit meiner Kinder bedeuten."

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  • Quellen

Grandjean, P., Clapp, R.: Changing Interpretation of Human Health Risks from Perfluorinated Compounds. In: Public Health Reports 129, S. 482–485, 2014

Hu, X. et al.: Detection of Poly- and Perfluoroalkyl Substances (PFASs) in U.S. Drinking Water Linked to Industrial Sites, Military Fire Training Areas, and Wastewater Treatment Plants. In: Envi­ronmental Science & Technology Letters 3, S. 344–350, 2016

Steenland, K. et al.: Epidemiologic Evidence on the Health Effects of Perfluorooctanoic Acid (PFOA). In: Environmental Health Per­spectives 118, S. 1100–1108, 2010

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