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Gene und Umwelt: Wie Gene unsere Persönlichkeit beeinflussen

Die Gene eines Menschen und seine komplexeren Persönlichkeitsmerkmale hängen irgendwie zusammen, meinen Forscher – bis hin zu den politischen Präferenzen oder der Dauer seiner Schullaufbahn. Es steht zu befürchten, dass diese Erkenntnis falsche Schlussfolgerungen provoziert.
Obwohl wir so komplex sind, haben Menschen unerwartet wenig Gene
Obwohl wir so komplex sind, haben Menschen unerwartet wenig Gene

In Yorkshire, in der Ortschaft Kellingley, hat das letzte Steinkohlebergwerk 2015 geschlossen – als allerletztes von mehr als tausend, die einst die Grundpfeiler der britischen Industrie bildeten. Mit den Bergwerken verschwanden die Jobs. Und dann die Menschen: Viele, die konnten, machten sich angesichts des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs auf und davon.

Der Genetiker Abdel Abdellaoui hat weder Kellingley noch einen der anderen Orte im früheren Steinkohlegürtel des Vereinigten Königreichs je besucht. Aber er hat etwas Überraschendes über die Städte und ihre Einwohner herausgefunden: Seine Forschungen legen nahe, dass das Erbgut der Menschen vor Ort mit nachteiligen Genvarianten gespickt ist, ähnlich wie der Boden unter ihren Füßen es einst mit Kohleflözen war.

Für seine Studie analysierte Abdellaoui das Genom von Menschen, die in ehemaligen Kohlebergbaugebieten leben. Dabei stieß er auf genetische Signaturen, die mit einem kürzeren Schulbesuch assoziiert werden. Andere Gensignaturen scheinen – allerdings mit statistisch geringerer Signifikanz – mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status der Genspender zu korrelieren. Und manche genetische Varianten korrelieren sogar mit politischen Überzeugungen – genauer gesagt damit, ob die Gemeinden, in denen die Menschen leben, beim Brexit-Referendum 2016 für oder gegen den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben.

Ganz klar: Mit Erkenntnissen wie diesen bewegt sich Abdellaoui auf politisch vermintem Gelände, wie der an der Universität Amsterdam in den Niederlanden beschäftigte Forscher auch selbst konstatiert. Aber, meint er: »Ich habe versucht, die genetische Variation des Menschen zu verstehen – und bin dann auf eben dies gestoßen.«

Seine Studie, veröffentlicht in »Nature Human Behaviour«, ist beispielhaft für einen Forschungstrend, der sich gerade abzeichnet: Mit gigantischer Datenmenge und enormer Rechenleistung wird versucht herauszufinden, ob Gene einen Beitrag zu komplexen sozialen Merkmalen leisten. So ist in den letzten Jahren zum Beispiel untersucht worden, ob genetische Varianten mit Aggression zusammenhängen, mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Vorlieben, mit dem Wohlbefinden, unsozialem Verhalten oder einer stärkeren Neigung zu Alkohol- und Tabakkonsum. Ihre Forschung zwingt die Genetiker dabei in kontrovers ausgetragene Diskussionen – die auch schon mal in der Beschuldigung gipfeln, sie würden »der Eugenik wieder die Tür öffnen«, wie etwa der Wissenschaftshistoriker Nathaniel Comfort 2018 in einem Review-Artikel vom MIT-Magazin »Technology Review« getitelt hat.

Studien wie die von Abdellaoui liefern Genetikern und Sozialwissenschaftlern wichtige und hilfreiche Indizien, mit denen das Ausmaß, das Umwelt und Erbfaktoren auf bestimmte Verhaltensmerkmale haben, exakter umrissen wird. Das ist zunächst ähnlich wie bei früheren Genanalysen, die Hinweise darauf geliefert hatten, ob Menschen mit bestimmten Genvarianten ein höheres Risiko für Krebs oder Herzinfarkt tragen.

Der genetische Ansatz könnte also helfen zu verstehen, wie sich die Umwelt auf komplexe Merkmale auswirkt. Und vielleicht ergeben sich daraus dann Möglichkeiten, in bestimmten Fällen gegenzusteuern – mit konkreten Zielen, etwa um den Zugang zu öffentlichen Bildungsangeboten zu verbessern. »Das ist superspannend«, findet Philipp Köllinger, Genökonom an der Vrije Universiteit Amsterdam in den Niederlanden. »Wir und die Wissenschaft bekommen so bessere, präzisere Möglichkeiten, Fragen zu beantworten, die uns schon lange umtreiben.«

»So was macht mir echt Gänsehaut«Philipp Köllinger

Fallstricke lauern allerdings an allen Ecken und Enden. So ist der Beitrag der Gene zu jedwedem Verhaltensmerkmal stets relativ gering und wird leicht durch Umwelteinflüsse überlagert. Die Studien können außerdem nur die Wahrscheinlichkeit eingrenzen, mit der jemand ein bestimmtes Merkmal hat – ob diese eine Person die Eigenschaft dann wirklich zeigt, ist nicht vorherzusagen. Die meisten Wissenschaftler sind schnell dabei einzuschränken, dass sie mit den Studien vor allem die Grenzen eines möglichen Einflusses von Genen auf Verhalten ausloten möchten – wenn der Einfluss denn überhaupt existiert. Diese Botschaft kommt allerdings nicht immer und überall an; und längst entdecken Unternehmen einen Markt darin, DNA auf ähnlich mäßigem Niveau zu enträtseln wie ein Wahrsager Kaffeesatz. »So was macht mir echt Gänsehaut – das kommt allerdings vor«, gibt Köllinger zu.

Kritiker halten auch die ethischen und gesellschaftlichen Risiken, die mit dem Umgang mit solchen Informationen verbunden sind, für zu hoch. Knackpunkt sei dabei »nicht so sehr, dass es genomische Forschung überhaupt gibt – sondern wie wir sie dann einsetzen«, erklärt Maya Sabatello, Bioethikerin an der Columbia University in New York City. »Wer wird profitieren? Wer wird nicht profitieren? Wir leben in einer sehr ungleichen Gesellschaft, und das ist eine große Herausforderung.«

Starke Zahlen

Genforscher waren jahrzehntelang davon ausgegangen, dass oft nur eine Handvoll Gene über die Ausprägung einer Eigenschaft bestimmen würde – egal, ob es sich dabei um etwas eher Offensichtliches handelt (wie die Körpergröße) oder um etwas sehr Komplexes (wie die Tendenz zu unsozialem Verhalten). Mit immer umfangreicheren Stichproben deckten die Wissenschaftler allerdings schnell mehr und mehr Beispiele auf, bei denen gleich Hunderte von Genvarianten einen jeweils kleinen Einfluss auf ein Merkmal haben. Solche Studien – die »genomweiten Assoziationsstudien« (GWAS) – verdeutlichen, welche Buchstaben im DNA-Code typischerweise von Person zu Person variieren (was sich in Form der so genannten Single Nucleotide Polymorphisms oder SNPs äußert) oder welche Varianten bei Personen mit einem bestimmten Merkmal am häufigsten vorkommen, und wie groß der Einfluss der SNP auf den Unterschied der Individuen dann ist. Am Ende summieren die Forscher diese Punkte zum so genannten »polygenen Score«, einem Maß des Gesamteinflusses von Genen auf ein Merkmal.

Ein Beispiel: Die Unterschiede in der Körpergröße – die bekanntlich stark von genetischen Einflüssen bestimmt werden – sind, GWAS-Analysen zufolge, zu rund 20 Prozent durch genetisch abweichende genetische Varianten zu erklären. Mehr und mehr Studien beschäftigten sich schließlich mit dem genetischen Einfluss auf die Physiologie oder Krankheiten – während gleichzeitig allmählich die Frage aufkam, ob der Ansatz auch zur Untersuchung sozialer und psychologischer Eigenschaften taugt. Tatsächlich haben Forscher für einige vielschichtige Merkmale, wie etwa die Tendenz zu sozialer Isolation, nur einen schwachen genetischen Einfluss nachweisen können: Die Erblichkeit pendelt einer Untersuchung zufolge um die vier Prozent.

In anderen Fällen entpuppten sich zunächst schwache Hinweise aus Genstudien als überraschend aussagekräftig. So berichtete 2013 ein vielköpfiges Forscherteam unter dem Dachnamen »The Social Science Genetic Association Consortium« (SSGAC) von der ersten GWAS zum Thema Bildungsabschlüsse, gemessen an der Anzahl von Schuljahren der Datenspender.

Zunächst hatte die Studie drei SNPs identifiziert, die alle zusammen nur gerade einmal zwei Prozent der unterschiedlichen Schuldauer erklären können. Dann wiederholte das gleiche Forscherkonsortium 2016 die Untersuchung, diesmal aber mit einer fast 300 000 Personen umfassenden Datensatzmenge, mehr als doppelt so viele wie in der drei Jahre davor durchgeführten Studie. Diesmal fand das Team 74 SNPs, die 3,2 Prozent der Variation erklären konnten. Schließlich sammelten die Wissenschaftler dann die Daten von 1,1 Millionen Menschen und entdeckten darin mehr als 1200 SNPs, die zusammen 11 bis 13 Prozent der Variation ausmachten.

Demnach könnten Gene den Bildungsabschluss eines Kindes etwa ähnlich stark beeinflussen wie der sozioökonomische Status seiner Familie. »Das ist wirklich bemerkenswert«, findet Tim Morris, Epidemiologe an der Universität von Bristol, Großbritannien.

Abseits von Bildung erforschen die Genetiker auch andere von sozialen Faktoren geprägte Merkmale. Das SSGAC veröffentlichte zum Beispiel 2016 eine GWAS auf der Datenbasis von 300 000 Menschen, die freiwillig über ihr subjektives Wohlbefinden Auskunft gegeben hatten – und identifizierte dabei drei assoziierte SNPs. Im Jahr 2017 postulierte eine GWAS mit 6200 Strafgefangenen in Finnland eine schwach ausgeprägte genetische Signatur für »unsoziales Verhalten«. Bei keiner der beiden Studien kam zwar am Ende ein polygener Score heraus – die Wissenschaftler erwarten allerdings, dass auch für diese Merkmale mit wachsendem Stichprobenumfang belastbare Resultate zu erwarten sind.

Die zunehmende Aussagekraft von GWAS hat Abdellaoui inspiriert, eine noch differenziertere Frage anzugehen: Wie unterscheiden sich soziale Merkmale – der Bildungsabschluss etwa – innerhalb eines Landes? Auf der Suche nach einer Antwort wühlte er sich mit seinem Team in die Tiefen der Datensätze der britischen Biobank: Hier sind Blut- und Gewebeproben sowie Umfrageantworten von fast 450 000 Menschen enthalten, alle verknüpft mit Zusatzinformationen wie Gesundheitsdaten und Krankenhauseinweisungen.

Das Team sammelte zunächst – anhand früherer Studien – 33 Gesundheits- und Verhaltensmerkmale mitsamt der sie beeinflussenden genetischen Varianten und summierte dann die einzelnen Beiträge der Varianten, um einen polygenen Score des Merkmals zu berechnen. Dann durchmusterten die Forscher Proben der britischen Biobank nach ihren aufgelisteten Genotypen – mit dem Ziel herauszufinden, ob diese im Vereinigten Königreich womöglich auch regional unterschiedlich häufig vorkommen. Dabei mussten sie zunächst regionale Unterschiede in der genetischen Variation ausschließen, die schlicht aus gemeinsamen Abstammungslinien resultieren – also dadurch, dass die Menschen vor Ort einfach historisch länger nahe zueinander gelebt haben, stärker miteinander verwandt sind und daher auch eher ähnliche DNA-Varianten haben.

Nach diesem Filterprozess ermittelten sie am Ende Merkmale, die über alle Regionen des Vereinigten Königreiches ähnlich häufig verbreitet sind, so etwa die Neigung zu Koffeinkonsum. Einige andere offenbar genetisch definierten Merkmale aber kommen in bestimmten Regionen auffällig häufiger vor als in anderen. Ein Beispiel ist die Verbreitung der mit dem Bildungsabschluss assoziierten Genotypen: Sie unterscheidet sich signifikant, wobei die Menschen in ehemaligen Kohlebergbauregionen nach den Erkenntnissen der Forscher im Durchschnitt weniger genetische Varianten trugen, die mit einem längeren Schulbesuch oder einem Hochschulstudium korrelierten.

Der an der Studie beteiligte Genetiker Peter Visscher von der australischen University of Queensland legt Wert auf die Feststellung, dass noch unklar bleibe, welche biologische Erklärung hinter dem identifizierten genetischen Muster stecken könnte: Der Befund deute nach seiner Einschätzung auf »einen Proxy für Gene, die mit Intelligenz zu tun haben, vielleicht mit Ausdauer und vielleicht auch ein wenig mit Risikobereitschaft«. Abdellaoui unterstreicht, dass seine Erkenntnisse mehr beschreibenden als erklärenden Charakter haben. »In den unteren sozioökonomischen Schichten ist ein ganzes Bündel unterschiedlichster Einflussfaktoren wirksam – über Kausalitäten und Veränderungsrichtungen (also darüber, wie und ob sie sich auswirken) kann man nur sehr schwer Aussagen treffen.«

»Wer profitiert? Wir leben in einer sehr ungleichen Gesellschaft!«Maya Sabatello

Die Forscher vermuten aber, dass der regionale Unterschied auf die Migration von Menschen mit höherer Bildung zurückzuführen ist: Sie wandern in ökonomisch bessere Regionen mit hochwertigeren Arbeitsplätzen ab. Zurück bleiben dann Menschen mit den bestimmten genetischen Signaturen, die mit weniger Schulzeit assoziiert sind. Diese soziale Umschichtung könnte sich im Lauf der Zeit verstärken, warnen die Wissenschaftler: »Wenn das über mehrere Generationen hinweg so weitergeht, dann riskiert man, die bereits bestehende soziale Ungleichheit durch biologisch unterfütterte Ungleichheiten weiter zu verstärken«, erklärt Abdellaoui.

Ganz analoge geografische Muster fanden die Forscher auch bei anderen Merkmalen, wobei die Zusammenhänge hier allerdings weniger deutlich waren. Genotypen, die bekanntermaßen eng mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status und einer geringeren kognitiven Leistungsfähigkeit verbunden sind, fanden sie häufiger in ärmeren Gebieten. Und dieselben Genotypen sind auch schon mit der politischen Ausrichtung von Menschen in Verbindung gebracht worden, berichten die Forscher: Personen in Kohlebergbaugebieten mit mehr genetischen Varianten, die mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status assoziiert sind, stimmten eher für die linke Labour Party oder die rechte UKIP. Die Personen hatten beim Brexit-Referendum auch eher dafür gestimmt, dass das Vereinigte Königreich die EU verlassen soll.

Das bedeute nicht, erklärt Abdellaoui, dass jemand genetisch veranlagt ist, in einer bestimmten Weise zu wählen – ein Einwand, den andere Experten des Forschungsfeldes unterstreichen. »Insgesamt gefällt mir die Studie, und ich denke, dass die Autoren seriös gearbeitet haben«, sagt Morris. »Meine Hauptsorge ist allerdings, dass diese Ergebnisse überinterpretiert werden. Es handelt sich um informative deskriptive Statistiken – allerdings eben um deskriptive.« Zudem weist er darauf hin, dass die Daten der britischen Biobank »extrem selektiv« sind und die Einwohnerschaft der ehemaligen Kohlebergbauregionen wahrscheinlich nicht ausreichend repräsentativ abbilden. Also müssten unbedingt »gerade die regionalen Ergebnisse mit Bedacht interpretiert werden«.

»Meine Hauptsorge: Diese Ergebnisse könnten überinterpretiert werden«Tim Morris

Die GWAS-Studien liefern stets auf Assoziationen basierende Resultate, die immer mit großer Umsicht präsentiert werden sollten – sonst laufe man Gefahr nahezulegen, die Gene eines Menschen würden seinen Lebensweg prägen, gibt Daniel Benjamin zu bedenken. Der Verhaltensökonom der University of Southern California in Los Angeles ist es ansonsten leid, dass sich sein Forschungsfeld immer noch mit dem Gespenst der Eugenik auseinanderzusetzen hat: jener Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Idee, nach der Menschen mit vermeintlich »minderwertigen« Genen, daran gehindert werden sollten, Kinder zu bekommen.

»Jeder von uns, der in diesem Bereich forscht, hat eine ethische Verpflichtung, und diese ethische Verpflichtung wird umso dringlicher, wenn es sich um die Genetik des Verhaltens dreht – hier gab es in der Vergangenheit schließlich schreckliche Fehlinterpretationen mit grauenhaften Folgen«, so Benjamin. Ein häufiger Anlass für Verwirrung sei das mangelhafte Verständnis für die eigentliche Bedeutung des »polygenen Scores«, und darüber, was er wirklich über den Beitrag von Genen oder Umwelt aussagt. »Es ist für Menschen offenbar wirklich schwer zu verstehen, dass Gene Verhalten nicht diktieren.«

Mit Blick auf seine eigene Studie aus Großbritannien meint Abdellaoui, er wolle in keiner Weise nahelegen, Gene seien »die einzige Determinante für den Bildungserfolg einer Person. Es handelt sich um eine Kombination aus Umwelt- und genetischen Auswirkungen.«

Das genetische Klassenzimmer

Damit allerdings nicht genug an Mahnungen und Einschränkungen. Ein polygener Score bildet nur das »Risiko« ab, ein bestimmtes Merkmal zu tragen – er deutet aber nicht unbedingt darauf hin, dass ein Verhaltensmerkmal auch wirklich in größerem Maßstab durch Gene beeinflusst wird. Mit dem Score eines Menschen kann beispielsweise nie vorhergesagt werden, dass dieser Mensch niemals einen Universitätsabschluss machen wird oder dass er mit 16 Jahren von der Schule abgehen wird. »Ich glaube nicht, dass ein polygener Score je ein ausreichendes Prognoseniveau erreichen wird, um solche individuellen Vorhersagen mit nur halbwegs hoher Treffsicherheit machen zu können«, meint der Psychologe Paige Harden von der University of Texas at Austin.

Als Benjamin und sein Team die letzte GWAS zum Thema Bildung veröffentlichten, fügten sie einen 20-seitigen FAQ-Anhang bei, der die Motive der Studie erläuterte. Dort stellten sie beispielsweise klar, dass ihrer Ansicht nach die Resultate keine Empfehlungen für eine veränderte Bildungspolitik rechtfertigen würden. Nicht jeder sei allerdings derart vorsichtig, erläutert Morris: »Es kommen derzeit einige wissenschaftliche Studien heraus, die sich eines allerletzten Schlusssatzes nicht enthalten können. In dem steht dann so was wie: »Die DNA-Revolution hat begonnen, und bald werden Gene nützlich sein, um den Bildungserfolg zu prognostizieren.« Das halte ich für ziemlich unverantwortlich«, so Morris.

Nach seiner Überzeugung sollten Veröffentlichungen mehr Kontext liefern – also zum Beispiel darauf hinweisen, dass schon verfügbare Informationen, etwa die bisherigen Leistungen eines Studenten, ihn genauer einzustufen helfen als der polygene Score. Im Herbst 2019 hat eine Arbeitsgruppe vom Bioethik-Think-Tank »The Hastings Center« in den USA ihre Arbeit aufgenommen: Sie plant, das Forschungsfeld zu beobachten und Empfehlungen auszuarbeiten, die Forschern und Interessenvertretern eine Richtschnur für die Arbeitsweise und Kommunikation bei solchen Studien an die Hand geben sollen.

Andere gehen da sorgloser zu Werke – und finden beispielsweise, dass ein Genscreening von Kindern mit Blick auf das Verhalten und die kognitiven Fähigkeiten Dreijährigen helfen könnten, später in der Schule besser zurechtzukommen. »Es kann nicht richtig sein, dass der Einfluss von Genen in der Pädagogik weiter ignoriert wird. Gene sind mit Abstand der wichtigste Grund für individuelle Unterschiede«, sagt der Psychologe Robert Plomin vom King's College London, eine der eher lautstarken Stimmen in der Debatte mit einer kontrovers diskutierten Interpretation der Studien.

Die Bioethikerin Sabatello tippt darauf, dass ein praktischer Einsatz am ehesten in Bereichen der Sonder- oder Förderschulpädagogik liegen werde. So sei denkbar, dass Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus oder Legasthenie mit einer Genotypisierung die Notwendigkeit eines auf ihr Kind zugeschnittenen pädagogischen Ansatzes belegen möchten: »Eltern wollen, dass die genomischen Informationen Behörden oder Bildungseinrichtungen davon überzeugen, dass ihre Kinder die spezielle Intervention brauchen.« Allerdings existiert derzeit schlichtweg noch kein polygener Score, der eine zuverlässige Bewertung des genetischen Beitrags zu Störungen wie ADHS, Autismus und Co zulassen würde. Umfassendere und aussagekräftigere Studien laufen gerade an, darunter auch eine große GWAS über ADHS – vielleicht bringen sie in Zukunft mehr Klarheit.

Überhaupt klingt es zunächst vielleicht selbstlos und gut, Kinder mit erhöhtem Bildungsbedarf identifizieren und besonders unterstützen zu wollen – hier lauern aber historische Präzedenzfälle, die Anlass zur Besorgnis geben. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts waren IQ-Tests entwickelt worden, um Kinder zu erkennen, denen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Sehr schnell wurden die Ergebnisse der Tests dann aber eingesetzt, um Minderheiten zu diskriminieren oder als »schwachsinnig« eingestufte Menschen in Sondereinrichtungen abzuschieben.

Darauf weist auch Daphne Martschenko hin, die zum Themenkomplex »Einstellungen der Pädagogik zur Genetik« an der University of Cambridge in Großbritannien promoviert hat: »Vielen Lehrern macht Sorge, dass der versuchsweise Einsatz von Genetik in der Pädagogik womöglich missbraucht wird, um rassen- und klassenbasierte Unterschiede zu validieren.«

Tatsächlich werden GWAS auch hauptsächlich mit Daten von Menschen europäischer Abstammung durchgeführt, was es erschwert, die Ergebnisse für anders zusammengesetzte ethnische Gruppen anzuwenden. »Es ist ein wirklich praxisrelevantes Problem, dass wir für die Kinder der People of Color keine guten genetischen Indikatoren haben«, sagt Harden. Und dies könnte, meint Morris, die bestehende Ungleichheit in der Bildung weiter verschärfen. »Man sollte etwas, was im System nicht allen nutzt, besser gar nicht tun.«

Verantwortungsbewusste Forschung

Im Forschungsfeld sind sich viele einig, welche der von Gendaten getriebenen Anwendungen in Zukunft den größten Nutzen bringen wird: Es sollte möglich sein, den Beitrag von Umwelteinflüssen auf komplexe Verhaltensmerkmale besser zu erforschen, indem man den Beitrag der Gene zu diesem oder anderen untersuchten Merkmalen in Zukunft präziser herausrechnet. Dieses Thema sei zwar, so Harden, »weniger sexy. Es ist aber eine deutlich bessere Idee, mit Genetik als Kontrollvariable zu arbeiten, um herauszufinden, wie Lernen funktioniert.« Zum Beispiel könnten Forscher beim Test von Interventionen Kinder mit ähnlichen polygenen Scores in der Kontroll- und Testgruppe einbeziehen.

Nützlich für die Wissenschaft könnte auch sein, herauszufinden, ob ein genetischer Einfluss seinerseits auch vom Lebensumfeld des Einzelnen beeinflusst wird – ob also bestimmte Genvarianten nur unter bestimmten Umständen wirksam werden. Anspruchsvollere genetische Studien könnten sich zudem der Bedeutung des »genetic nurture« widmen: dem Phänomen, dass Umwelteinflüsse Genaktivitäten beeinflussen, was dann fälschlicherweise als rein genetischer Einfluss interpretiert wird. Dieser Effekt könnte gut auch in puncto Bildung wirksam sein: Gut ausgebildete Eltern geben ihre Gene weiter, wirken gleichzeitig aber auch, weniger direkt, indem sie generell die Schulbildung ihrer Kinder eher fördern.

Die meisten Wissenschaftler im Forschungsfeld setzen ihre Priorität auf mehr und größere Studien, in denen deutlichere Signale erkennbar werden, und darauf, weitere Merkmale wie Einkommen und sozialen Rückzug in den Blick zu nehmen. Die unmittelbar an der Bildungsfront beschäftigten Pädagogen brauchen beim Streben nach Verbesserungen indes keinen Zusatz-Input aus der Genetik, findet Sabatello: »Wir müssen das Lebensumfeld in den Blick nehmen. Hungrige Kinder können nicht lernen. Ihre Gene müssen wir dafür nicht analysiert haben.«


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