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Zuckerersatzstoffe: Wie gesund sind Xucker, Stevia und Co?

Süßes essen, ohne Figur und Zähnen zu schaden? Es gibt allerhand Stoffe, die das versprechen. Wie gesund sind die süßen Alternativen? Und helfen sie tatsächlich beim Abnehmen?
Zuckerwürfel und ein Löffel voll Zuckerersatz

Im Café Pünktchen, direkt am Marktplatz der Kleinstadt Ladenburg bei Heidelberg, gibt es keinen Zucker. Zum Süßen ihrer Speisen verwendet die Inhaberin, die selbst seit vielen Jahren völlig zuckerfrei lebt, stattdessen »Xucker« und »Xucker light«. Der Käsekuchen dort schmeckt trotzdem ganz normal: süß und lecker. Er hat auch keinen bitteren Nachgeschmack, wie man ihn von manchen Süßungsmitteln kennt – einer der Gründe, warum sich der Ersatzstoff inzwischen zunehmender Beliebtheit erfreut.

Der Markt an Zuckeralternativen ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen. Xucker, Aspartam und Stevia-Verbindungen sind nur einzelne Beispiele. Zahlreiche Austausch- und Süßstoffe sind mittlerweile in der EU zugelassen und werden täglich von Millionen Verbrauchern konsumiert. Denn der Ruf von Haushaltszucker (Saccharose) und anderem »freien Zucker«, der zugesetzt wird, um industriell gefertigte Lebensmittel zu süßen, ist schlecht: Nicht nur Adipositas und Typ-2-Diabetes gehen in vielen Fällen auf seine Kappe, auch zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und übermäßigem Zuckerkonsum beobachten Forscher einen Zusammenhang. Doch sind die Ersatzstoffe wirklich unbedenklicher als das Original? Oder schaden sie unserer Gesundheit am Ende vielleicht bloß auf anderen Wegen?

Was ist Xucker?

Die Berliner Firma Xucker GmbH, die auch das Café Pünktchen beliefert, ist einer der größten Hersteller für Produkte mit »Xucker«. Hinter dem Handelsnamen verbirgt sich der Stoff Xylit, auch als Birkenzucker oder als Zusatzstoff E 967 bekannt. Der Zuckeralkohol kann aus verschiedenen Pflanzen gewonnen werden, zum Beispiel aus der Rinde von Birken und Buchen. Auf Grund der hohen Nachfrage werden oft auch Maiskolben verarbeitet. An Geschmack und Aussehen des Produkts ändert das nichts. Optisch erinnert der kristalline Stoff stark an unseren Haushaltszucker Saccharose.

Auch seine Süßkraft ist ähnlich. Das Gute ist: Xylit hat etwa 40 Prozent weniger Kalorien als normaler Zucker. Und der Stoff soll nicht nur der Figur schmeicheln, sondern auch gegen Karies helfen. Diesen Effekt entdeckten finnische Wissenschaftler bereits in den 1970er Jahren. Im Rahmen der so genannten Turku-Studien fanden sie heraus, dass Zahnkaries verursachende Bakterien den Stoff nicht verarbeiten können und in seiner Anwesenheit schlechter wachsen. Folglich produzieren sie weniger Säure, die den Zahnschmelz angreift und Löcher verursacht. Zudem fördert Xylit die Speichelbildung, was der Ansiedlung neuer Bakterien entgegenwirkt. Darum ist der Stoff in vielen Kaugummis und Zahncremes enthalten. Bereits fünf bis zehn Gramm gelten als wirksamer Kariesschutz – das entspricht dem Kauen von sechs Kaugummis. Das sollte man am besten nach dem Essen tun.

Eigentlich kann Xylit Zahnkaries aber nur dann ganz verhindern, wenn man den Stoff nicht zusätzlich, sondern an Stelle von Zucker konsumiert. Das könnte teuer werden. Zwischen 10 und 15 Euro muss man für ein Kilo hinblättern. Zum Vergleich: Ein Kilogramm normaler Haushaltszucker kostet weniger als einen Euro.

Weil der Zuckeralkohol als gesundheitlich unbedenklich gilt, gibt es bislang keine einheitlich festgelegte maximale Tagesdosis. In hohen Dosen verursacht er jedoch Verdauungsprobleme, weshalb Ernährungswissenschaftler empfehlen, täglich nicht mehr als 50 bis 70 Gramm Xylit zu verzehren. In einer Studie vom belgischen Cerestar Vilvoorde Research and Development Centre aus dem Jahr 2006 genügte sogar eine einzelne Dosis von 35 Gramm Xylit, um mehr als der Hälfte der 65 gesunden, jungen Probanden Symptome wie Durchfall und Übelkeit zu bescheren. Je nach Rezept und Empfindlichkeit könnte also schon einziges Stück Kuchen auf den Magen schlagen.

Was ist der Unterschied zwischen Zucker, Zuckeralkohol und Glykosid?

Unter Zucker versteht man im Allgemeinen den Haushaltszucker, die Saccharose. Sie ist eine Verbindung (ein Disaccharid) aus den Monosacchariden Glukose und Fruktose. Im weiteren Sinn bezeichnet man umgangssprachlich als Zucker auch die verschiedenen Monosaccharide (Einfachzucker) und die aus ihnen zusammengesetzten Oligo- und Polysaccharide (Mehrfach- und Vielfachzucker). Zusammen bilden diese Moleküle die Stoffklasse der Saccharide oder Kohlenhydrate.

Werden Kohlenhydrate hydriert, also reduziert, entstehen Zuckeralkohole. Die Endung -ose des entsprechenden Monosaccharids wird dann durch -itol beziehungsweise -it ersetzt. Beispiel: Aus dem Zucker Xylose wird durch Reduktion der Zuckeralkohol Xylit (auch als Xylitol bezeichnet), aus Mannose wird Mannitol oder Mannit.

Bei einem Glykosid handelt es sich um eine Kombination aus einem Zucker und einem Alkohol: Der Alkohol ist über eine glykosidische Bindung mit einem Zucker verbunden.

Das hängt damit zusammen, dass Xylit länger in Dünn- und Dickdarm verbleibt als Haushaltszucker. Da es keinen aktiven Transportmechanismus für den Stoff gibt, kann er lediglich passiv, wahrscheinlich via Diffusion in die Darmzellen gelangen – und das dauert viel länger und löst dann im Zweifelsfall Blähungen und Übelkeit aus. Außerdem führt eine hohe Xylitkonzentration im Darm dazu, dass nach dem Prinzip der Osmose Wasser nachströmt. Die Folge: Durchfall. Lebensmittel, die mehr als zehn Prozent Xylit enthalten – beispielsweise Kaugummis – müssen darum mit dem Warnhinweis »Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken« gekennzeichnet werden.

Ist der Stoff erst einmal in unseren Zellen angelangt, können wir ihn aber – im Gegensatz zu anderen Zuckeralternativen – verarbeiten. Im Rahmen unseres normalen Stoffwechsels produziert unser Körper sogar selbst täglich bis zu 15 Gramm Xylit. Weil er den Blutzuckerspiegel nur leicht erhöht, ist der Stoff auch für Diabetiker geeignet. Für manche Tiere wie Hunde oder Kaninchen ist der Konsum hingegen lebensgefährlich. Da ihnen ein wichtiges Abbauenzym fehlt, kann Xylit bei ihnen schwere Leberschäden hervorrufen. Außerdem sorgt der Stoff dafür, dass ihr Körper extrem hohe Mengen an Insulin ausschüttet. Bereits drei bis vier Gramm Xylit pro Kilogramm Körpergewicht sind für Hunde tödlich. Wenn Vierbeiner im Raum sind, wird deshalb im Café Pünktchen genau darauf geachtet, dass nichts herunterfällt und gefressen wird.

Erythrit ist Xylit »light«

Der andere Stoff, der in dem Ladenburger Café zum Einsatz kommt, heißt Erythrit und wird vom Hersteller »Xucker Light« genannt. In Lebensmitteln, beispielsweise in Likören und Fertigsuppen, verbirgt er sich auch hinter der Abkürzung E 968. Obwohl der Zuckeralkohol in der Natur beispielsweise in reifen Früchten oder Nüssen vorkommt, gewinnt man den Stoff meistens nicht direkt aus Pflanzen, sondern durch die Vergärung von Traubenzucker. Er unterscheidet sich, wie Xylit, äußerlich kaum von herkömmlichem Zucker. Um diesen komplett zu ersetzen, braucht man allerdings mehr davon, denn Erythrit besitzt nur etwa 70 Prozent der Süßkraft von Zucker. Dafür haben 100 Gramm gerade mal 20 Kilokalorien – etwa 20-mal weniger als Zucker. Entsprechend ist Erythrit unter Abnehmwilligen noch beliebter als Xylit.

»Die beste Alternative zu Zucker ist: weniger Zucker«
Stefan Kabisch, Studienarzt am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke

Seinen geringen Brennwert verdankt die Zuckeralternative der Tatsache, dass unsere Zellen sie nicht verarbeiten können. Etwa 90 Prozent werden vom Dünndarm aufgenommen, an die Nieren abgegeben und unverändert wieder ausgeschieden. Es bleibt also nur wenig Erythrit im Darm zurück. Menschen scheinen den Stoff entsprechend ein wenig besser zu vertragen: So führten in der belgischen Studie von 2006 erst 50 Gramm zu ähnlich häufigen Verdauungsproblemen wie 35 Gramm Xylit. Komplett ersetzen könnten wir Zucker damit nebenwirkungsfrei aber nur, wenn wir uns strikt an die Empfehlungen der WHO und Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung halten würden. Laut ihnen sollten wir täglich nicht mehr als 50 Gramm Zucker zu uns nehmen. Tatsächlich naschen die Deutschen im Schnitt aber mehr als das Doppelte: Etwa 35 Kilogramm pro Jahr und Kopf – das sind rund 100 Gramm Zucker pro Tag. Die gleiche Dosis an Xylit oder Erythrit würde unser Verdauungstrakt vermutlich nicht gutheißen.

»Die beste Alternative zu Zucker ist weniger Zucker«, sagt deshalb Stefan Kabisch, Studienarzt am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke. Statt ihn auszutauschen, sollten wir ihn »einfach nur reduzieren«, rät der Experte.

Zuckeraustauschstoff ist nicht gleich Süßstoff

Während Xylit oder Erythrit als so genannte Zuckeraustauschstoffe unserem Haushaltszucker noch recht ähnlich sind, haben viele Süßstoffe praktisch keine Kalorien und sind 100- bis 1000-fach süßer als ihr Vorbild. Die Industrie wirbt deshalb häufig mit ihnen für ein schlankeres Leben. Doch sind sie der Gesundheit tatsächlich zuträglich?

Für die elf Süßstoffe, die derzeit in der EU zugelassen sind und zu denen etwa Aspartam und Stevia-Verbindungen zählen, gibt es jeweils einen ADI-Wert (englisch: acceptable daily intake), der angibt, wie viel davon man täglich zu sich nehmen kann, ohne gesundheitliche Gefahren fürchten zu müssen. Diese Werte seien nur etwa ein Hundertstel der Menge, bei der man in Tierversuchen gerade noch keinen toxischen Effekt beobachtet hätte, erklärt Kabisch, der in Potsdam-Rehbrücke in der Arbeitsgruppe für Klinische Ernährung arbeitet. Der Sicherheitsfaktor 100 berücksichtigt sowohl die Unterschiede zwischen Tier (meist Ratte) und Mensch als auch die individuellen Unterschiede von Tier zu Tier. Vor der Zulassung würde zudem getestet, wie sich Zusatzstoffe im menschlichen Körper verhalten, sagt Anja Roth vom Süßstoff-Verband e. V. Die Bewertung zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit eines Stoffs berücksichtige auch empfindliche Gruppen wie Kinder oder Schwangere. Die von der EU festgelegten ADI-Werte gelten für eine tägliche und lebenslange Aufnahme. »Eine Gefahr durch zeitweilige Überschreitung des ADI-Werts ist nicht gegeben«, so Roth.

Kurz erklärt:

Süßstoffe sind chemisch hergestellte oder industriell aus Pflanzen gewonnene Verbindungen mit extrem hoher Süßkraft. Sie kommen ohne Kalorien aus, es gelten aber streng festgelegte Höchstmengen. Dazu gehören beispielsweise Aspartam, Cyclamat, Saccharin oder Steviolglykoside.

Zuckeraustauschstoffe haben eine ähnliche oder geringere Süßkraft als Haushaltszucker (Saccharose) und enthalten weniger Kalorien. Meist handelt es sich um Kohlenhydrate oder Zuckeralkohole wie Xylit oder Erythrit. Für sie gelten keine rechtlich festgelegten Höchstmengen.

Süßungsmittel oder Zuckerersatzstoffe ist quasi der Oberbegriff für Süßstoffe und Zuckeraustauschstoffe. Die europäische Zusatzstoffverordnung definiert alle Zusatzstoffe, die zum Süßen von Lebensmitteln und in Tafelsüßen verwendet werden, als Süßungsmittel. Im Zutatenverzeichnis vorverpackter Lebensmittel müssen sie entweder mit Klassennamen und Bezeichnung (beispielsweise: Süßungsmittel: Saccharin) oder unter ihrer E-Nummer genannt werden.

Kabisch sieht das etwas anders. Ob und wie Süßstoffe unseren Stoffwechsel – vor allem langfristig – verändern, sei größtenteils unbekannt, sagt er. Denn während Tieren die Stoffe nur für einen begrenzten Zeitraum, beispielsweise für vier Wochen, verabreicht werden, nehmen wir sie unter Umständen ein Leben lang zu uns. Für die meisten Süßstoffe sei die Datenlage sehr durchwachsen, sagt der Arzt. Er gehe aber von keinem besonders großen Schadenspotenzial aus: »Sonst gäbe es längst ein starkes, statistisches Signal.« Um eine eindeutige Aussage darüber treffen zu können, wie gesund oder ungesund sie sind, bräuchte es laut ihm je Süßstoff einige dutzend Studien, in denen die Substanzen gezielt am Menschen auf Stoffwechselwirkungen getestet werden. So viele gebe es momentan aber gerade einmal für alle Stoffe zusammen. Zudem seien die Studien sehr unterschiedlich und daher schwer zu vergleichen. »Mal wurden nur schlanke Frauen, ein anderes Mal nur Übergewichtige oder ausschließlich junge Männer befragt«, kritisiert Kabisch.

Aspartam – süßes Gift?

Der Süßstoff Aspartam ist etwa 200-mal süßer als Zucker – man braucht also sehr wenig davon, um Cola light und andere Diätprodukte zu süßen. Seit 1979 ist der Stoff in Europa zugelassen. Die WHO hat einen Grenzwert von 50 Milligramm, die EU sogar nur 40 Milligramm Aspartam pro Kilogramm Körpergewicht festgesetzt. Um diesen Grenzwert zu überschreiten, müsste man jeden Tag mehrere Liter aspartamhaltige Limonade trinken. Das klingt viel, sei aber nicht komplett unrealistisch, sagt Kabisch. Vor allem, wenn man über den Tag verteilt weitere Produkte zu sich nimmt, die Aspartam oder E 951 enthalten, wie Süßwaren, Marmeladen, Konserven oder selbst Vitaminpräparate.

Der Hinweis »enthält eine Phenylalaninquelle« auf Lebensmitteln ist übrigens ein untrüglicher Hinweis auf Aspartam oder Abkömmlinge davon. Unsere Verdauungsenzyme spalten die Verbindung in die beiden Aminosäuren Asparaginsäure und Phenylalanin. Da es sich bei Aspartam um einen Methylester handelt, wird dabei auch Methanol frei. Geringe Mengen davon kann unser Körper gut entgiften – in hohen Dosen kann das Formaldehyd, das beim Abbau des Alkohols entsteht, jedoch Kopfschmerzen, Schwindel und Sehstörungen hervorrufen. Und auch Phenylalanin kann im Übermaß Probleme bereiten – besonders bei Menschen, die unter der Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie leiden. Sie können die Aminosäure nicht abbauen – sie reichert sich im Gehirn an und kann schwere Entwicklungsstörungen sowie Epilepsien verursachen. Diese Krankheit betrifft in Deutschland eines von etwa 8000 Neugeborenen. Für gesunde Menschen gab die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) 2013 Entwarnung: Der Süßstoff und seine Abbauprodukte seien in den von der Industrie verwendeten Mengen ungefährlich.

Die Studienlage zu diesem Thema ist bislang allerdings weniger eindeutig. In einer Untersuchung von Forschern um Glenda Lindseth von der University of North Dakota aus dem Jahr 2014 machte bereits eine tägliche Dosis von 25 Milligramm Aspartam gesunde Probanden reizbarer, anfälliger für Depressionen und verschlechterte deren räumliches Orientierungsvermögen. Reichert sich der Süßstoff also auch im Gehirn gesunder Menschen an? Es ist bekannt, dass sowohl Phenylalanin als auch Asparaginsäure die Produktion von bestimmten Botenstoffen wie Dopamin oder Serotonin hemmen. Zudem soll Aspartam die Konzentration von Stresshormonen erhöhen und die Produktion von freien Radikalen fördern. All das könnte sich negativ auf unsere psychische Gesundheit und unser Verhalten auswirken. Es gibt bislang jedoch keinen Beweis dafür, dass das tatsächlich so ist.

Ähnliches gilt für eine mögliche Krebs erregende Wirkung von Aspartam. Ein Forscherteam um Eva Schernhammer beobachtete 2012, dass Krebserkrankungen bei Männern, die täglich mit Aspartam gesüßte Getränke zu sich nahmen, etwas häufiger auftraten. Das Team hatte mehr als 70 000 Frauen und fast 50 000 Männer über einen Zeitraum von 22 Jahre wiederholt befragt. Dabei stellten die Forscher aber auch fest, dass der BMI (Body-Mass-Index) der Probanden umso höher war, je mehr solcher Getränke sie zu sich nahmen. Da auch Übergewicht mit einem erhöhten Risiko für Lymphome und Leukämien einhergeht, ist es letztlich schwer zu sagen, ob ein direkter Zusammenhang zwischen dem Konsum von Aspartam und dem Auftreten von Krebs besteht oder ob der beobachtete Effekt auf den erhöhten BMI der Probanden zurückzuführen ist.

Stevia ist kein Süßstoff, sondern eine Pflanze

Deutlich strenger als Aspartam wird in der EU derzeit eine Zuckeralternative reguliert, der sich ebenfalls wachsender Beliebtheit erfreut: Stevia. Schon die Guarani, die bereits zu präkolumbischer Zeit in Paraguay siedelten, wussten, dass sich aus den Blättern des Süßkrauts (Stevia rebaudiana) Süßstoffe isolieren lassen: die so genannten Steviolglykoside. Als man begann, die Pflanze auch in Asien zu kultivieren, fand man ursprünglich sechs unterschiedliche Verbindungen, die süß schmecken. Udo Kienle, der seit über 30 Jahren an der Universität Hohenheim an Stevia forscht, weiß, dass Stevia rebaudiana mehr als 50 verschiedene Steviolglykoside enthält. Man isoliert hauptsächlich die Verbindungen Steviosid und Rebaudiosid A. »Diese Stoffe oder damit gesüßte Produkte als Stevia zu deklarieren, ist schlichtweg falsch«, sagt er. Es sei aber gang und gäbe – selbst in wissenschaftlichen Publikationen.

Stevia und Zucker | Aus den Blättern des Süßkrauts (Stevia rebaudiana) lassen sich so genannte Steviolglykoside extrahieren. Diese werden oft fälschlicherweise als Stevia bezeichnet.

Die Industrie wirbt mit dem natürlichen Ursprung des Süßstoffs und verpasst ihren Produkten damit eine Art gesunden Touch. Tatsächlich werden Steviolglykoside aber mit Hilfe harscher chemischer Prozesse oder seit Neustem, zumindest in den USA, durch Fermentation von Hefen gewonnen. Bei der chemischen Methode werden die Zuckerverbindungen aus den Blättern gelöst und dann mit Hilfe von Aluminiumsalzen ausgefällt. Häufig wird zur Stabilisierung noch Formaldehyd zugesetzt. Nach einer Entfärbung durch so genannte Absorberharze sind etwa 90 Prozent aller natürlichen Pflanzenstoffe vernichtet. Übrig bleiben Steviolglykoside von 95 Prozent Reinheit – und oftmals ein bitterer oder lakritziger Beigeschmack. Kienle arbeitet an einer natürlichen Variante des Süßstoffs, die zwar weniger süß, aber dafür gesünder und wohlschmeckender sein soll als industriell hergestellte Steviolglykoside.

Die hochreinen, industriell hergestellten Glykoside haben eine 300-mal höhere Süßkraft als Zucker. Lebensmittelhersteller dürfen damit in ihren Produkten aber nur etwa 30 Prozent der benötigten Süße herstellen. Die Höchstmenge ist für jede Lebensmittelart streng geregelt – und sehr gering. Darum müssen die Hersteller weitere Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe zusetzen. Der Anteil an Steviolglykosiden in Lebensmitteln, die mit der vermeintlich gesunden Süße werben, ist oft verschwindend gering.

Insgesamt gilt in der EU ein Grenzwert von vier Milligramm Steviol pro Kilogramm Körpergewicht am Tag. Diesen Wert zu überschreiten sei zwar möglich – dafür müsse man aber gezielt und fast ausschließlich nach Produkten greifen, die Steviolglykosid oder E 960 enthalten, sagt Kienle. Das sei in Deutschland kaum möglich, denn der Trend sei hier noch gar nicht richtig angekommen. In den USA hingegen wird der Süßstoff seit Jahren verwendet – zum Beispiel in Getränken von Coca-Cola.

Große Konzerne wie dieser waren es auch, die überhaupt eine Zulassung von Steviolglykosiden in Europa erwirkten. Bis 2011 lehnte der Wissenschaftliche Ausschuss der Europäischen Kommission dies nämlich ab. Die Versuchsergebnisse seien widersprüchlich und es sei schwierig, den Inhalt von Pflanzenextrakten zu standardisieren. In Zellkultur- und Tierversuchen hatten Forscher in den 1980er und 1990er Jahren beobachtet, dass Steviol – ein Baustein des Glykosids Steviosid – zum Beispiel eine erbgutverändernde Wirkung hatte. Andere Studien konnten diese Ergebnisse jedoch nicht bestätigen oder gar Erbgutveränderungen bei Menschen nachweisen.

Coca-Cola und andere Konzerne legten nach, verbesserten die Aufreinigungsverfahren der süßen Stevia-Bestandteile – und setzten der EFSA neue Studien zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit der Steviolglykoside vor. Im April 2010 entschied die Behörde schließlich anhand aller vorliegenden Daten, dass bis zu vier Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht am Tag vetretbar sind.

Süßstoffe: Abnehmhelfer oder Dickmacher?

Einer der Hauptgründe, warum viele Menschen zu Zuckeralternativen greifen, ist das Versprechen, dass uns süßstoffhaltige Produkte beim Abnehmen helfen. »Das kann schon funktionieren«, sagt Kienle. »Die Leute nehmen ab, wenn sie sich im Rahmen einer Studie streng geregelt ernähren – ganz gleich, welchen Süßstoff man verwendet.« Roth weist auf eine Untersuchung hin, in der etwa 280 Abnehmwillige entweder süßstoffhaltige Getränke oder nur Wasser tranken. Nach zwölf Wochen hatten die Süßstoffkonsumenten über ein Kilogramm mehr abgespeckt als die Wasser trinkenden Probanden. Eine Kontrollgruppe, die mit Zucker gesüßte Getränke getrunken hatte, fehlt jedoch. Geldgeber der Studie war die American Beverage Association – eine Lobbygruppe, die die Getränkeindustrie in den USA vertritt. Zu ihren Mitgliedern zählen Unternehmen wie Coca-Cola und Pepsi.

Insgesamt führen Studien, die ihre Teilnehmer lediglich ermahnen, Zucker durch Süßstoff zu ersetzen und ihr Ernährungsverhalten zu protokollieren, häufig zu uneindeutigen Ergebnissen. »Den Menschen wird ein schlechtes Gewissen gemacht. Darum trauen sie sich nicht, aufzuschreiben, wenn sie ein Stück Schokolade gegessen haben«, meint Kienle. In solchen Studien nähmen die Probanden meist weder ab noch zu.

In diese Richtung weist auch eine aktuelle Metastudie des Instituts für Evidenz in der Medizin in Freiburg. Die WHO beauftragte das Team um Ingrid Toews damit, alle vorliegenden Studien zum Einfluss von Süßstoffen wie Steviol, Aspartam oder Saccharin auf das Körpergewicht unter die Lupe zu nehmen. Ein paar der 56 Studien legen nahe, dass Süßstoffe gesunden Erwachsenen tatsächlich beim Abnehmen helfen könnten. In den übrigen Studien fand sich kein Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Konsum von Süßstoffen. Außerdem bleibt anhand der bisherigen Ergebnisse unklar, ob Süßstoffe – wie vielfach behauptet – den Appetit anregen.

Darauf weist lediglich ein Tierversuch hin, den Susan Swithers und Terry Davidson von der Purdue University in Indiana 2008 durchführten: Ratten, die Futter mit Süßstoff bekamen, fraßen mehr als Artgenossen, denen mit Zucker gesüßte Nahrung vorgesetzt wurde. Ob sich dieses Verhalten eins zu eins auf Menschen übertragen lässt, ist strittig. Die These, dass unser Organismus, angeregt durch den süßen Geschmack, quasi reflexartig Insulin ausschüttet, hält sich hartnäckig – ist aber falsch. Richtig ist hingegen, dass Süßstoffe bestimmte Rezeptoren im Darm und im Gehirn stimulieren. Da die Stoffe aber keine Kalorien enthalten, kommt es nicht zur erwarteten Belohnungsreaktion. Weder der Blutzucker- noch der Insulinspiegel steigen. Darum sendet der Hypothalamus dasselbe Signal, wie wenn man nur Wasser getrunken hätte: »Ich bin hungrig.« Das zeigte ein Team um den Forscher Paul Smeets vom University Medical Center Utrecht mit Hilfe von MRT-Aufnahmen von gesunden Männern, die entweder Wasser, eine Glukose- oder eine Aspartam-Lösung zu trinken bekamen.

»Das eigentliche Problem sind unsere Gewohnheiten. Es ist schwer, sie zu ändern«
Udo Kienle, Universität Hohenheim

Bislang gibt es keine einzige Studie, die klar beweist, dass wir tatsächlich mehr essen, wenn unsere Lebensmittel mit Süßstoffen gesüßt sind. Studien wie die von Schernhammer und ihren Kollegen legen zwar nahe, dass süßstoffhaltige Getränke Übergewicht begünstigen könnten. Ob ein kausaler Zusammenhang besteht, lässt sich auf Grund solcher Beobachtungsstudien aber nicht sagen. Kabisch glaubt vielmehr, dass es umgekehrt ist: »Das Übergewicht kommt nicht vom Süßstoff, sondern der Süßstoff vom Übergewicht.« Viele übergewichtige Menschen greifen zu Süßstoffen, um schlanker zu werden – mit mäßigem Erfolg.

»Das eigentliche Problem sind unsere Gewohnheiten. Es ist schwer, sie zu ändern«, erklärt Kienle. Dass wir Süßes lieben, liege in der Natur des Menschen. »Zucker per se ist ja nicht böse. Es ist wie bei allem: Die Dosis macht das Gift.« Zudem müsse man zwischen flüssigem und festem Zucker unterscheiden. Laut Kienle triggern süße Getränke Diabetes stärker als etwa ein Stück Schokolade. »Wenn man gern Limonade trinkt, halte ich es für besser, zur süßstoffhaltigen zu greifen – und zwar am besten, bevor man Probleme bekommt«, sagt er. Sei man aber zum Beispiel erst einmal an Diabetes erkrankt und wolle Zucker komplett durch Süßstoffe ersetzen, liefe man Gefahr, sämtliche ADI-Werte zu überschreiten.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels entstand fälschlicherweise der Anschein, dass es sich bei Methanol und sein Stoffwechselprodukt Formaldehyd um dieselbe Substanz handelt. Wir bedanken uns für den Hinweis und haben nun den fehlenden Satzteil ergänzt. Weiterhin enthält Xylit generell 40 Prozent weniger Kalorien als dieselbe Menge Haushaltszucker – zur besseren Verständlichkeit haben wir nun auf die Angabe »100 Gramm« verzichtet.

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