Krebsdiagnose: »Gefühle zu verdrängen, kann eine sinnvolle Strategie sein«
»Spektrum.de«: Frau Doktor Lindig, wenn Sie einer Patientin oder einem Patienten erzählen, dass sie oder er Krebs hat, welche erste Reaktion erleben Sie dann meist?
Anja Lindig: Meine Patientinnen und Patienten fühlen sich anfangs tatsächlich häufig so, als hätte man ihnen den Boden unter den Füßen weggerissen – und zwar unabhängig davon, wie schwer die Erkrankung ist, um welche Art von Tumor es sich handelt und ob er heilbar ist. Für viele ist es erst mal ein Schock. Der Psychoonkologe Nikolaus Gerdes nennt es auch den »Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach dem Sinn«. Diese Beschreibung finde ich sehr treffend.
Und wie gehen Betroffene nach dem ersten Schock mit der Nachricht um?
Viele Krebserkrankungen sind heute zwar gut behandelbar und oft heilbar – dennoch assoziieren viele Menschen sie nach wie vor mit dem Tod. Eine Krebsdiagnose ist ein massiver Einschnitt im Leben: Der gesamte Alltag wird auf den Kopf gestellt. Es folgen diagnostische Untersuchungen, vielleicht wird eine Operation geplant, Therapiepläne werden erstellt. Besonders während der Zeit bis zur genauen Diagnose, die sich häufig über mehrere Tage zieht, empfinden Patienten und Patientinnen viel Unsicherheit, da sie noch nicht wissen, wie aggressiv der Krebs ist und ob sich Metastasen gebildet haben. Wie die Menschen dann mit ihren Gefühlen umgehen, wenn der erste Schock überwunden ist, ist ganz unterschiedlich. Einige Betroffene schalten relativ schnell in den Funktionsmodus und gehen sehr pragmatisch an die Behandlung ran. Sie informieren sich über die Erkrankung, sprechen mit ihren Angehörigen, passen ihren Alltag der Therapie an. Andere haben hingegen massive Ängste und Sorgen oder fragen sich: Warum trifft es gerade mich? Was habe ich falsch gemacht? In diesem Fall geht es häufig darum, diese Gefühle erst mal zuzulassen, einzuordnen, aber auch den Blick nach vorne zu richten.
Woran liegt es, dass manche Menschen relativ gefasst bleiben und andere in Hoffnungslosigkeit versinken?
Das hängt stark von der Lebensgeschichte ab, die ein Mensch mitbringt, und wie er gelernt hat, mit Krisen umzugehen, also welche Coping-Strategien er im Lauf seines Lebens entwickelt hat. Extremsituationen wie eine Krebsdiagnose erfordern ein Umdenken: So, wie es war geht es zunächst nicht mehr weiter. Menschen, die kognitiv flexibel sind und bereits die Erfahrung gemacht haben, schwierige Situationen bewältigen zu können, fällt das tendenziell leichter. Diese Lebenserfahrungen sind wichtige Ressourcen, die man auch aktivieren kann, indem man sie sich wieder ins Gedächtnis ruft, sich an sie erinnert. Andere wichtige Anker können Freundinnen und Freunde sowie die Familie oder auch Hobbys sein.
Was hilft Menschen, die Phase der Therapie gut zu überstehen?
Besonders während Diagnostik und Therapie fühlen sich viele Menschen fremdbestimmt. Hier kann es helfen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und damit ins Handeln zu kommen. Also sich zu fragen: Was kann ich heute für mich tun? Was tut mir gut? Was gibt mir Kraft? Das kann der Spaziergang im Wald sein, aber auch das Gespräch mit Freunden und Freundinnen oder Ablenkung, etwa ein Besuch im Kino. Auf diese Weise verhindert die Person, in Grübeleien zu versinken, sorgt für sich und steigert ihre Selbstwirksamkeit.
»Statt sich auf das langfristige Ziel des ›Gesundwerdens‹ und auf das ›Durchstehen der Chemotherapie‹ zu konzentrieren, können Betroffene von Termin zu Termin schauen, wie es ihnen geht und was sie bis zum nächsten Termin brauchen«
Selbstwirksamkeit gilt als ein wichtiger Grundpfeiler der Resilienz, der Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen.
Genau. Nützlich ist auch, sich kleine Ziele zu setzen. Eine Chemotherapie besteht beispielsweise oft aus mehreren Zyklen mit verschiedenen Medikamenten, die in unterschiedlichen Abständen gegeben werden. Manchmal müssen einzelne Zyklen etwa auf Grund schlechter Blutwerte verschoben, verkürzt oder verändert werden. Statt sich auf das langfristige Ziel des »Gesundwerdens« und auf das »Durchstehen der Chemotherapie« zu konzentrieren, können Betroffene von Termin zu Termin schauen, wie es ihnen geht und was sie bis zum nächsten Termin brauchen.
Dürfen Betroffene Ängste und Sorgen auch verdrängen oder sollten sie sich ihnen stellen?
Für unser Gehirn ist das Verdrängen erst mal ein Schutzmechanismus. Die Frage, wie das Leben mit einer Krebserkrankung weitergeht oder ob man womöglich an der Erkrankung sterben wird, kann manche Menschen komplett aus der Fassung bringen. Diese Gedanken und Gefühle zunächst beiseitezuschieben, kann daher für manche eine sinnvolle Strategie sein, gerade kurz nach einer Krebsdiagnose. Schwierig wird es, wenn der Verdrängungsmechanismus so stark wird, dass die Person die Krankheit über eine längere Zeit komplett verleugnet und dann keine Arzttermine und Behandlungen mehr wahrnimmt. Das ist aber eher die Ausnahme. In diesen Fällen würde ich als Psychoonkologin zusammen mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt das Gespräch suchen und der kranken Person deutlich die möglichen Konsequenzen des Nichthandelns vermitteln. Sicher ist es auch sinnvoll, mit den Angehörigen zu sprechen. Natürlich hat eine informierte Patientin oder ein informierter Patient aber auch immer das Recht, keiner weiteren Diagnostik zuzustimmen und sich nicht weiter behandeln zu lassen.
Doch die Betroffenen, die sich behandeln lassen: Werden sie von diesen verdrängten Gefühlen nicht irgendwann eingeholt?
Tatsächlich gibt es viele Patientinnen und Patienten, die sehr stabil durch eine Therapie und vielleicht auch eine anschließende Reha gehen und dann, wenn sie wieder zu Hause sind und der Alltag wieder halbwegs normal läuft, zusammenbrechen. Manche Menschen reagieren dann auch körperlich, können nicht mehr durchschlafen, entwickeln Panikattacken oder bekommen Magenprobleme. Ist das der Fall, kann es hilfreich sein, sich Unterstützung zu holen. Beispielsweise von einem Therapeuten oder einer Psychoonkologin.
»Beim Rauchen handelt es sich ja um ein recht bewusst gewähltes Risiko. Meiner Erfahrung nach führt das bei Betroffenen eher selten zu starken Schuldgefühlen, da sie wissen, worauf sie sich eingelassen haben«
Wie sieht es mit Schuldgefühlen aus: Hat zum Beispiel jemand, der raucht und Lungenkrebs bekommt, ein schlechtes Gewissen?
Beim Rauchen handelt es sich ja um ein recht bewusst gewähltes Risiko. Meiner Erfahrung nach führt das bei Betroffenen eher selten zu starken Schuldgefühlen, da sie wissen, worauf sie sich eingelassen haben. Ich bekomme allerdings häufig mit, dass andere Patientinnen und Patienten nach einer Krebsdiagnose ihre Lebensweise in Frage stellen und sich fragen: Habe ich mich nicht genug um mich gekümmert? Habe ich zu viel gearbeitet? Habe ich mir zu viel Stress gemacht? Um mit den Worten Nikolaus Gerdes, zu sprechen, wäre das »die Suche nach dem Sinn«. Dieses Zweifeln kann dann auch einen positiven Effekt haben: Manche Menschen lernen dadurch tatsächlich, mehr auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu achten.
Spielt das Alter bei der Verarbeitung der Krankheit eine Rolle?
Meiner Erfahrung nach eher nicht. Unterschiede gibt es dahingehend, wie Menschen gelernt haben, mit ihren Gefühlen umzugehen und diese zu äußern. Und auch wenn es ein Stereotyp ist, so sprechen männliche Patienten meist weniger gern über ihre Emotionen. Als Psychoonkologin habe ich beispielsweise in einer Klinik mit großem Einzugsgebiet im ländlichen Raum gearbeitet. Ich hatte daher häufig Patienten, die aus der Landwirtschaft kamen. Mit der Frage: »Wie fühlen Sie sich gerade?« kam man manchmal nicht besonders weit. Mit vielen habe ich daher einfach über ihre Arbeit gesprochen: Wer hilft alles auf dem Hof mit? Wie sieht der Tag mit den Tieren aus? Wer sorgt dafür, dass der Betrieb weitergeht? Im Lauf des Gesprächs äußerten einige dann doch: »Ja, und das mit dem Krebs macht mir auch irgendwie Angst.« Mitunter ergaben sich daraus weitere Gespräche. Manchen hat es hingegen auch gereicht, das einmal auszusprechen.
Beim Sprechen über Krebs heißt es häufig, Betroffene müssen die Erkrankung »bekämpfen« oder »besiegen«. Der Tumor wird gewissermaßen zum Feind erklärt. Sind solche Metaphern förderlich?
Für manche Betroffene ist es sicher hilfreich, es kann aktivieren und ins Handeln bringen. In den USA gibt es tatsächlich richtige »cancer survivor parties«, die sich ebenfalls dieser Sprache bedienen. Das Gefühl, gemeinsam einen »Feind besiegt« zu haben, vermittelt oft Verbundenheit, wodurch Betroffene merken, dass sie mit der Krankheit nicht allein sind. Grundsätzlich finde ich solche Kriegsmetaphern allerdings schwierig. Sie suggerieren nämlich: Wenn ich mich nur richtig anstrenge, dann kann ich den Krebs besiegen. Andersherum heißt dies jedoch: Schlägt die Therapie nicht an oder kommt der Krebs später wieder, habe ich mich nicht genug angestrengt oder mich nicht ausreichend um mich gekümmert. Tatsächlich gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass so genannter Kampfgeist oder positives Denken Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat. Ich versuche daher, mit meinen Patienten und Patientinnen möglichst neutral über den Krebs zu sprechen.
Gibt es noch etwas, was Sie Menschen mit Krebs mitgeben möchten?
Scheuen Sie sich nicht, sich Hilfe zu holen, wenn Sie das Gefühl haben, dass die Situation Sie sehr belastet. Trotz besserer Behandlungsmöglichkeiten ist eine Krebserkrankung nach wie vor eine Ausnahmesituation. Dass Betroffene das verunsichert und aus der Bahn wirft, ist normal und absolut menschlich.
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