Umfrage unter Physikern: Wie lassen sich die größten Rätsel der Physik erklären?

Die Physik hat die am besten geprüften Theorien der Naturwissenschaften. Bis zur neunten Nachkommastelle stimmen manche Messergebnisse mit den Vorhersagen der Quantenphysik oder der Relativitätstheorie überein. Und doch bleiben die wichtigsten Fragen rund um unsere Welt unbeantwortet. So können die Theorien beispielsweise nicht erklären, warum sich unser Universum beschleunigt ausdehnt, wie sich die Quantenmechanik erklären lässt oder was hinter der mysteriösen Dunklen Materie steckt.
Zwar mangelt es nicht an Erklärungsversuchen für solche Rätsel, aber die Fachwelt wird sich nicht einig über sie. Doch welche Szenarien sind unter Physikerinnen und Physikern am beliebtesten? Um das herauszufinden, haben die Kosmologen Niayesh Afshordi und Alice Chen zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Phil Harper eine Umfrage an einer Konferenz durchgeführt. Ihre Ergebnisse haben sie nun auf der Preprint-Seite »ArXiv« veröffentlicht. Das Ergebnis: Nur in einer Frage sind sich die Fachleute weitgehend einig.
Die »Black Holes Inside and Out«-Konferenz fand im August 2024 in Kopenhagen statt. Dabei trafen Fachleute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen wie der Astrophysik, der allgemeine Relativitätstheorie, der Astronomie und der theoretischen und der experimentellen Kosmologie zusammen. »Wir hielten dies für eine gute Gelegenheit, Experten zu aktuellen Kontroversen in der Physik zu befragen«, schreiben Afshordi und seine Kollegen in der Veröffentlichung. Daher legten sie eine Umfrage mit zwölf verschiedenen Fragen rund um die größten Rätsel der Physik aus, die von insgesamt 85 Personen ausgefüllt wurde.
Interpretation der Quantenmechanik
Dass die Forschenden die Umfrage ausgerechnet in diesem Jahr durchführen, hat einen Grund: Das Jahr 2025 wurde zum Internationalen Jahr der Quantenphysik ausgerufen. Denn vor rund 100 Jahren wurde die Theorie, die unser Weltbild auf den Kopf gestellt hat, von Größen wie Niels Bohr, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger ins Leben gerufen. Dennoch ist bis heute unklar, wie sich die Quantenmechanik interpretieren lässt. Weshalb verhalten sich Objekte auf Quantenebene mal wie ein Teilchen und mal wie eine Welle? Wieso lassen sich Versuchsergebnisse nicht eindeutig vorhersagen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten angeben?
Im Lauf der Jahre haben Fachleute verschiedene Interpretationen der Quantenmechanik vorgelegt. Am konservativsten ist wohl die Kopenhagener Deutung, welche die Quantenmechanik als von Grund auf indeterministisch beschreibt. Sprich: Man muss sich eben mit den ungewöhnlichen Eigenschaften der Theorie abfinden. Eine weitere Deutung, die Viele-Welten-Theorie, besagt hingegen, dass bei einer Messung eines quantenmechanischen Systems jeder mögliche Ausgang realisiert wird – nur eben in einer anderen Welt. Neben diesen beiden Deutungen gibt es noch etliche weitere.
In der Umfrage wurden die Teilnehmer der Konferenz gefragt, welche Interpretation ihnen am liebsten ist. Das überraschende Ergebnis: keine. Die meisten Befragten gaben an, keine Meinung dazu zu haben. Was sagt uns das? »Es gibt dieses Sprichwort unter Physikern, ›Shut up and calculate‹ – ich denke, das ist es, was ›keine Meinung‹ bedeutet«, sagte Afshordi dazu in einem begleitenden Youtube-Video.
Quantengravitation
Ein weiteres Rätsel liegt in der Unvereinbarkeit von Quantenphysik und Schwerkraft. Letztere wird durch die allgemeine Relativitätstheorie beschrieben, die Albert Einstein im Jahr 1915 einführte. Demnach krümmen Energie und Masse die Raumzeit, was wiederum die Bewegung von Materie beeinflusst. Was wir als Schwerkraft wahrnehmen, lässt sich demnach durch eine Verformung von Raum und Zeit erklären.
Die allgemeine Relativitätstheorie wurde inzwischen durch zahlreiche kosmologische Beobachtungen und Experimente überprüft. Allerdings passt sie nicht zur Quantenphysik. Möchte man Phänomene beschreiben, in denen sowohl Quanteneffekte als auch eine starke Raumzeitkrümmung eine Rolle spielen, ist eine Quantentheorie der Schwerkraft nötig. Bislang gibt es eine solche nicht – allerdings gibt es zahlreiche Kandidaten dafür. In der Umfrage haben Afshordi, Chen und Harper die Teilnehmer der Konferenz gebeten, ihren Lieblingskandidaten auszuwählen.
Und auch hier schienen sich die Fachleute nicht festlegen zu wollen. »Keine Meinung« und »andere« schnitten am besten ab – mehr als die Hälfte der Teilnehmenden entschieden sich für eine der beiden Antwortmöglichkeiten. Unter den konkret genannten Theorien erwies sich aber die Stringtheorie am beliebtesten. Überraschend ist jedoch, dass die asymptotische Sicherheit (eine recht junge Theorie) besser abschnitt als die früher durchaus beliebte Schleifenquantengravitation.
Interessant ist auch die Antwort »Gravitation ist nicht quantisiert«, für die sich einige entschieden. Diese Ansicht ist seit dem Jahr 2023 populärer geworden, als der Physiker Jonathan Oppenheim einen radikal neuen Vorschlag für eine Vereinigung von Quantenphysik und Schwerkraft vorstellte, bei der die Gravitation klassisch bleibt.
Dunkle Materie
Ein weiteres Rätsel der modernen Physik ist Dunkle Materie. Kosmologische Beobachtungen legen nahe, dass sich Sterne in den äußeren Bereichen von Galaxien schneller bewegen, als sie es gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie tun sollten. Eine mögliche Erklärung: Es gibt eine unsichtbare Form von Materie, welche die Sterne beschleunigt.
Diese »Dunkle Materie« könnte aus hypothetischen leichten Teilchen wie Axionen bestehen, die der Nobelpreisträger Frank Wilczek im Jahr 1978 postulierte. Oder aber es könnte sich um schwere Teilchen handeln, die weder elektrisch noch magnetisch und auch nicht über die Kernkräfte wechselwirken. Im Englischen werden sie als »weakly interacting massive particles«, kurz WIMPs, beschrieben
In der Umfrage gaben die meisten Befragten an, dass Dunkle Materie höchstwahrscheinlich aus mehreren unterschiedlichen Dingen besteht – so wie gewöhnliche Materie auch. Am beliebtesten waren aber primordiale Schwarze Löcher als Erklärung für die seltsame Materieform. Dabei handelt es sich um winzige Schwarze Löcher, die kurz nach dem Urknall entstanden sein könnten. Überraschend schlecht schnitten dagegen WIMPs ab, die vor 10 bis 15 Jahren noch als Favorit galten – von denen in Experimenten aber jede Spur fehlt.
Dunkle Energie
Unser Universum dehnt sich immer weiter aus. Und das auch noch immer schneller. Diese beschleunigte Ausdehnung erklären Physikerinnen und Physiker mit einer mysteriösen »Dunklen Energie«, die den Raum immer und überall gleichermaßen ausfüllt und ihn auseinandertreibt.
Die beschleunigte Ausdehnung lässt sich erklären, indem man eine »kosmologische Konstante« in das Standardmodell der Kosmologie hinzufügt. Doch was genau diese Konstante sein soll und warum sie in dem Modell auftaucht, lässt sich nicht sagen. Daher suchen Fachleute nach anderen Erklärungen, etwa nach einer veränderten Form der Gravitation oder nach einem zusätzlichen Quantenfeld.
In der Umfrage schnitt die Erklärung durch eine kosmologische Konstante bei den Befragten am besten ab, auch wenn diese viele Fragen offenlässt. Dagegen setzen die Fachleute nur wenig Hoffnung darein, dass eine Quantentheorie der Gravitation die beschleunigte Ausdehnung des Alls erklären könnte.
Informationsparadoxon
Was passiert mit der Information eines Teilchens, wenn es in ein Schwarzes Loch fällt? Diese Frage beschäftigt Physiker und Physikerinnen seit Jahrzehnten. Denn Stephen Hawking fand durch theoretische Untersuchungen heraus, dass die Information vernichtet werden müsste – eine Tatsache, die eigentlich als No-Go gilt.
Daher gibt es inzwischen mehrere Erklärungsansätze: Zum Beispiel gehen manche Fachleute davon aus, dass die Information über die Strahlung, die Schwarze Löcher abgeben, entfliehen könnte. Oder dass es Überbleibsel gibt, in denen die Information codiert ist.
In der Umfrage zeigten sich die Teilnehmenden der Konferenz geteilter Meinung. Einige halten die zwei zuvor genannten Erklärungen für realistisch, während sich andere fatalistischer zeigen und davon ausgehen, dass Information, die in ein Schwarzes Loch fällt, für immer verloren ist.
Niayesh, Harper und Chen stellten ihren Kollegen sieben weitere Fragen, bei denen diese geteilter Meinung waren. Mit einer Ausnahme: Wirkliche Einigkeit schien es nur beim Thema Urknall zu geben. Auf die Frage, wie sich der Urknall verstehen lasse, gaben 68 Prozent der Befragten an: »Es ist eine Theorie, die besagt, dass sich das Universum aus einem heißen, dichten Zustand entwickelt hat. Sie sagt nichts darüber aus, ob es einen absoluten Anfang der Zeit gab oder nicht.« Demnach sind die meisten davon überzeugt, dass die Urknalltheorie nicht erklären kann, ob die Zeit mit dem Urknall ihren Anfang nahm oder nicht.
Da nur 85 Personen an der Umfrage teilnahmen, spiegelt sie natürlich nicht die volle Bandbreite der Fachwelt wider. Dennoch verdeutlicht das Ergebnis, wie überraschend uneins sich Fachleute bei den grundlegendsten Fragen unserer Welt sind.
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