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Linguistik: Wie sich Sprachen in der Vergangenheit vermischt haben

Wenn sich Bevölkerungsgruppen miteinander vermischen, nähern sich auch ihre Sprachen an. Genetische Analysen liefern Hinweise darauf, wie linguistische Entlehnungen entstehen.
Zwei sich überschneidende Sprechblasen auf rotem Hintergrund, die ein Venn-Diagramm darstellen. Die linke Blase ist gelb, die rechte beige, und der Überlappungsbereich ist dunkelblau. Dieses Diagramm symbolisiert die Schnittmenge von Ideen oder Gesprächen.
Die verschiedenen Sprachen der Welt überlappen sich in Teilen.

Wenn Sprecher verschiedener Sprachen aufeinandertreffen, vermischen sich ihre Wörter, Laute und sogar grammatikalischen Strukturen auf überraschende Weise. Ketchup, zum Beispiel, mag heute aus den USA kaum wegzudenken sein, aber der Begriff stammt ursprünglich aus dem chinesischen Hokkien und erhielt erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts Einzug in die englische Sprache. Diese Art des Austauschs, die linguistische Entlehnung genannt wird, ist ein wichtiger Bestandteil der weltweiten Sprachentwicklung. Auch im Deutschen gibt es zahllose Lehnwörter aus anderen Sprachen.

Aufgrund fehlender historischer Aufzeichnungen ist es oft schwierig, genau zu bestimmen, wie der Kontakt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine bestimmte Sprache im Laufe der Jahre geformt hat. In der menschlichen DNA bleibt jedoch eine Spur all dieser vergangenen Interaktionen erhalten: Wenn die Gene einer Person darauf hinweisen, dass ihre Vorfahren aus zwei verschiedenen Populationen stammten, ist es naheliegend, dass diese Vorfahren eng genug miteinander interagierten, um auch ihre Sprachen zu verschmelzen. 

Ein Forscherteam griff dazu auf genetische Daten heute lebender Menschen aus allen Kontinenten zurück und suchte nach Hinweisen auf Kontakt zwischen Populationen in der Vergangenheit. Insgesamt 126 solcher Kontaktsituationen zwischen zwei Ursprungspopulationen fanden sie, die sich noch heute in der DNA dingfest machen lassen. Dann ermittelten sie, welche Sprachen die Angehörigen der Ursprungspopulationen gesprochen haben dürften und welche Sprache von ihren »Nachfahren« heutzutage üblicherweise gesprochen wird. Die Erwartung: Sprachen, die in der Vergangenheit in einer solchen Kontaktsituation standen, haben heute mehr Gemeinsamkeiten als Sprachen, für die das nicht gilt.

Die Ergebnisse des Teams, die am 29. August in der Zeitschrift »Science Advances« veröffentlicht wurden, stützen diese Hypothese: Wenn sich für zwei Sprachen auf diese Weise eine historische Kontaktsituation rekonstruieren lässt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich Merkmale teilen, um drei bis sieben Prozentpunkte. Auch räumliche Nähe lässt die Wahrscheinlichkeit von Übernahmen wachsen. Der Effekt ist zwar nicht sonderlich groß, aber »ziemlich konsistent«, sagt die Mitautorin der Studie, Chiara Barbieri, Genetikerin an der Universität von Cagliari in Italien. »Wenn wir eine genetische Vermischung haben, haben wir insgesamt mehr Entlehnungen.«

Um die Ähnlichkeit zwischen den Sprachpaaren zu prüfen, auf die sie durch die genetischen Untersuchungen aufmerksam geworden waren, verglichen die Forscher die Sprachen mithilfe zweier Datenbanken, die zusammen mehr als 600 linguistische Merkmale für Tausende von Sprachen verzeichnet haben. Dabei stellten sie fest, dass zwar der Umfang der Entlehnung relativ konstant blieb, die genaue Art der Übernahmen jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich war. Tatsächlich widersprachen die Entlehnungen manchmal dem, was Linguisten auf der Grundlage früherer Forschungen vorhersagen würden. Ältere Studien hatten auf eine »Entlehnungshierarchie« hingewiesen, derzufolge einige Elemente einer Sprache eher in andere Sprachen übernommen werden. »Es gibt viele etablierte Vorstellungen darüber, welche Arten von sprachlichen Merkmalen eher entlehnt werden als andere«, sagt Simon Greenhill, der an der Universität von Auckland in Neuseeland die Evolution von Sprachen untersucht. »Aber diese Ergebnisse scheinen nicht dazu zu passen.«

So gilt beispielsweise Grammatik im Allgemeinen als schwierig zu entlehnen, weil Erwachsene – die Haupttriebkräfte der sprachlichen Entwicklung – sich schwertun, sie zu lernen, wenn sie eine neue Sprache kennenlernen. Dennoch fanden die Forscher unerwartet oft Aspekte der Grammatik, die entlehnt wurden, zum Beispiel die Vergangenheitsform (die es nicht in allen Sprachen gibt). Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass möglicherweise nur abstrakte grammatikalische Kategorien – das Konzept der Vergangenheitsform – übernommen werden, nicht aber spezifische grammatikalische Formen, etwa wie die Vergangenheitsformen in einer Sprache genau gebildet werden. Die Sprecher können dabei dann einen Teil ihrer eigenen Sprache wiederverwenden, was möglicherweise einfacher ist als das Auswendiglernen exotischer grammatikalischer Formen.

Für andere Merkmale ließen sich, je nach Kontext, völlig entgegengesetzte Trends beobachten. Ein Beispiel dafür ist die Prosodie, also der Rhythmus, die Betonung und die Intonation einer Sprache. Da Zuhörer besonders sensibel auf die Art und Weise reagieren, wie eine Person spricht, ist die Prosodie ein starkes Identitäts- und Statusmerkmal und damit sehr anfällig für sozialen Druck. Menschen, die unter kolonialer Herrschaft lebten, übernahmen etwa eher die Sprachmuster der angeseheneren Oberschicht. Die Forscher fanden jedoch heraus, dass Sprecher in Situationen, in denen es kein so starkes Machtgefälle gibt, häufig ihre muttersprachliche Prosodie beibehalten – und sogar übertreiben –, um sich von ihren Nachbarn zu unterscheiden.

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