Moralische Selbstverteidigung: Wie wir unsere Klimasünden schönreden

Der moralische Kompass zeigt in die eine Richtung – und wir gehen in die andere. Um diesen Widerspruch aufzulösen, suchen Menschen bewusst oder unbewusst nach Erklärungen. Mit welchen Argumenten sie sich dabei rechtfertigen, hat eine europäische Forschungsgruppe in einer Studienreihe untersucht. Wie das Team in der Fachzeitschrift »Environment and Behavior« berichtet, identifizierte es acht typische Strategien.
Die Gruppe um Chloé Tolmatcheff von der Radboud-Universität im niederländischen Nimwegen entwickelte zunächst einen Fragebogen, der jene Argumente beziehungsweise Scheinargumente erfasst, mit denen Menschen ihr Verhalten rechtfertigen. Dazu analysierten die Forschenden Facebook-Kommentare unter Zeitungsartikeln zu Umweltthemen, führten Interviews und legten schließlich die gesammelten Argumente zwei größeren Stichproben vor: in der Summe knapp 1200 Befragten zwischen 17 und 78 Jahren, im Mittel Anfang 30 und mehrheitlich Frauen. Sie sollten angeben, wie oft ihnen bestimmte Argumente in den Sinn kamen, während sie sich umweltschädlich verhielten.
Wenn zwei oder mehr dieser Argumente oft ähnlich beantwortet wurden, fassten die Forschenden sie zu einer Strategie zusammen. So kamen sie auf acht typische Selbstentlastungsstrategien. Auf die größte Zustimmung stießen Aussagen, die auf »Unannehmlichkeiten und andere Prioritäten« verwiesen: »Ich könnte mich anders verhalten, aber das wäre zu anstrengend«, »Es ist zu kompliziert, die Dinge anders zu machen« und »Ich kann doch nicht alles tun; ich muss Prioritäten setzen«.
Die Befragung ergab außerdem, dass Frauen den meisten Aussagen im Mittel weniger zustimmten als Männer. Nur bei einer Strategie war es umgekehrt: »Kleinreden und Kompensieren«. Diese zwei kognitiven Mechanismen unterscheiden sich von den übrigen insofern, als sie sowohl das Problem als auch die eigene Verantwortung anerkennen. Die Forschenden verweisen auf die geschlechtsspezifische Sozialisation: Frauen werden traditionell stärker dazu erzogen, sich sozial und verantwortungsbewusst zu verhalten. Deshalb bemühen sie sich mehr um umweltfreundliches Verhalten – und könnten infolgedessen einen einzelnen Fehltritt eher einräumen und als Ausnahme deklarieren.
Um zu untersuchen, wie die Rechtfertigungsstrategien mit dem tatsächlichen Verhalten zusammenhingen, wurden die Versuchspersonen beispielsweise nach ihrem Wasser- und Stromverbrauch, dem Konsum von Fleisch und Milchprodukten und bevorzugten Verkehrsmitteln befragt. Zudem sollten sie beurteilen, wie empathisch sie sind – ein bedeutsamer Faktor für das Umweltverhalten, wie eine Metaanalyse über 157 Studien belegt.
Für sechs der acht Mechanismen galt: Je stärker jemand den Aussagen zustimmte, desto geringer schätzte er auch die eigene Empathie ein und desto weniger umweltfreundlich verhielt er sich den eigenen Angaben zufolge. Dieser Zusammenhang zeigte sich am stärksten bei »Egoismus und Bagatellisieren«. Die Strategie »Unannehmlichkeiten und andere Prioritäten« verriet dagegen nichts über Empathie und umweltfreundliches Verhalten. Beim »Kleinreden und Kompensieren« war es sogar umgekehrt: Wer diesen Aussagen zustimmte, war im Schnitt empathischer und verhielt sich umweltfreundlicher.
Die Forschenden räumen ein, dass ihre Stichproben nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung waren. Auch über Ursache und Wirkung sagen die Befunde nichts aus. Denkbar wäre, dass Umweltsünder mehr Grund haben, rechtfertigende Einstellungen zu entwickeln. Aber auch umgekehrt, dass sich Menschen mit entsprechenden Einstellungen mehr Klimasünden erlauben.
Eine dritte Möglichkeit: Denken und Handeln verstärken sich wechselseitig. Davon ging bereits der inzwischen verstorbene Psychologe Albert Bandura aus, auf den das Konzept der moralischen Selbstentlastung zurückgeht. Ihm zufolge bewerten Menschen sich selbst nach moralischen Standards, die sie im Lauf ihrer Sozialisation internalisiert haben. Stimmen Verhalten und Standards überein, steigt ihr Selbstwertgefühl; stehen sie in Widerspruch, entwickeln sie Scham- und Schuldgefühle – eine Art automatisches Selbstsanktionierungssystem. Moralische Selbstentlastung wirke dem entgegen und ermögliche es, weiterhin zum eigenen Vorteil zu handeln, ohne sich moralisches Versagen eingestehen zu müssen.
Das sei nicht grundsätzlich verwerflich, betont die Gruppe um Chloé Tolmatcheff: In modernen Gesellschaften sei ein vollständig nachhaltiger Lebensstil kaum möglich; Menschen müssten gelegentlich von ihren moralischen Standards abweichen, um andere Ziele zu verfolgen. Wiederholte Rechtfertigungen könnten sich allerdings festsetzen und mit der Zeit dazu führen, dass ganze Kategorien moralisch fragwürdigen Verhaltens akzeptabel erscheinen, schreiben die Forschenden. Aus der Mobbingforschung wisse man: Sich die eigenen Rechtfertigungsstrategien bewusst zu machen und sie als problematisch zu erkennen, kann der erste Schritt sein.
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